Rückblick 2009
BUNDESPRÄSIDENT
Eklat am Rande
Am Ende wurde beinahe mehr über die Begleitumstände diskutiert als über das Ereignis. Nachdem Horst Köhler am 23. Mai wieder zum Bundespräsidenten gewählt worden war, gerieten schnell die CDU-Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner und ihr SPD-Kollege Ulrich Kelber ins Zentrum der Debatte. Sie hatten das Wahlergebnis vorab über die Internetplattform Twitter verbreitet und damit die Bundesversammlung düpiert. Das Ergebnis selbst hingegen überraschte nicht wirklich, obwohl Köhlers Gegenkandidatin Gesine Schwan sich eine Zeitlang Hoffnungen gemacht hatte, den amtierenden Präsidenten mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken sowie möglichen Abweichlern aus dem bürgerlichen Lager abzulösen. Zuvor hatten sich Köhler und Schwan sogar erstmals eine Art Wahlkampf um das Schloss Bellevue geliefert. Der allerdings blieb, dem Amt angemessen, im Rahmen, anders als manch verunglückte Äußerung des Schauspielers Peter Sodann, der für die Linken antrat und mal darüber räsonierte, dass es in Deutschland keine »richtige Demokratie« gebe, mal phantasierte, Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann zu verhaften. Als es dann ernst wurde, siegte Köhler im ersten Wahlgang mit 613 Stimmen, während Schwan auf 503 kam - elf Stimmen weniger, als SPD und Grüne in der Bundesversammlung hatten. Für Köhler begann die zweite Amtszeit.
KARRIEREN
Verhängnisvolle Abfahrt
Fassungslos schaute ein ganzes Land auf eine unscheinbare Skipiste in der Steiermark. Auf jenen menschenleeren Hang, auf dem der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus am 1. Januar unter mühsam geklärten Umständen mit der gebürtigen Slowakin Beata Christandl zusammengestoßen war. Die Frau, Mutter eines kleinen Sohnes, starb kurz nach dem Unfall, Althaus wurde mit einem Schädel-Hirn-Trauma in die Klinik geflogen. Es war der Beginn vom Ende einer steilen Politikerkarriere. Thüringen verharrte wie in einer Schockstarre. Die Menschen hatten Mitleid mit dem Regenten, sorgten sich um seine Genesung. Doch die Thüringer CDU wurde schnell unruhig. Im Sommer stand die Landtagswahl an. Die knappe absolute Mehrheit drohte verlorenzugehen, der Wahlkampf sollte erneut auf Althaus zugeschnitten werden. Doch niemand konnte sagen, ob der Christdemokrat wieder richtig fit werden würde. Und vor allem wann. Die Partei war ratlos. Der damals 50-Jährige hatte keinen Nachfolger aufgebaut, über Nacht übernahm Finanzministerin Birgit Diezel kommissarisch die Regierungsgeschäfte. Knapp vier Monate verbrachte Althaus im Krankenstand, die Kommunikation mit seinen Parteifreunden war miserabel. Sie erfuhren vor allem aus der Zeitung, was der Chef dachte und dass er unbedingt wieder ins Amt zurückkehren wolle. Ein Gericht in Österreich verurteilte Althaus im März wegen fahrlässiger Tötung zu 33 300 Euro Geldstrafe und 5000 Euro Schmerzensgeld. Bei seinen ersten öffentlichen Auftritten irritierte der Regierungschef selbst enge Verbündete, weil er sich nur mühsam zu seiner Schuld am Tod der Slowakin bekennen mochte. Die Stimmung im Land kippte. Das Mitleid war endgültig aufgebraucht, als die Rückkehr zur Macht zu sehr nach Inszenierung roch und selbst der Witwer der toten Skifahrerin beklagte, Althaus instrumentalisiere den Unfall im Wahlkampf. Bei der Landtagswahl verlor die thüringische CDU fast zwölf Prozentpunkte. Vier Tage später erklärte Dieter Althaus per E-Mail entnervt seinen Rücktritt von allen Ämtern.
WIRTSCHAFTSPOLITIK
Deutschland wrackt ab
Am Ende war es einfach nur noch Schrott: Zwei Millionen gepresste Quader, je 60 Zentimeter breit, einen Meter tief und zwei Meter hoch. Das Ergebnis einer wirtschaftspolitischen Intervention, die bis heute umstritten blieb. Für die Befürworter war die Abwrackprämie ein Erfolgsmodell, das Arbeitsplätze sicherte; für Kritiker dagegen eine Bankrotterklärung der Politik, ein Beispiel für einen fatalen Fehleingriff des Staates. Der Zuschuss von 2500 Euro jedenfalls, den jeder bekam, der sein mindestens neun Jahre altes Gefährt für ein fabrikneues Auto oder einen Jahreswagen verschrotten ließ, versetzte Millionen inmitten einer der größten Wirtschaftskrisen in einen kollektiven Kaufrausch. Deutschland wrackte ab, als wäre es oberste Bürgerpflicht. Am 27. Januar war es ein Mann aus Düsseldorf, der als Erster die Prämie einstrich, seinen VW Vento verschrotten ließ und sich einen neuen Golf gönnte. Nach ihm kamen die Massen. Während des ersten Wochenendes nach Bekanntgabe der Telefonnummer registrierte das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle 269 000 Anrufe von Abwrackwilligen. Am 2. September um 10.14 Uhr war der Topf leer, der Investitionsfonds des Konjunkturpakets II um fünf Milliarden Euro erleichtert. Zu den Gewinnern der Abwrack-Euphorie zählten neben den Käufern vor allem Kleinwagenhersteller und Autohäuser. Aber: Einen Monat nach der letzten Prämienauszahlung brach der Absatz von Neuwagen um die Hälfte ein, und Wirtschaftsinstitute befürchten für das Jahr 2010 einen verspäteten Arbeitsplatzabbau.
AFGHANISTAN
Soldaten im Gefecht
Im Wahlkampfjahr 2009 sollte der Stabilisierungseinsatz am Hindukusch eigentlich kein Thema sein, doch gefallene und verwundete Soldaten bestimmten immer wieder die Schlagzeilen. Im Sommer verging in Afghanistan kaum ein Tag, an dem die Bundeswehr nicht im Gefecht stand. Im achten Jahr des Einsatzes ist aus dem gutgemeinten Wiederaufbau ein Krieg geworden. Die deutschen Soldaten werden beschossen und schießen zurück. Am 4. September befahl der deutsche Oberst Georg Klein in Kunduz die Bombardierung zweier von den Taliban entführter Tanklastwagen, bei der auch Zivilisten ums Leben kamen. Schon früh berichtete der SPIEGEL, dass Klein die Einsatzregeln der Nato gebrochen und den US-Kampffliegern gegenüber falsche Angaben gemacht habe (SPIEGEL 38/2009). Harsche Kritik übte auch eine vom amerikanischen Isaf-Kommandierenden Stanley McChrystal eingesetzte Untersuchungskommission, doch zur Affäre wurde das Bombardement erst, als interne Bundeswehr-Dokumente durchsickerten, aus denen »Bild« Ende November zitierte. Die Papiere listen eine Reihe von Fehlern auf und belegen, dass die Bundeswehr schon früh vom Tod unschuldiger Zivilisten wusste. Der amtierende Arbeitsminister Franz Josef Jung, zum Zeitpunkt der Bombardierung noch Verteidigungsminister, trat zurück. Der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zwang wenig später einen Staatssekretär und den Generalinspekteur zum Rücktritt, mit der Begründung, sie hätten ihm wichtige Unterlagen vorenthalten. Der Verteidigungsausschuss konstituierte sich als Untersuchungsausschuss und soll nun klären, was am 4. September wirklich geschah.
BUNDESTAGSWAHL
Absturz einer Volkspartei
Es war alles andere als ein großer Sieg für Angela Merkel. Die CDU-Fans in der Berliner Parteizentrale jubelten zwar am Abend des 27. September, aber die Freude galt allein der Tatsache, dass es Merkel geschafft hatte, genügend Stimmen für ein Regierungsbündnis mit den Liberalen einzusammeln. Das Ergebnis der Union war ernüchternd: 33,8 Prozent fuhr Merkel mit ihrem Schlafmützenwahlkampf ein, nur 1949 hatte die Union schlechter abgeschnitten. Was Merkel rettete, war der Triumph der FDP - und das Desaster der Sozialdemokraten. 23 Prozent holte die Partei, das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik. Am Tag nach der Wahl einigte sich ein kleiner Kreis von SPD-Funktionären auf die Neuordnung der Spitze: Sigmar Gabriel sollte Franz Müntefering als Parteichef ablösen, Andrea Nahles Generalsekretärin werden. Frank-Walter Steinmeier wurde Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. So war das Personaltableau schnell festgezurrt, der Unmut der Parteianhänger über die Niederlage aber noch nicht besänftigt. Auf dem Dresdner Parteitag Mitte November diskutierten die Delegierten über linke und rechte Politik, über ihr Verhältnis zu Kriegseinsätzen, zur Partei Die Linke, zu Arbeitsmarktreformen. Über den Basta-Stil der alten Führung und den Wunsch nach mehr Mitsprache. Nach einer fulminanten Rede wurde Gabriel mit 94 Prozent zum neuen Parteichef gewählt. Seine Wahl galt als Aufbruch in bessere Zeiten. Seither muss sich die SPD vor allem in ihre Rolle als Oppositionspartei einfinden. Obwohl die schwarz-gelbe Koalition mit ihrem Steuerstreit und der Kunduz-Affäre viel Angriffsfläche bot, gelang es der SPD allerdings bislang nicht, sich aus ihrem Umfragetief zu befreien.