BM-PROZESSE Rotes Gemisch
Bleich, die Augen hinter einer dunklen Brille versteckt, betrat er am letzten Donnerstag, 9.04 Uhr, an einen Polizisten gefesselt, die Szene im Gerichtssaal zu Stuttgart-Stammheim -- Gerhard Müller, 28, nach eigenem Geständnis Ex-Bombenbastler der Baader-Meinhof-Gruppe und spätestens im Herbst 1971 Mitglied des engeren Kreises um Andreas Baader.
Eingebaut zwischen aufgetürmten Asservaten wie Propangasbehältern, Malerkübeln, Formen aus Gußeisen, Stahlrohren sowie Kartons mit Zündern und Schnüren, nahm er am Zeugentisch Platz, um sich, nach Dierk Hoff, als zweiter Belastungszeuge aus der einstigen Terroristen-Crew sein Wissen über die Bombenattentate der Bande abfragen zu lassen.
In einem Prozeß, der es mit wohlbekannten Taten zu tun hat, aber in dem bislang kaum ein einzelner Täter für das jeweilige Verbrechen benannt werden konnte, bahnt sich mit den Aussagen des Gerhard Müller die entscheidende Wende an. Zwar hatte der Frankfurter Metallbildner Hoff schon im Februar zugegeben, im Auftrag der RAF Bomben und Bombenteile hergestellt zu haben, aber Beweise dafür, wofür die Sprengkörper gedacht waren und wer sie schließlich hochgehen ließ, konnte er nicht beibringen.
Müller kann es. Obwohl der Vorsitzende Richter. Theodor Prinzing. mehrmals das Angebot machte aufzuhören, packte er am Donnerstagabend aus, als ob er alles auf einmal loswerden sollte. Zu den BM-Bombenanschlägen gab er zu Protokoll:
* Der Anschlag auf das Fünfte US-Korps in Frankfurt war eine Idee von Gudrun Ensslin ("Gegen die Amis müssen wir loslegen"). Sie packte die Bombe in Geschenkpapier und legte Blumen dazu. Mit Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins zusammen deponierte sie den Sprengstoff in einer Telephonzelle. > Den Anschlag auf das Münchner Landeskriminalamt verübten Baader. Meins und Ensslin.
* Angela Luther und Irmgard Möller ("Die Mädchen waren stolz auf ihre Taten") legten die Bombe in der Polizeidirektion Augsburg.
* Der Anschlag auf das Axel-Springer-Haus in Hamburg war die Idee von Ulrike Meinhof, bei der Ausführung assistierten Siegfried Hausner, Klaus Jünschke und Ilse Stachowiak, aber »Baader war sauer, weil er nicht wollte, daß wir, die Avantgarde der Proletarier, Arbeiter zusammenbomben«.
* Die Bombe unter das Auto des Bundesrichters Buddenberg, dessen Ehefrau bei der Explosion schwer verletzt wurde, montierten Raspe. Baader und Meins.
* Der Anschlag auf das US-Headquarter zu Heidelberg geht auf das Konto des Quartetts Luther, Möller, Meins und Baader.
Motiv Andreas Baaders, so Müller. sei es gewesen, daß »die RAF als politisch-potente Organisation ernst genommen« werde, damit »man bei späteren Verhandlungen« über Geiselnahmen und Bombendrohungen »auch ernst genommen wird«.
Müllers Offenbarungen brachten am 124. Verhandlungstag in Stuttgart-Stammheim den Durchbruch, können das Verfahren beschleunigen und dem Senat zu klaren Urteilssprüchen verhelfen.
Für den Zeugen selbst können sie allerdings schwerwiegende Folgen haben. Denn seine Aussagefreude veranlaßte seine frühere Komplizin Margrit Schiller zu einer schweren Anschuldigung: Gerhard Müller. behauptete sie, habe in Hamburg den Polizisten Norbert Schmid erschossen.
Noch vor Müllers Aussagebeginn -- er mußte den Saal wieder verlassen, kaum daß Prinzing ihn über sein Recht zur Verweigerung von Aussagen belehrt hatte, die ihn selbst belasten -- zauberte Vertrauensverteidiger Hans-Heinz Heldmann eine Schiller-Erklärung hervor, in der der Tathergang vom 22. Oktober 1971 minuziös geschildert wird: Müller, mit »einer Person« davonlaufend, die Schmid-Kollege Heinz Lemke später als »Frau mit braunen Stiefeln« beschrieb, habe mit seiner Pistole auf Schmid geschossen (siehe Kasten). Auch Lemke wurde getroffen. Die beiden Verfolgten sowie Müller-Begleiterin Schiller entkamen.
Margrit Schiller wurde 36 Minuten später in einer Telephonzelle festgenommen. Gerhard Müller knapp acht Monate danach zusammen mit Ulrike Meinhof in Hannover gefaßt.
Im Oktober 1971 galt Müller der Hamburger Polizei noch als »mutmaßlicher Täter«, zusammen mit Irmgard Möller. die von der Polizei damals als die »Frau mit braunen Stiefeln« verdächtigt wurde. Doch im Prozeß gegen Müller und Möller im März dieses Jahres wurde der Vorwurf des gemeinschaftlich begangenen Mordes fallengelassen -- mangels Beweises, so die Staatsanwälte, aufgrund »illegalen Einkaufs eines Kronzeugen«, so Verteidiger Heldmann.
Müller bekam wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, Beihilfe zum Mord sowie Urkundenfälschung und unerlaubten Waffenbesitzes zehn Jahre, Irmgard Möller wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung viereinhalb Jahre Gefängnis.
Während Irmgard Möller ihre Erklärungen stets stramm mit dem Ausruf »Es lebe die RAF« abschloß« distanzierte sich Müller von der Baader-Meinhof-Gruppe und bedauerte. »einen unrechten Kampf unterstützt zu haben«. Der Weg zum Zeugen war vorbereitet.
Bis ins kleinste Detail schilderte er den Einkauf von Bombeningredienzen wie Aluminiumpulver, Bleimennige, Säuren, Wecker, Batterien. Mal hatte er sich dabei im Auftrag des BM-Mitglieds Manfred Grashoff als Fernsehmann vom Norddeutschen Rundfunk auszugeben, der »200 Kilo Alu-Pulver für eine Science-Fiction-Filmdekoration« beschaffte, mal wies er sich mit Briefen der Universität Tübingen aus. die Gudrun Ensslin besorgt hatte.
Und er streute nachrichtenträchtige Nebensätze ein: »Die Rezeptur für das rote Gemisch« sollte der Berliner Anwalt Ströbele »aus Jordanien« beibringen -- »sie kam dann auch aus Berlin«. Einen »kleinen Dicken«, der nach bisherigen Erkenntnissen die RAF mit Bombenmaterial versorgt hatte, identifizierte er als Wilfried Böse, einen der in Entebbe erschossenen Flugzeugentführei.
An dem öffentlich erhobenen Mordvorwurf gegen Müller kann die Bundesanwaltschaft kaum vorbeigehen. Doch auch auf Verteidiger Heldmann kommt noch einiges zu. Bundesanwalt Heinrich Wunder, sonst konziliant im Ton. drohte dem Anwalt unmißverständlich: »Die Behauptung, der Zeuge sei gekauft, wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.«