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»Ruhe im Ozean der Furcht«

Frankreich und die Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl *
aus DER SPIEGEL 21/1986

Überall in Europa ging die Angst vor radioaktiver Verseuchung um. Im jugoslawischen Ljubljana, in Rom, in München und Hamburg demonstrierten Tausende aufgebrachter Kernkraftgegner.

Von Skandinavien bis nach Italien interessierten sich die Menschen für Becquerel, Millirem und Sievert, hatten sie die Halbwertzeiten von Jod 131, Cäsium 137 und Strontium 90 parat.

An den Grenzen zu den Ostblock-Staaten wurden Fahrzeuge von Spezialtrupps entseucht. Salat und Freilandgemüse wurden untergepflügt oder auf Müllhalden geschüttet. Den Müttern empfahlen Behörden, ihre Kleinkinder nicht in Sandkästen und nicht im Gras spielen zu lassen. Überall in den Regalen der Supermärkte blieb die Frischmilch stehen. Nach dem Reaktor-Unfall im ukrainischen Tschernobyl erfaßte Skepsis, wenn nicht Panik die Menschen gegenüber den Risiken der Kernkraft-Nutzung europaweit.

Die niederländische Regierung verschob den geplanten Neubau von zwei Atomkraftwerken auf unbestimmte Zeit.

In Wien beschloß die Regierung, mit Bonn über einen Verzicht auf den Bau der nuklearen Wiederaufarbeitungsfabrik im oberpfälzischen Wackersdorf zu verhandeln, weil ein Unfall, so Bundeskanzler Fred Sinowatz, »ganz Österreich bedrohen« würde.

In Großbritannien brachte eine Meinungsumfrage an den Tag, daß sich die Zahl der Kernkraft-Befürworter im Lande seit dem Desaster in der Sowjet-Union von 60 auf 40 Prozent verringert _(Am 11. Mai in Breibach am Kaiserstuhl. )

und der Anteil der Gegner auf 50 Prozent verdoppelt habe.

Nur ein Land Europas schien wie auf einem anderen Stern zu leben: Frankreich. Keine Warnungen, keine Einschränkung der Lebensgewohnheiten, keine exotisch anmutenden, unverständlichen Meßwerte behelligten die Franzosen. Die Aufgeregtheiten der Nachbarn jenseits des Rheins wurden als »deutsche Psychose« belächelt, so wie die Franzosen nie hatten verstehen können, daß »le Waldsterben« die Deutschen aufregte.

Noch am vorletzten Sonnabend, vierzehn Tage nach Beginn des Tschernobyl-Unglücks, stellte »Le Monde« auf seiner ersten Seite die Frage, warum allein »Frankreich in einem Ozean der Furcht die Ruhe bewahrt« habe.

Das Land habe offensichtlich keinen Fallout abbekommen, vermutete das Blatt, weil die radioaktive Wolke Frankreich nur »gestreichelt« habe. Überdies seien die Franzosen das Zusammenleben mit der Kernenergie gewohnt; fast jeder Einwohner lebe in der Nähe einer Atomanlage. Tatsächlich decken in Frankreich heute 16 Atomkraftwerke mit insgesamt 41 Reaktoren etwa zwei Drittel der Stromversorgung - Weltrekord.

Und die prestigeträchtige Atomstreitmacht Force de frappe trägt auch nach Auffassung von Sozialisten und Kommunisten zur immer wieder beschworenen (wenngleich illusionären) »nationalen Unabhängigkeit« Frankreichs bei.

Umweltsünden jeder Art wurden erst spät zur Kenntnis genommen in einem Land, dessen Bevölkerungsdichte halb so groß ist wie die westdeutsche. Außerdem redete sich die Nation der Literaten und Philosophen ein, sie habe einer spezifischen Nachholbedarf, das idyllische Frankreich mit moderner Technik vollzustopfen, wenn sie den Anspruch auf Größe aufrechterhalten wolle.

Folge: Mit einem Anteil von 1,2 Prozent der bei den letzten Parlamentswahlen abgegebenen Stimmen kümmern die Grünen in Frankreich dahin; eine winzige Minderheit ohne großen Einfluß in einer Öffentlichkeit, die auf Anti-Kernkraft-Parolen kaum reagiert, dafür aber Sinn und Nutzen des atomaren Feuers unbestritten anerkennt.

Anders als manche deutschen Behörden versuchten Pariser Offizielle nicht einmal, etwaiges Mißtrauen zu beschwichtigen. Die Regierung gab keine Erklärungen ab; anfragenden Journalisten wurde bedeutet, es gebe nichts zu berichten. Die Franzosen nahmen es gelassen hin.

Kleinere Demonstrationen, etwa in der Nähe des elsässischen Atommeilers Fessenheim, fanden in der Öffentlichkeit kaum Beachtung.

Wer sich dafür interessierte, warum fast alle Nachbarn Frankreichs von radioaktiven Strahlungen heimgesucht wurden, die dann exakt an der französischen Grenze versiegt sein sollten, der wurde meteorologisch abgefertigt: Zunächst habe ein Azoren-Hoch die radioaktive Wolke an den Grenzen gestoppt. Dann sei die Wolke tatsächlich über Frankreich gezogen, aber da es nicht geregnet habe, sei die Radioaktivität nicht auf das Land herniedergegangen.

Im übrigen, so deuteten die Behörden an, sei die Strahlenintensität im Lande »wieder normal geworden«. Da niemals zuvor eine offizielle Pariser Stelle überhöhte Werte zugegeben hatte, wunderte sich der Pariser »Matin"Handelt es sich um einen Lapsus oder um eine Gegeninformation?

Die Antwort kam wenig später. Noch lag »Le Monde« mit der Schlagzeile über die glückliche Insel Frankreich an den Kiosken, als in den Mittagsnachrichten des Ersten Französischen Fernsehens Professor Pierre Pellerin interviewt wurde, der Direktor des staatlichen französischen Zentraldienstes für Strahlenschutz.

Mit Leichenbittermiene präsentierte der Professor Zahlen und Landkarten über die Strahlenlage in Frankreich an sechs Tagen nach dem Unfall in Tschernobyl, vom 30. April bis zum 5. Mai. Danach überquerte die radioaktive Wolke fast das ganze Land - zunächst von Ost nach West und dann wieder zurück. Dabei wurden Strahlungswerte gemessen, die bis zu 400mal höher lagen als in den Tagen vor Tschernobyl. Besonders viel bekamen der Osten und Südosten des Landes ab. Lediglich die Bretagne wurde von der Wolke nicht behelligt.

Auf die verdutzte Frage, warum er seine Erkenntnisse so lange zurückgehalten habe, verwies der Professor auf die vorhergegangenen zwei langen Wochenenden. Da sei es sehr kompliziert gewesen, die Resultate weiterzugeben. Im übrigen, so Pellerin, sei sein Dienst keine Agentur für Public Relations. Staatsraison a la francaise: Was die Behörde mißt, hat seinen Zweck in sich und die Öffentlichkeit nicht zu kümmern.

Pellerins Meßergebnisse gehen in erster Linie an das Zentrum für Atomenergie (CEA), das kein Interesse daran hat, Informationen zu verbreiten, die seinen eigenen Interessen abträglich sind.

»Die radioaktive Lüge« empörte sich am nächsten Morgen das linksliberale Blatt »Liberation« in Riesenlettern auf seiner ersten Seite. Der sozialistische »Matin« verglich die offizielle französische Informationspolitik nach Tschernobyl mit der Haltung Moskaus: »Zehn Tage lang war Frankreich die Sowjet-Union«

Und nun rügte auch »Le Monde« im haustypischen Stil kühler Rationalität: »Die französische Regierung hat ihre Verantwortung nicht wahrgenommen« _(Links über Jod 131 in der Milch, rechts ) _(über Radioaktivität im Boden. )

Doch die Aufregung in einigen Medien vermochte die Ruhe der Franzosen kaum zu erschüttern, zumal Professor Pellerin versichert hatte, die erhöhten Werte seien nicht gesundheitsschädlich gewesen.

In den riesigen Markthallen von Rungis, wo der Obst- und Gemüsebedarf für Paris umgeschlagen wird, klagten die Händler zwar über verringerten Umsatz doch den schoben sie überwiegend der Reiselust der Hauptstädter zu. Viele Pariser seien bereits in den Pfingsturlaub gefahren.

Zur Radioaktivität zitierten sie Pellerin »Der Professor hat gesagt: Wenn man einen verseuchten Salatkopf ißt dann ist das so, als wenn man ein Wochenende in den Bergen verbringt«

Vorigen Dienstag allerdings verbot die französische Regierung den Verkauf von elsässischem Spinat. Die Schadensersatzforderung der Spinatbauern konnte nicht lange ausbleiben.

Am 11. Mai in Breibach am Kaiserstuhl.Links über Jod 131 in der Milch, rechts über Radioaktivität imBoden.

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