Rückblick 2009
CASS SUNSTEIN
Mister Nudge
Glaubt man Obama-Berater Cass Sunstein, trifft der Mensch selbstbestimmte Entscheidungen - die sich aber leicht beeinflussen lassen. Manchmal nur mit einem leichten Stupser, einem »Nudge«. »Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt«, das ist auch der Titel des Buches, das Sunstein gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler verfasste. Es wurde zu einem Bestseller über Verhaltensökonomie, mit teilweise schlicht anmutenden Erkenntnissen: So zielen Männer im Urinal angeblich eher in die Mitte, ist dort eine kleine Fliege aufgemalt. Der Jurist Sunstein, 55, forscht seit Jahrzehnten an der Schnittstelle von Regulierung, Ökonomie und Psychologie, zunächst an der University of Chicago, dann in Harvard. Sunsteins Verständnis von modernem Regieren ähnelt dem Obamas: Steuern und Staatseingriffe findet er gut, Zwang aber schlecht. Das Konzept, das sein Buch »Nudge« propagiert, nennt Sunstein liberalen Paternalismus - es grenzt die Entscheidungsfreiheit eines Einzelnen nicht ein, regt aber ein bewusstes, besseres Handeln an. Seit diesem Jahr sitzt Sunstein nun als Direktor im »Office of Information and Regulatory Affairs« ganz nah am Präsidenten und kann seine Vorstellungen auch politisch umsetzen. Die Neuordnung der Finanzmärkte, die Gesundheitsreform, strengere Umweltvorschriften - alles läuft über seinen Schreibtisch. Mehr noch: Sunsteins Thesen zu wirksamen Anreizen für nicht immer rational handelnde Bürger sind Pflichtlektüre in Obamas Umfeld. Kennengelernt hatten der Jurist und der Politiker sich vor Jahren auf einer Fundraising-Party, die ein Nachbar von Sunstein organisiert hatte.
GORDON BAJNAI
Der Ersatzmann
Ich bin kein Politiker«, sagt Gordon Bajnai - ein seltsames Bekenntnis für einen Ministerpräsidenten, zumal für einen erfolgreichen. Der 41-jährige Bajnai wurde im April Premier in Ungarn, als kein anderer mehr das Amt wollte, denn der Staat war pleite. 20 Milliarden Euro Rettungskredit stellten IWF, Weltbank und EU bereit - und verlangten strikte Sparsamkeit. Jahrelang hatte das Land auf Pump gelebt. Nun wurde jemand gesucht, der radikal sein würde. Einer ohne weitere politische Karrierepläne, denn sein Ruf im Volk würde nach der Schocktherapie ruiniert sein. Die Wahl fiel auf Gordon Bajnai, einen ehemaligen Manager: »Ich war der letzte Kandidat in der Reihe«, sagt Bajnai. Er setzte das Rentenalter herauf, erhöhte die Mehrwertsteuer. Mittlerweile, ein Jahr nach dem Tief, bescheinigt die OECD Ungarn die beste Haushaltsführung aller Mitgliedsländer, schon 2011 könnte das Land die Maastricht-Kriterien erfüllen und dann gar den Euro einführen. Bajnai will nach Erledigung seiner Mission im Frühjahr zurücktreten - auch das eher ungewöhnlich.
SUNITA NARAIN
Indiens Umweltgewissen
Den täglichen Kampf gegen den drohenden Umweltkollaps in ihrem Land, gegen die Kollateralschäden des rasanten indischen Wachstums führt Sunita Narain aus einem winzigen Büro in Neu-Delhi. Es ist der Sitz ihrer NGO, der einflussreichsten Nichtregierungsorganisation Indiens. Seit Jahren schon leitet die 48-Jährige das »Zentrum für Wissenschaft und Umwelt«. Sie ist eine zierliche, aber mächtige Frau, mit hervorragenden Verbindungen in die Politik und einem gut funktionierenden Netzwerk. Vom Premierminister wurde Narain sogar in die Klimaschutz-Kommission der Regierung berufen. Sie hat durchgesetzt, dass Delhis Busse mit Erdgasantrieb fahren - das war eine kleine Revolution. Zurzeit kämpft sie gegen die private Motorisierung der Inder und für einen Nano-Bus statt einem »Nano«, wie der neue indische Volkswagen heißt. Indien dürfe nicht die Fehler des Westens wiederholen, sagt sie. Narain legt sich auch gern mit Großkonzernen an: Coca-Cola wies sie nach, dass in Indien verkaufte Getränke des Konzerns Pestizide enthielten, brachte den Fall in die Schlagzeilen und löste damit landesweit Empörung über den US-Hersteller aus. Umweltpolitik ist für Narain auch immer eine Frage von Gerechtigkeit und Gleichheit. Gerade die Industriestaaten müssten ihre Emissionen drastisch reduzieren, damit Entwicklungs- und Schwellenländer die Chance erhalten, bescheidenen Wohlstand aufzubauen und Armut zu bekämpfen. Die Kopenhagen-Vereinbarung bezeichnete sie als ein Dokument des Scheiterns - desaströs nicht nur für das Klima, sondern auch, »weil es die Ungleichheit in der Welt auf ewig einfriert«.
DAMBISA MOYO
Die Anti-Bono
Sie ist in Sambia geboren, einem der ärmsten Länder der Welt. Dambisa Moyo hat dort studiert, bevor sie nach Harvard und Oxford ging und später als Investmentbankerin arbeitete. Sie kennt Afrika und den Westen - und gerade deshalb sagt sie: »Hilfe hilft nicht.« Moyo fordert, sämtliche Industriestaaten sollten ihre Zahlungen an die Entwicklungsländer stoppen. Das westliche Geld käme ohnehin nur korrupten Herrschern zugute, es mache die Afrikaner zu Almosenempfängern. Ihr Buch »Dead Aid«, in dem sie dieses Dilemma beschreibt, wurde innerhalb weniger Wochen weltweit zum Bestseller. Geschätzte zwei Billionen Dollar haben die Industrieländer in den vergangenen 50 Jahren in die Entwicklungsländer gepumpt. Trotzdem, so Moyo, sei die Armut nicht geringer geworden. Entwicklungshilfe verhindere sogar Entwicklung, sagt sie: »Niemand wird bestraft, wenn er nicht innovativ ist, denn die Hilfen fließen trotzdem. Und niemand wird belohnt, wenn er sich anstrengt.« Das Weltwirtschaftsforum kürte die 40-Jährige zu einem ihrer Young Global Leaders. Dabei ist sie nicht die Erste, die eine Generalabrechnung mit den Entwicklungshelfern wagt. Aber sie ist schwarz, hübsch und hochgebildet: Nach einem Masterstudium schrieb sie ihre Doktorarbeit in Wirtschaftswissenschaften. Danach war sie zwei Jahre bei der Weltbank und acht im Finanzmanagement bei Goldman Sachs. Den Posten gab sie auf, um das Buch zu schreiben, seither gilt sie als »Anti-Bono«. Denn ein Kapitel widmete sie der »Glamour Aid«, den Rockstars und Schauspielern, die Afrika nicht kennen und ungebremst ein gescheitertes Modell der Hilfe fortsetzen. Deren Aktionen hätten ernsthafte Debatten darüber verhindert, ob es sinnvoll sei, immer mehr Geld nach Afrika zu schicken. Dambisa Moyo glaubt, der Kontinent müsse sich selbst helfen. Mikrokredite seien eine Lösung: Jeder mit einer soliden Geschäftsidee kann dann Geld erhalten und muss es zurückzahlen. Die afrikanischen Staaten sollten ihre Kreditwürdigkeit pflegen und sich auf dem internationalen Finanzmarkt mit Staatsanleihen Geld besorgen. Kritiker haben Dambisa Moyo vorgehalten, dass Tausende Menschen an Hunger, Aids oder Malaria sterben werden, würde die Entwicklungshilfe eingestellt. Ihnen entgegnete sie, sie habe nie gefordert, Notfallhilfe zu streichen.
AHMED ABOUTALEB
Obama von der Maas
Er war gerade als Bürgermeister von Rotterdam vereidigt worden, da übergab ihm der Oppositionsführer im Stadtrat einen leeren Briefumschlag, adressiert an den König von Marokko. Darin solle er seinen marokkanischen Pass zurückschicken, schließlich könne ein Bürgermeister der zweitgrößten Stadt der Niederlande nicht beides sein: Marokkaner und Niederländer. Doch genau das ist Ahmed Aboutaleb, 48, der erste Muslim, der eine europäische Metropole regiert. Den »Obama von der Maas« nennen ihn viele, weil er eine ebenso ungewöhnliche Biografie hat wie der US-Präsident und weil er für Hoffnung steht in der verarmten Arbeiterstadt, die bald mehrheitlich muslimisch sein könnte. Aboutaleb kommt aus einem Dorf im Rif-Gebirge, sein Vater war Imam, seine Mutter Analphabetin. Dann zogen sie in die Niederlande, Aboutaleb lernte die Sprache, studierte, wurde Elektroingenieur, Radioreporter, Sozialdezernent und Staatssekretär. Abgesehen vom märchenhaften Aufstieg hat Aboutaleb mit Obama wenig gemein: Er trägt biedere Anzüge, lächelt selten und gibt ungern Interviews. Aber der Unauffällige ist ein Mann der deutlichen Worte. Er ordnete unangemeldete Besuche bei Sozialhilfeempfängern an, strich jungen Arbeitslosen die staatlichen Gelder und ließ muslimische Frauen zu »Stadtteilmüttern« ausbilden. Seine Biografie ist sein Kapital, sie erlaubt ihm Sätze, die kein anderer so sagen könnte. »Raus aus der Burka und Bewerbungen schreiben«, ist einer davon. Wer das verweigert, dem streicht er die Sozialhilfe. Und manchmal klingt der Muslim wie der Rechtspopulist Geert Wilders: Wer die niederländischen Werte nicht akzeptiere, der solle seine Koffer packen, das sagte er zum ersten Mal nach dem Mord an Theo van Gogh 2004. Er sagt es seitdem immer wieder, und er meint es ernst. Wer nicht mitmacht, den lässt Aboutaleb abschieben. Er ist ein Sozialdemokrat, der sich als Null-Toleranz-Mann bezeichnet. »Aber wenn es darum geht, in Menschen zu investieren, die an einer offenen Gesellschaft mitarbeiten wollen, dann bin ich ganz soft.« Die Integrationspolitik seiner Partei, der PvdA, folgt inzwischen der »Linie Aboutaleb«. Der gläubige Muslim ist zum gefragtesten Kommunalpolitiker Europas geworden. Und seinen Pass? Den hat Aboutaleb natürlich nicht zurückgeschickt.