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EINWANDERUNG Runter von der Bremse

Angesichts sinkender Aussiedlerzahlen streitet sich die Union, ob sie den Zuzug wieder erleichtern soll. Es geht auch um Wählerstimmen.
aus DER SPIEGEL 3/2006

Der Ort liegt in Niedersachsen, er hat nur 7800 Einwohner, und die meisten von ihnen wählen auch noch die Sozis oder die Grünen. Aber für die Macht der Union ist er trotzdem so wichtig wie die Hochburgen in Bayern oder Baden-Württemberg: Friedland. Dort, im Grenzdurchgangslager, treffen alle Spätaussiedler aus dem Osten ein. Und das sind - für die Christdemokraten eine Art Naturgesetz - vor allem potentielle Unionswähler.

Umso empfindlicher trifft sie der drastische Einbruch, den Hans-Peter Kemper, Spätaussiedler-Beauftragter der Regierung, vergangene Woche meldete: Gerade noch 35 522 Aussiedler und Angehörige kamen 2005 an, fast 40 Prozent weniger als 2004. In zwei, drei Jahren, vermutet Kemper, könnten es sogar »unter 5000« sein.

Nun streiten Unionsinnenminister darüber, ob sie weiter an der Zuzugsdrosselung festhalten wollen, die mit dem neuen Zuwanderungsrecht Anfang 2005 eingebaut wurde. Oder ob es Aussiedlern - auch aus parteipolitischen Gründen - wieder leichter gemacht werden soll.

Mehrere CDU-regierte Länder möchten die Bremse im Zuwanderungsrecht lockern, indem sie den Sprachtest aushebeln. Diesen Test müssen seit einem Jahr auch alle ausländischen Angehörigen eines deutschstämmigen Aussiedlers bestehen, bevor sie kommen dürfen. Wie hoch die Hürde ist, zeigt schon die erste Jahresbilanz: Deutsche Auslandsvertretungen luden 1468 Angehörige zum Test ein; von den 871, die es wenigstens versuchten, scheiterten 655.

Damit war rund 85 Prozent der Kandidaten die Einreise erster Klasse - nämlich als Deutsche nach dem Vertriebenenrecht - verbaut. Ihnen blieb nur noch die Passage zweiter Klasse - auf dem Ticket des Ausländerrechts. In diesem Fall zieht zunächst der Deutschstämmige allein ins gelobte Land und holt anschließend seine ausländischen Verwandten nach. Auf Deutschkenntnisse kommt es dann nicht an. Doch das Verfahren kann Monate dauern, und eine so lange Trennung wollen viele Aussiedler nicht in Kauf nehmen; sie bleiben lieber im Osten.

Genau das hatten die Hardliner unter den Unionsinnenministern im Auge, aus guten Gründen. »Es gibt bei der Integration von Spätaussiedlern immer größere Schwierigkeiten«, klagt Bayerns Innenminister Günther Beckstein; Hauptgrund: fehlende Deutschkenntnisse. Und Niedersachsens Uwe Schünemann (CDU) assistiert, dass sich gerade viele junge Aussiedler hier nicht zurechtfänden und dann auf die schiefe Bahn geraten könnten. »Kaum noch zu bewältigende Integrationsprobleme« befürchtet Schünemann.

Doch nun bilden etliche CDU-Innenpolitiker eine ungewöhnliche Koalition mit der SPD, die den Zuzug aus humanitären Gründen wieder erleichtern möchte. Schon der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hatte einen entsprechenden Entwurf vorgelegt; die SPD-regierten Länder zogen mit. Schließlich aber setzte sich Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech auf Unionsseite an die Spitze der Bewegung - im Ländle sind im März Wahlen.

Rech präsentierte bei der Innenministerkonferenz im Dezember einen Vorschlag, der den Schleichpfad Familiennachzug sogar zum Königsweg für einreisewillige Ausländer machen könnte. Deutschstämmige, die nach Deutschland kommen, um ihre am Sprachtest gescheiterten Angehörigen nachzuholen, sollen, so der Rech-Plan, nicht mehr monatelang auf ihre Familie warten müssen. Sie sollen sie gleich mitbringen dürfen.

Damit aber, so die Befürchtung von Schünemann, Beckstein und Udo Nagel, dem parteilosen Innensenator im CDU-regierten Hamburg, gäbe es keinen Grund mehr, den Test zu absolvieren. Und auch das Kalkül, dass Deutschstämmige so lange in Russland oder Kasachstan ausharren, bis ihre Familien endlich Deutsch gelernt hätten, würde nicht mehr aufgehen. Also sagte das Trio kategorisch nein.

Seitdem wird kräftig nachgetreten. Schon im Juni 2005 hatte der Aussiedlerexperte der Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, an Parteifreund Uwe Schünemann geschrieben: Vor der Bundestagswahl müsse »unbedingt eine aussiedlerfreundliche Position in den Ländern durchgesetzt« werden, sonst drohe ein »erhebliches Verhetzungspotential gegen die Union«. Spätaussiedler seien »eine treue Wählerschaft« der CDU. »Wir können es uns nicht leisten, dieses Potential zu verschenken«, ermahnte Fromme den widerspenstigen Minister. Inzwischen sieht sich Fromme bestätigt. Aus Sicht der Vertriebenenverbände habe die Union auf der Bremse gestanden - »das haben wir beim Wahlergebnis gespürt«.

Schünemann zeigte sich jedoch »keineswegs überzeugt, dass meine Haltung der CDU schadet« - im Gegenteil: Gerade CDU-Wähler könnten enttäuscht sein, wenn »Tausende schwer integrierbare russische und kasachische Staatsangehörige« ins Land kämen. Für die Union könne das damit enden, dass »unter dem Strich der Schaden größer als der Nutzen ist«.

Fromme schaltete Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) ein - weil Familien über Monate auseinandergerissen würden. Schünemann und Beckstein warf er Unchristlichkeit vor. Es gehe »um eine christliche Grundfrage, die man gar nicht anders beantworten kann«. Das machte Schünemann spürbar sauer: Unchristlich sei nur, wer die Augen vor den Integrationsproblemen verschließe.

Nun soll eine Arbeitsgruppe bis zur nächsten Innenministerkonferenz im Mai erst mal Zahlen und Daten sammeln - Zeit für die Union, sich zu überlegen, wie viele Aussiedler gut sind. Für Deutschland. Und für die CDU. JÜRGEN DAHLKAMP

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