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PARIS Ruf der Geschlechter

aus DER SPIEGEL 4/1952

Frankreichs Bordelle sollen wieder eröffnet werden. Aus Gründen der Hygiene und der Moral. So will es ein Gesetzesantrag des republikanischen Senators von Bordeaux, Durand.

Die französischen Gesetzgeber haben Mut zu dieser Maßnahme gewonnen, nachdem die siegreiche Vorkämpferin für die Schließung der Freudenhäuser, Marthe Richard, 62, erklärt hat, die Pariser Prostituierten sollten »als eine Art öffentlicher Fürsorgerinnen anerkannt« werden.

Sie begründete ihren Stellungswechsel sehr geschäftstüchtig in einem Buch »L'appel des sexes« (Ruf der Geschlechter). Die Existentialisten verliehen ihr dafür den Literaturpreis »Prix du Tabou«, so geheißen nach dem zuvielversprechend-berüchtigten Existentialistenkeller von Saint-Germain des Prés. Dieser schon Tradition gewordene literarische Silvester-Jux zeichnet solche Werke aus, die den braven Bürger durch größtmögliche Offenheit in sexuellen Dingen vor den Kopf stoßen.

1945 war Marthe Richard auf der Liste der katholischen Volksrepublikaner (MRP) als Stadtverordnete in das Pariser Rathaus gewählt worden. Sie hielt eine flammende Rede gegen die Prostitution und verlangte die Schließung der »maisons de tolérance«.

Wider bessere Einsicht beugten sich nicht nur die Stadtväter von Paris, sondern auch die Nationalversammlung der sachkundigen Beredsamkeit von Marthe Richard. »Sie versteht so schrecklich viel von der Sünde«, stöhnten die Abgeordneten. Frankreichs Freudenhäuser wurden geschlossen.

Die Beziehungen der Richard zur Prostitution sind umstritten. Fest steht, daß sie im ersten Weltkrieg ihre Tugend auf dem Altar des Vaterlandes opferte, indem sie - eben 26 Jahre alt - in Madrid den greisen deutschen Marineattaché Korvettenkapitän Baron Hans von Krohn betörte. Viel kam dabei nicht heraus. Nicht einmal die Karte der deutschen U-Boot-Stützpunkte in Spanien, die der französische Generalstab so dringend brauchte.

Immerhin: es reichte zu dem Band der Ehrenlegion, zu einem Buch »Mein Leben als Spionin« und zu einem Film, in dem Edwige Feuillère die Rolle der verführerischen Spionin spielte.

Marthe Richards etwas undurchsichtige Résistance-Tätigkeit des zweiten Weltkrieges war bei weitem nicht so attraktiv wie die des ersten. Sie brachte sich der Oeffentlichkeit durch die tugendhafte Kampagne gegen die Bordelle in Erinnerung.

In diesen Tagen zog der Pariser Polizeipräfekt folgende Bilanz von sechs Jahren ohne genehmigte Bordelle:

* die Zahl der der Polizei bekannten Prostituierten hat sich von 9000 im Jahre 1945 auf 22 000 im Jahre 1951 erhöht;

* die Zahl der illegalen Strichmädchen ohne polizeiliche und ärztliche Kontrolle geht in die Tausende;

* an die Stelle der früheren offiziellen 82 Bordelle sind Hunderte von illegalen Freudenhäusern getreten;

* die Kurve der Geschlechtskrankheiten ist seit 1945 dauernd im Ansteigen.

Der Präfekt ist für Senator Durands Gesetzesantrag. Er würde ermöglichen, daß die Strichmädchen am Place Pigalle, an der Madeleine und auf den Champs Elysées wieder »unsichtbar« werden, das heißt in Bordells eingewiesen oder unter polizeilicher und amtsärztlicher Kontrolle in bestimmten Distrikten geduldet werden.

»Es gibt Mädchen«, sagt der Präfekt, »die bis zu 600 000 Francs monatlich verdienen. Das sind 7500 DM. Für die sie keine Steuern bezahlen. Bordellwirte aber müssen Bücher führen und hohe Steuern zahlen. Vielleicht hat Senator Durand auch daran gedacht.«

Frau Marthe aber bekannte in schöner Offenheit: »Ich habe mich geirrt.«

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