WETTER Rückkehr der Eiswinter
Ich geh'' mal eben frische Luft schnappen«, lallte der Partygast aus Bad Homburg, als er gegen 2.30 Uhr leichtbekleidet die Silvesterfete verließ. Stunden später erwachte der Berauschte orientierungslos im Schnee.
Dank Telekom blieb das Nickerchen ohne Folgen. Mit klammen Fingern zog der Steifgefrorene sein Handy. »Ich liege in einem Gebüsch und höre Autogeräusche«, so sein Hilferuf. Kurz danach barg ein polizeilicher Suchtrupp den Unterkühlten aus einem Straßengraben.
Was ist nur los in Deutschland? Neunmal nacheinander saß die Republik bei lauem Wetter unterm Tannenbaum. Ein bißchen Matschschnee im Februar, dann Ende März die ersten Maiglöckchen - das schien, angesichts der angekündigten Klimakatastrophe, das neue typische Wettergeschehen bei Jahresbeginn.
Vorbei der Tropentraum. Seit Tagen hat der osteuropäische Hochdruckkeil Volker seine kalten Finger über dem Land ausgestreckt. Bereits Mitte Dezember hatten sibirische Frostwellen die Region Jakutien getriezt. 57 Grad minus meldete das regionale Wetteramt.
Kurz vor Weihnachten rückte die Kühlfront knackend und knirschend nach Westen vor. In Bayern prasselte am 23. Dezember Eisregen nieder. Tausende von Fußgängern strauchelten. In München mußten 400 Passanten ärztlich versorgt werden. »Wir röntgen und gipsen am laufenden Band«, stöhnte eine Ärztin.
Nach dem Schneematsch kam die Kälte. Das Land erstarrte. Flirrende, knarztrockene Luft schob sich, von Osten kommend, über Europa. Gleißend hellblau und wie durchsichtig strahlte der Himmel. Der Grund: In der eisigen Luft kann sich fast keine Feuchtigkeit halten. Der Blick zum Firmament bleibt ungetrübt.
Am Boden hob derweil das große Bibbern an. Am 28. Dezember meldete das bayerische Straubing minus 26 Grad Celsius, tags darauf froren die Erfurter bei 24 Grad unter Null. Der vorläufige Höhepunkt der Kältewelle wurde mit 26,3 Grad in Gardelegen (Sachsen-Anhalt) gemessen.
31 Tote hatte der Frost bis Freitag nacht schon auf dem Gewissen. In Nordrhein-Westfalen erfror ein 19jähriges Mädchen, das in einen Graben gestürzt war. In Kettwig starb ein Mann in der Altstadt. Er hatte sich - nach einem leichten Infarkt - wegen anhaltender Schwummerigkeit auf eine Bank gesetzt. Unter Obachlosen kursieren derweil Survival-Tips (siehe Kasten Seite 24).
Doch auch unter den Wohlstandsbürgern ist die anfängliche Freude über den grimmigen Gast (abendzeitung: »Einfach bärig, diese Kälte") längst dem Verdruß gewichen. In der Neujahrsnacht barsten in den Straßen neben den Silvesterknallern auch die Autokühler. »Wir können uns nicht erinnern, daß es einmal so früh im Winter so kalt war«, sagt Karl-Heinz Nottrodt vom Deutschen Wetterdienst in Offenbach.
Eine brisante Mischung aus Kälte und Suff, Knallern und klammen Händen sorgte zum Jahreswechsel für zahlreiche Verletzungen. In Berlin (Neujahrsnacht-Temperatur: 21 Grad minus) waren die Katastrophendienste pausenlos im Einsatz. 400 Feuer loderten in der Hauptstadt. In Hamburg verletzten sich 32 Kinder und Jugendliche beim Zündeln mit Raketen und Böllern die Gliedmaßen.
»Den letzten ähnlich knackigen Winter hatten wir 1986/1987«, sagt der Offenbacher Meteorologe Klaus Gagel. Nun müssen Mützen gekauft, lange Unterhosen aus den Schränken gekramt werden. Der Mediziner Eberhard Windler rät, lieber drei dünne Pullis als einen dicken zu tragen. Sinn der textilen Verschalung: »Die Luft dazwischen wärmt.«
Mit dem ungewohnten Einbruch der sibirischen Luftmassen hat auch die Teenie-Generation eine ganz neue Einstellung zum Coolsein entwickelt. Ärzte müssen angefrorene Zehen und Ohrläppchen massieren. »Erfrierungen ersten Grades sind an den porzellanartig weißen Flecken von ein bis zwei Zentimetern Größe zu erkennen«, erklärt der Traunsteiner Dermatologe Robert Pleier.
Wenig Trost brachte da, daß auch der sonnenverwöhnte Süden bibberte. Auf Korsika und Sizilien fiel Schnee. In Südböhmen wurden minus 28,3 Grad gemessen, in Polen gar minus 37 Grad. In Bukarest (Tiefstwert: mehr als 20 Grad unter Null) flohen rund tausend obdachlose Kinder in die Kanalisation.
Schuld an der Kältewelle ist, wie Helmut Hildebrandt vom Wetterdienst in Offenbach erklärt, die »völlig gestörte Westwindzirkulation«. Normalerweise sind in Deutschland weiße Weihnachten die Ausnahme. Ein beständiges Tief über Island pustet meist auch im Winter feuchte, vom Golfstrom aufgeheizte Meeresluft in Richtung Europa. Gegen diesen Dauerföhn kann sich die kalte Kontinentalluft nicht durchsetzen.
Doch in diesem Jahr blieben die warmen Winterwinde vom Atlantik aus. Merkwürdigerweise hat sich über Island ein Hoch, Urban genannt, aufgebaut. Diese Druckzone besitzt keinerlei Blaskraft - die Folge: Sibirische Kaltluftmassen dringen mangels Gegenwind ungehindert bis nach Spanien vor.
Und die eisigen Russen-Hochs haben Kraft. Ihr neuester Ableger Volker schwebt derzeit wie ein Monstrum über der Ukraine und Südpolen. In Kiew sanken die Temperaturen letzte Woche auf minus 23 Grad. 100 000 Städter waren zeitweise ohne Strom und Wärme.
Verschärft wurde die Kälte durch die Schneefälle kurz vor Jahresende: Infolge der weißen Flockendecke wird die kurzwellige Strahlung stracks zurückgeworfen. Ergebnis: Selbst bei Tage ist es am Erdboden kälter als in 2000 Meter Höhe.
So bildete sich über Deutschland eine paradoxe Verkehrung des Temperaturgefälles. An rund einem Dutzend Meßstationen lassen die Meteorologen täglich Ballons emporsteigen, um die Temperaturen in den Luftschichten der Atmosphäre zu messen. In Schleswig etwa war es am letzten Donnerstag in 500 Meter Höhe nur minus vier Grad kalt, am Boden aber wurden über zehn Minusgrade gemessen.
»Die frostige Luft liegt wie ein dünner Film über dem Land«, erklärt Wetterexperte Hildebrandt. Und er macht wenig Hoffnung auf Besserung. »Die Lage ist stabil. Alles spricht dafür, daß wir einen kalten Extremwinter kriegen.«
Solche Prognosen können sich auf Fakten stützen: Seit einigen Jahren schon sind die Meteorologen einem merkwürdigen Phänomen auf der Spur. Die Winter in Nordeuropa folgen einem geheimnisvollen Zyklus: »Auf acht bis zehn milde Winter«, so Hildebrandt, »folgen meist einige wenige extrem kalte.«
Langfristige Wetteraufzeichnungen bestätigen den Trend. Nach dem Megawinter von 1940 wurden erst 1956 wieder Rekordtemperaturen gemessen. Ähnlich grimmig ging es dann 1963, 1978 und 1987 zu. Um diese Extremwinter paarte sich jeweils eine kleine Serie von ähnlich kalten Jahren.
Schon im vergangenen Jahr fror die Ostsee vor der deutschen Küste zu. Die Experten werten es als Auftakt für ein erneutes Umschlagen der Wetteruhr. Meteorologe Hildebrandt vermutet: »Wir stehen am Beginn einer neuen Phase von Extremwintern.«
Die Ursache des merkwürdigen Zyklus ist bislang nicht geklärt. Möglicherweise hängt die Schwankung mit dem Golfstrom zusammen. Auch diese Meeresader, die täglich Myriaden Tonnen warmes Tropennaß bis hoch nach Norwegen schaufelt und damit den Westeuropäern einen in diesen Breiten einzigartig milden Winter beschert, scheint einer periodischen Schwankung zu unterliegen.
Schon ein geringfügiges Nachlassen dieser atlantischen Fernwärmeversorgung, so die Überlegung der Forscher, würde sich im Norden Europas dramatisch bemerkbar machen. Das Islandtief verlöre seine Kraft, die von ihm entfachten warmen Westwinde blieben aus. Eurasische Frostluft könnte so ungehindert bis nach Deutschland fegen.
Exakt dieser Umschlag ist nun offensichtlich wie eine klirrende Faust über die Republik hereingebrochen. Auf Main, Donau und Neckar sitzen Hunderte von Binnenschiffen fest. Von den ostfriesischen Inseln Juist und Wangerooge mußten 550 Touristen ausgeflogen werden. Auf Elbe und Weser hat sich das Treibeis zu bizarren Türmen verkantet.
Auch die Bahn hat vor den arktischen Temperaturen teilweise kapituliert. Vorletzte Woche blieb bei Baden-Baden ein ICE liegen. Acht Stunden froren 500 Reisende ohne Decken und Proviant im Zug.
Dramatisch gestaltet sich der Einsatz der Verkehrswachten. Nach Schneefällen und einsetzendem Berufsverkehr schlitterten viele Autos wie Eishockey-Pucks über die Straßen. Es rumste und krachte. »Die Autofahrer sind vernünftiger geworden«, diagnostizierte kühn ein ADAC-Sprecher, es habe nur Blechschäden gegeben.
Chaoshemmend wirkte zudem, daß viele Fahrwillige - wegen müder Batterien oder vereister Türschlösser - gar nicht erst auf die Piste kamen. »Hier ist die Katastrophe angesagt«, sprach letzten Donnerstag Heidi Loeper vom Abschlepp- und Bergungsdienst in Hamburg. Der ADAC meldete bei der Pannenhilfe acht Stunden Wartezeit.
Und der Treibhauseffekt? Es soll doch eigentlich wärmer werden? Einen Temperaturanstieg um bis zu drei Grad haben die Klimaforscher für die nächsten 100 Jahre vorhergesagt. »Wo, bitte, Herr Greenpeace, bleibt der Treibhauseffekt«, wollte ein galliger Kommentator der Münchner abendzeitung wissen.
Die Vertreter des »Global Warming« nahmen solchen Schmäh gelassen. »Was da draußen abläuft, schockt uns gar nicht«, meint Mojib Latif vom Hamburger Klimarechenzentrum. Noch würde der Treibhauseffekt mit seinen wenigen Zehntel Grad weltweiter Erwärmung nur einen »geringen Effekt ausmachen«. Latif: »Die natürliche Klimavariabilität kann diesen Trend immer noch klar übertrumpfen und verdecken.« An den Aussichten ändere das wenig: »Langfristig wird es wärmer.«
Solche Prognosen wirken auf die Friedhofszunft derzeit jedoch wie Hohn. Wegen des hartgefrorenen Bodens müssen Totengräber die Sarggruben mit Preßlufthämmern ausheben - Schwerstarbeit, die wohl noch lange anhalten dürfte. »Die besonders eisigen Winter erreichen ihre Rekordtemperaturen meist erst im Februar«, erzählt der Offenbacher Hildebrandt. Seine Vermutung: »Es wird noch kälter. Vor März taut der Schnee nicht ab.«
* In der Nacht zum 3. Januar in Pattensen bei Hannover.