OSTPOLITIK Ruhe ist Pflicht
Die Führer der beiden stärksten Mächte des Westens sorgen sich um ihren Partner im Osten. Bundeskanzler Helmut Schmidt und der amerikanische Präsident Gerald Ford kamen bei ihrer Unterredung am vergangenen Donnerstag im Weißen Haus rasch zum Thema Breschnew.
Die Regierungschefs und ihre Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Henry Kissinger. beim deutsch-amerikanischen Gipfel mit von der Partie, stimmten in ihrer Analyse überein: Der sowjetische KP-Generalsekretär wolle zwar an der Entspannungspolitik festhalten, aber er sei nicht mehr so stark wie früher. Die Falken. die größere Härte und mehr Abgrenzung gegenüber dem Westen verlangten, hätten an Boden gewonnen.
Das Konzil der kommunistischen Parteien Europas in Ost-Berlin, auch darin waren sich Deutsche und Amerikaner einig, habe die politisch-ideologische Führungskraft Moskaus weiter geschwächt, die Position der Euro-Kommunisten, des Italieners Enrico Berlinguer und des Franzosen Georges Marchais, hingegen gestärkt. Für den Westen sei dies, so das einhellige Urteil der vier Herren im Weißen Haus, keine angenehme Entwicklung, die Ostpolitik werde in Zukunft schwieriger.
Dann verabredeten Schmidt und Ford ein Stillhalte-Abkommen: Weder die USA noch die Bundesrepublik wollen sich dazu verleiten lassen, die Schwierigkeiten der UdSSR im eigenen Lager auszunutzen und Moskaus Schwäche noch zu vergrößern, indem man Abweichler im Warschauer Pakt besonders hofiert. Ein solches Verhalten des Westens »wäre töricht«, meinte der Kanzler in Washington.
In Bonn hatten die Russen bereits um Schonung gebeten. In Gesprächen mit deutschen Partnern verwiesen Diplomaten aus der Sowjet-Botschaft darauf, es sei im beiderseitigen Interesse, wenn der Westen den für Moskau wenig erfreulichen Ausgang des europäischen KP-Gipfels in Ost-Berlin nicht mit Schadenfreude quittiere.
Die Sowjets erinnerten an ein Breschnew-Wort, gesprochen auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im vergangenen August in Helsinki: In der Entspannungspolitik gebe es »keine Sieger und Besiegte«.
Nur dem konsequenten Festhalten Breschnews an der Entspannungspolitik, so Moskaus Diplomaten weiter. verdankten es auch die westeuropäischen Kommunisten, daß sie in der DDR-Hauptstadt ihre Unabhängigkeit von der Mutterpartei und ihren Anspruch auf Eigenständigkeit öffentlich dartun konnten. Die Bundesrepublik und mit ihr der ganze Westen dürften nun das Lager des internationalen Kommunismus nicht dabei stören, intern mit den Folgen der Entspannungspolitik fertigzuwerden.
Doch für die Signale aus Moskau gibt es derzeit in Bonn kein rechtes Interesse. So sehr ist die Bundesregierung in diesen Wochen mit Wahlkampf und Terrorismus beschäftigt. daß bislang weder eine ausführliche Kabinetts-Diskussion stattfand noch eine gründliche Analyse des KP-Konzils erarbeitet wurde, ganz zu schweigen von einer neuen Richtlinie für die eigene Politik gegenüber dem Osten nach dem Treffen in der DDR -Kapitale.
Erst nach einem Wahlsieg am 3. Oktober wollen sich die Sozialliberalen daranmachen, ein Konzept für die zweite Phase der Entspannungspolitik zu formulieren.
Handikap der Planer: Die Unsicherheit ist groß, wie sich die Entspannungsfreunde um Breschnew behaupten werden. Denn allzu rosig sieht deren Bilanz nach Bonner Einschätzung nicht aus. Ein Jahr nach der KSZE-Konferenz zeige sich, daß dieses von den Sowjets betriebene Treffen ihnen nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat.
Zwar wurden die Grenzen in Europa festgeschrieben, freilich mit der Möglichkeit einvernehmlicher Grenzänderungen. Aber seinem großen Ziel, den politischen Einfluß der Amerikaner in Europa zurückzudrängen und den eigenen auszuweiten, ist Moskau durch die Konferenz nicht nähergekommen. Und auch die militärische Präsenz der USA auf dem Kontinent, das haben die Russen bei den Truppenabbau-Verhandlungen (MBFR) in Wien lernen müssen, ist nur um den Preis einer ausgewogenen Reduktion der östlichen Truppen zu verringern. Diese Erkenntnis, so erwarten Bonner Fachleute, könnten den Kreml demnächst zu Konzessionen in Wien veranlassen.
Besondere Schwierigkeiten aber machen Moskau und seinen Verbündeten die in Helsinki verabredeten humanitären Maßnahmen wie Familienzusammenführung. verbesserter Informationsaustausch und die Erleichterung für die Arbeit von Journalisten.
Recht zufrieden sind die Bonner, daß die Sowjets, die schon zweimal westliche Beobachter zu ihren Manövern zuließen, nun auch die entsprechenden Gegeneinladungen annehmen. Voraussichtlich noch in diesem Herbst werden östliche Militärs bei Nato-Manövern dabeisein.
Wie sich die KP-Konferenz auswirken wird, darüber gibt es unter Bonns amtlichen Vordenkern der Ostpolitik noch gravierende Meinungsunterschiede. Rußland-Experten des Auswärtigen Amtes sehen zwar verschärfte Spannungen innerhalb des östlichen Lagers voraus. Sie glauben aber nicht, daß die sowjetische Führung die Entspannung nach Westen zurückdrehen und das mittlerweile dichte Netz wirtschaftlicher Verflechtungen mit den kapitalistischen Staaten kappen kann.
Ein Sowjet-Fachmann: »Es gibt keine Alternative zu der grundsätzlichen Entscheidung des Kreml von 1969, die wirtschaftlichen Mangelerscheinungen in der Sowjet-Union nicht durch innere Reformen zu beseitigen, sondern durch Hochverschuldung im Westen.«
Allerdings beunruhigt die Bundesregierung das Tempo, in dem der Osten Schulden macht. Von 1970 bis Ende dieses Jahres werden sich die Staatshandelsländer nach Schätzungen des Kanzleramtes rund 100 Milliarden Mark bei Industriestaaten und Ölproduzenten gepumpt haben. Doch der Kanzler sieht auch Vorteile. Selbstbewußt verkündete er in Washington: Investitionen, Lebensmittelimporte und Kreditaufnahmen hätten dazu geführt, daß der Osten »noch nie so abhängig war vom Westen seit Lenins Zeiten.
In der Bundeshauptstadt gibt es aber auch Experten, die sich, aller Abhängigkeit zum Trotz, Sorgen wegen eventueller Kurzschlußreaktionen hüben und drüben machen. Ranghohe Beamte aus dem SPD-Lager fürchten, bei Auflösungstendenzen im Ostblock und abnehmender Führungsfähigkeit der Sowjet-Union könne sich im Westen, vor allem in der Bundesrepublik, eine Stimmung breitmachen, nun sei endlich die Zeit gekommen, die Wiedervereinigung aggressiver zu betreiben und den Teilstaat DDR heim ins Reich zu holen.
Ein Bonner Pessimist: »Wenn ein Zerfallprozeß drüben mit einer Irredenta-Stimmung hier zusammenprallt, wird die Lage hochexplosiv.« Dann sei sogar nicht mehr völlig auszuschließen, daß die Sowjetführung schließlich ihr Heil in einer kriegerischen Auseinandersetzung suche.
Daß sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Entscheidung über Krieg und Frieden neu stellen könnte, dieser Theorie hängt auch CSU-Chef Franz Josef Strauß an, freilich unter anderen Voraussetzungen. Er hält es für denkbar, so offenbarte er Vertrauten, daß entweder der Ostblock zerfalle und der Einfluß der Sowjet-Union auf den Bereich ihrer Grenzen beschränkt werde, oder aber, daß eine in Bedrängnis geratene UdSSR ihre Bündnispartner durch einen Konflikt mit dem Westen zum Zusammenhalt zwinge.
So haben die regierungsamtlichen Ostbeschauer, ganz im Sinne der Russen, erst einmal die Parole ausgegeben: »Ruhe ist die erste Pflicht den Kommunisten gegenüber«. Sie gehen davon aus, daß es Moskau doch noch gelingen werde, die Zucht im Warschauer Pakt aufrechtzuerhalten -- wenngleich womöglich um den Preis eines Schismas mit den Kommunisten in West-Europa. Nach Auffassung dieser Experten gilt die Stillhalte-Losung erst recht für das Verhältnis zwischen Bonn und Ost-Berlin. Denn stärker noch als andere Ostblock-Staaten steht die DDR als deutscher Teilstaat vor einem Dilemma: Einerseits muß sie sich aus wirtschafts- und entspannungspolitischen Gründen zum Westen, vornehmlich zur Bundesrepublik hin, offenhalten, andererseits ist sie gezwungen, um die Herrschaft der SED zu sichern, ideologisch-politische Abgrenzung zu betreiben.
Anders auch als etwa in Polen oder Ungarn bietet sich der DDR-Führung kaum die Möglichkeit, den fehlenden Konsens zwischen Partei und Volk in ideologischen Fragen durch Rückgriff auf die nationale Tradition als Bindemittel zu kompensieren. Nach Erkenntnissen der Bonner fühlen sich die Bürger der DDR noch immer, mehr als 25 Jahre nach der Teilung, als Angehörige einer gesamtdeutschen Nation.
Hinzu kommt, daß Ost-Berlin kaum Spielraum für eine liberale Politik im Inneren hat. Nach den Bestimmungen des im Oktober 1975 abgeschlossenen Freundschaftsvertrages ist die Sowjet-Union berechtigt, so meinen Bonner Experten, schon dann einzugreifen, wenn die »sozialistischen Errungenschaften« in der DDR in Gefahr sind. Daraus könne der Kreml schon ein Interventionsrecht ableiten, wenn die SED einen Reformkommunismus ansteuert. der Moskau nicht genehm ist.
Die Bundesregierung, voran Kanzler Schmidt, ist daher überzeugt, vom KP-Gipfel werde keine stimulierende Wirkung auf die deutsch-deutschen Beziehungen ausgehen, das Verhältnis werde eher noch schwieriger werden. Der Ständige Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Staatssekretär Günter Gaus, referierte Ende Juni vor Bonner Ostbotschaftern« in den innerdeutschen Beziehungen dürfe man »jedenfalls keinen Durchbruch« erwarten. So habe der Druck der DDR »auf die Bundespräsenz in Berlin -- vor allem seit der Errichtung des Umwelt-Bundesamtes -- wieder zugenommen, auch wenn die östliche Seite bisher von Eingriffen in den Transitverkehr oder anderen Maßnahmen abgesehen hat«.
Trotz solch skeptischer Bewertung setzen die Sozialdemokraten auch künftig nicht auf Härte, sondern auf Eingegenkommen gegenüber den Ostdeutschen. So sollen nach dem 3. Oktober Wege gesucht werden, wie eine Reihe von Abkommen unter Dach gebracht werden kann, die seit Jahren zwischen beiden Staaten strittig sind. Das Rezept heißt ausklammern.
Das Rechtshilfeabkommen etwa ließe sich nach Bonner Vorstellungen unter Aussparung der Staatsangehörigkeitsfrage in Einzelvereinbarungen über die Auslieferung von Straftätern. über Zivilrechtsstreitigkeiten und über Urkundenfälle auflösen.
Auch finanzielle Freundschaftsdienste sind geplant. Nach der Bundestagswahl kann die DDR darauf hoffen. daß eine sozialliberale Bundesregierung einen Kredit von mehr als einer Milliarde Mark durch eine Bürgschaft absichert.
Helmut Schmidt hat sich noch eine Geste des guten Willens gegenüber SED-Chef Erich Honecker ausgedacht. Bleibt er Kanzler, dann soll es kein Ministerium für innerdeutsche Beziehungen mehr geben -- ein alter Wunsch der DDR wäre damit erfüllt.
Statt des überständigen Ressorts will der Regierungschef im Kanzleramt einen Staatssekretär einstellen, der deutschlandpolitische Konzeptionen erarbeiten soll, nach dem Vorbild des Chefdenkers, den sich einst Kanzler Willy Brandt gehalten hatte. Ein Schmidt-Berater: »Eine Art Egon Bahr für Helmut Schmidt.«