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»Rudi, du hast dich nicht verändert!«

Erst nach Protesten westlicher Teilnehmer durfte Rudi Dutschke, dem die Einreise untersagt war, zum Weltjugendfestival Ost-Berlin betreten. Was er dort erlebte, wie er mit FDJ-Funktionaren diskutierte, berichtet Dutschke im Nachwort zu einer Dokumentation, die Hamburger Studenten zum fünften Jahrestag der sowjetischen Prag-Intervention herausbringen*. Aus dem Beitrag des Studenten-Revolutionärs -- der zur Zeit des Prager Frühlings, am 11. April 1968, von einem Attentäter schwer verletzt worden war -- veröffentlicht der SPIEGEL einen Auszug.
aus DER SPIEGEL 34/1973

Da wir meinen, daß es beim Sozialismus-Kommunismus um den aufrechten und nicht gekrümmten Gang des Menschen in der Geschichte geht, wollten wir auf dem Festival schauen, wie es damit aussieht. Wollten riechen. informiert werden, informieren, problematisieren und diskutieren -- die antiimperialistischen Ziele und Kampfformen der gegenwärtigen Etappe. die konkreten Probleme des Aufbaus des Staatssozialismus in der DDR, die antikommunistische Okkupation der (SSR durch die Sowjet-Union und die davon abhängigen Länder des Warschauer Paktes. Nicht mehr und nicht weniger.

Daß wir Wolf Biermann, unseren Freund und Genossen, aufsuchen wollten. war für uns selbstverständlich. Aber nicht für die Vertreter der kontrollierenden (oder kontrolliert zu werdenden) Staats-, Partei- und Jugend-Maschinerie: »Wir machen hier Weltpolitik, dazu gehört nicht Wolf Biermann. Das Mißverständnis mit dir und deinen Freunden an der Grenze ist einfach zu erklären, einer von unseren schwerbelasteten Grenzsoldaten kannte deinen Namen nicht« -- so sagte uns ein FDJ-Funktionär in der Nacht des zweiten Festival-Tages.

Daß Druck von unten komme. Androhungen von Demonstrationen und längere Verhandlungen zwischen Jugendorganisationen, FDJ und Staatsmaschine der DDR erfolgt waren, schien nicht gewesen zu sein für diesen Funktionär. Wir störten einfach das schöne Fest und wollten es doch nur genießen.

Wir erhielten einen eigenartigen Genuß: Was wirklich dahinterstand, hat mir ein führender FDJler in einem zirka einstündigen »Testgespräch unter vier Augen« vor dem gezwungenermaßen gestatteten Eintritt in das mehrtägige staatssozialistische Reich der jugendlichen Freiheiten dargelegt: »Rudi, warum bist du bei den Maoisten gelandet?

-- Bist du dir darüber klar, daß viele nur darauf warten, mit dir ein politisches Faß abzuziehen?«

Das Angebot für eine Karte, um am späten Abend an einer offiziellen Großveranstaltung noch teilnehmen zu dürfen, lehnte ich dankend ab. Mir waren

* Reinhard Crusius, Herbert Kuchl, Jan Skála, Manfred Wilke: »CSSR: Fünf Jahre Normalisierung. Mit Nachworten von Rudi Dutschke und Jochen Steffen, zirka 300 Seiten, zirka zehn Mark, Verlag Association, Hamburg.

die Straßen und ihre schwer kontrollierbaren Diskussionsmöglichkeiten lieber ...

Der Genosse von der FDJ war darüber nicht unglücklich, er umarmte mich zum Schluß, die Gefühle der Gemeinsamkeit wurden von beiden Seiten mit Sicherheit verschieden empfunden. Und dennoch, obwohl die FDJ die tendenziell pro-imperialistische Jugendorganisation der CDU hineinließ und militanten Anti imperialisten zuerst den Eintritt verweigerte, anderen Genossen permanent den Zutritt nicht gestattete. ist es für mich klar, daß der Staatssozialismus preußischer Nuance kein wie auch immer gearteter Kapitalismus ist, wie so manche »Maoisten« meinen

So begann unser kurzer Marsch durch die Straßen des Festivals. Wolf Biermann besuchend, sein neues Ché-Guevara-Lied hörend, machten wir uns schnell auf die Socken voller Gier und Heiterkeit, um unser Maul öffnen zu können. Es kann nur einem gutmeinenden und nicht anwesenden SPIEGEL-Journalisten passieren, Gier und Heiterkeit von zehn Militanten mit »Ingrimm« zu verwechseln Nach kurzer Zeit stießen wir auf eine der vielen Diskussionsgruppen.

Dort war es, wie sich zeigte, einfach. über allgemeine Grundbegriffe der Politischen Ökonomie wie Gebrauchswert und Tauschwert abstrakt zu streiten, es war möglich, den Imperialismus im Allgemeinen zu definieren, es wurde aber viel schwieriger, über das staatssozialistische Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert, über konkrete Probleme des Aufbaus des Sozialismus zu diskutieren, über die sozial-chauvinistische Okkupation der CSSR durch die Sowjet-Union und ähnliches zu sprechen.

in dem Augenblick, wo wir die tschechoslowakische Sache und die versteckten und offenen Repressionen gegen Wolf Biermann in die Diskussion brachten, schlossen sich die Ohren der FDJler« und ihrer organisierten Freunde aus der BRD im besonderen.

Der Genosse Wolf Biermann wie die tschechoslowakische Reformbewegung von 1968 wurden unter dem Begriff der »Konterrevolution« subsumiert. Es fiel Wolf Biermann und uns nicht schwer, die Absurdität und Denunziation einer solchen Beweisführung nachzuweisen, da trennten uns Welten von den Staatskommunisten sowjetischen Typus.

Eine FDJlerin, die sich »schämte«. mit Wolf Biermann gemeinsam Seminare in der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität gehalten zu haben, schämte sich nicht, von der »heiligen Pflicht der Rettung« der CSSR. durch militärische Okkupation zu sprechen. Ein anderes Mitglied des SDAJ setzte der manipulativen Geschichtslosigkeit einen Höhepunkt: »In einer sozialistischen Gesellschaft gibt es keine Kommunisten und Sozialisten in Gefängnissen.«

Ob unser Dokumentationsband ihre bornierte Bewußtseinsform verändern wird, ist zu bezweifeln. Bewußtsein ist nichts anderes als »bewußtes Sein« (Marx), die gesellschaftliche Seinslage begründet die Bewußtseinsstufe. Das politische Niveau der Weltjugendfestspiele ließe sich an diesen Zusammenhängen gleichermaßen messen. Anders ist es nicht zu erklären, daß ein militantes, antibürokratisches Lied vom antiimperialistischen Kampf am Beispiel Ché Guevaras. das Wolf Biermann für das Festival hergestellt hatte, nicht offiziell in Erscheinung treten durfte.

Hier beginnt aber das Besondere des Festivals, die Eigendynamik dieser Tage, wo alte und junge Funktionäre mit ihren staatssozialistischen Schemata der sozialistischen Diskussion nicht mehr fair waren. Anders ist es nicht zu erklären, daß Wolf Biermann kurz vor dem Ende des Festivals vor einfachen FDJlern und Arbeitern der Republik auf der Straße im Rahmen einer Diskussion zweimal sein neues Ché-Guevara-Lied ohne Gitarre singen mußte und riesigen Beifall erntete. Vor 50 bis 100 Menschen. Ein Altstalinist jammerte: »So hat die Konterrevolution immer angefangen«, Lachen und Entrüstung erntete er.

Die großartigste Begegnung hatte ich, als eine Diskussion zustande kam, die sich prinzipiell von der am zweiten Tag des Festivals unterschied. Ich traf auf einem großen Hof einer Kneipe in der Nähe vom Alexanderplatz, bei der Suche nach Gesprächspartnern, zufällig mit mir bekannten Militanten aus West-Berlin zusammen; die FDJ vermutete eine »nicht organisierte Diskussion«, mischte sich schnellstens ein, der freundliche Clinch begann erneut -- wie am zweiten Tag.

Es schien den Gang zu nehmen wie beim ersten Mal, verschiedene Positionen versuchten abstrakt ihre sozialistischen Wahrheiten loszuwerden. Der Hauptpunkt war der »demokratische Zentralismus« und das Verhältnis von Partei und Arbeiterklasse.

Unsere These unterstellt eine Kluft zwischen der Partei- und Staatsmaschine auf der einen Seite und den besonderen Interessen und Bedürfnissen der Arbeiter, Bauern, Intellektuellen, Studenten usw. auf der anderen. Das, was dialektisch zu vermitteln wäre über die Arbeiterkontrolle in den Institutionen, in der sozialistischen Diskussion zwischen den Produzenten und den Parteikadern von unten nach oben, komme nicht zustande, weil die Tradition des sowjetischen Vorbilds (in Wirklichkeit Nach-Bild) die Entfaltung der politisch-gesellschaftlichen Selbständigkeit der Produzenten verhindere.

Dem hielt die mehrfach erschienene und sich laufend auswechselnde Funktionärstruppe entgegen, daß die Partei die Avantgarde der Arbeiterklasse ist, laß es keinen Gegensatz zwischen Klasse und Partei gebe, schließlich agiere und führe die Partei im Auftrag der Arbeiterklasse ...

Auf die Frage nach der politischen Diskussion zwischen den Parteikadern in der Partei, zwischen den Parteikadern und den Parteilosen usw. wurde uns gesagt, daß es zwar -- natürlich -- hin und wieder kleine Fehler gegeben habe, daß es aber ein selbstverständliches Prinzip sei, diese Diskussionen demokratisch durchzuführen.

Hier nun erfolgte die entscheidende Wendung der ganzen Diskussion, ein äußerst klassenbewußter, hochqualifizierter Arbeiter aus einem Großbetrieb in der DDR machte den Funktionären und uns konkret den Unterschied zwischen Information und sozialistischer Diskussion klar:

»Ihr kommt zu uns in die Betriebe«, so sagte er den Funktionären zugewendet, »und informiert uns über eure Ziele und Vorhaben. Information ist aber noch lange nicht sozialistische Diskussion. Zur letzteren gehört der Dialog auf der Ebene der politischen und ökonomischen Gleichberechtigung. Disziplin und Produktionssteigerung fordert ihr laufend -- ist das sozialistische Diskussion?«

Da wurde direkt die Wurzel, das Herr-Knecht-Verhältnis in der DDR angesprochen. Wie retteten sich die Funktionäre aus diesem Dilemma? Sie wiesen uns darauf hin, daß die Arbeiterklasse von der Partei erzogen werden müsse, schließlich wären da tausend Jahre Kapitalismus in ihren Knochen gewesen.

Nicht verstehend, daß der Erzieher auch erzogen werden muß, erntete er von uns und anderen Spott und breit unterstützte Antworten. Dagegen sagte ein Mitglied der SEW zu mir: »Rudi, du hast dich ja immer noch nicht verändert, die Zeiten aber sind vorbei.« Als ob die Erziehung des Erziehers jemals vorbei sein könnte. Als ob die Parteimitgliedschaft schon Ausdruck der Interessen und Bedürfnisse der Massen nach solcher Führung bzw. Verführung wäre.

Den SEWler abweisend, gegen die FDJ-Funktionäre vorgehend, sagte ein Student aus der DDR zu einem FDJ-Funktionär: »Du redest wie diejenigen. von denen Bertolt Brecht sagte, daß sie der Arbeiterklasse eine Mission zuweisen, ohne das gesellschaftliche Sein derselben als Basis der Bedürfnisse und Interessen der Arbeiterklasse zu verstehen. Du wirst 1200 Mark haben, während der Durchschnittsarbeiter auf zirka 600 Mark kommt.«

Es war eine Diskussion. mit der die bürgerliche Presse nichts anzufangen weiß, das können wir verstehen. Eine Diskussion, die den Staatssozialismus sozialistisch problematisierte.

Mehrere Stunden waren inzwischen vergangen, unsere Kinder drängten in Richtung Schlaf, dem hatte ich zu folgen. Derselbe Arbeiter aber, der die Diskussion so wesentlich gewendet hatte, fragte mich »um Schluß: »Was hältst du von der chinesischen Entwicklung. von der Kulturrevolution?«

Ich antwortete. daß dieser neue Typus der Revolution in der Revolution eine begonnene und widersprüchliche Problematisierung der eigenen Revolutionsgeschichte Chinas darstelle. Und ich fragte, auf die Augen der Funktionäre schauend, warum eine solche auf Massentätigkeit, gegen bürokratische Entfremdung zwischen Partei und Arbeiterklasse gerichtete Mobilisierung in der Sowjet-Union und in der DDR nicht zu Hause sei?

Die Antwort war »klug": »Wir sind kein Bauernland.« Dahinter steckte die alte sozialdemokratische Tradition aus der II. Internationale, wo die Bauern als Feinde und nicht als unerläßliche Kampfgefährten im politischen Klassenkampf der Arbeiterklasse betrachtet wurden.

Wolf Biermann zu denunzieren, die C-SSR-Okkupation zu legitimieren und die Probleme der Revolution in der Revolution. wie sie in China widersprüchliche Formen nach vorwärts annimmt, großmachtchauvinistisch abzutun, scheint mir ein besonderes Merkmal des doch niedrigen anti-imperialistischen Niveaus der Träger der Weltjugendfestspiele gewesen zu sein.

Wie konnte es anders sein! Die Knutscherei von Nixon und Breschnew war halt nicht nur ein peinlicher, aber notwendiger diplomatischer Trick: Es war Ausdruck des geschichtlich neuen Verhältnisses, der neuen Kooperation von US-Imperialismus und SU-Großmachtchauvinismus.

Und da sollten die Weltjugendfestspiele einen sprengenden, einen militanten Charakter tragen? Und dennoch waren sie Tage. die eine ungebrochene. zunehmende Aktualität des konkret. utopischen und darum sprengenden Sozialismus der Egalität erneut sichtbar machten.

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