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NOTSTAND Russisch Brot

aus DER SPIEGEL 23/1968

Um »nicht mehr Untermieter im eigenen Haus« (Willy Brandt) zu sein, um frei zu werden von dem Recht auf Mitbestimmung, das sich die westlichen Besieger des Deutschen Reiches für den Notfall vorbehalten hatten, schuf sich der Bundestag am Donnerstag vor Pfingsten selber die Möglichkeit, der Freiheit der deutschen Menschen im Notstandsfall Grenzen zu setzen.

Mit 384 gegen 100 Stimmen (bei einer Enthaltung) verabschiedete das Parlament nach zehn Jahren Zank und Streit in namentlicher Abstimmung 24 Verfassungsänderungen; anschließend billigte es auch fünf »einfache« Gesetze für den Notstand. Sie enthalten die Vorkehrungen, die Bonner Regenten unerläßlich erscheinen, wenn ihre Demokratie Kriege ("äußerer Notstand"), Katastrophen und Umsturzversuche ("innerer Notstand") überdauern soll -- zum Beispiel:

* Das Grundrecht der Freizügigkeit kann in Zukunft auch zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes eingeschränkt werden. Unliebsame Personen könnten so für eine bestimmte Zeit aus bestimmten Städten verbannt werden.

* Die Bundeswehr kann im Fall des »inneren Notstandes« unter Voraussetzungen, deren Prüfung in das Ermessen der Bundesregierung fällt, zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer und zum Schutz von sogenannten zivilen Objekten eingesetzt werden. Diese Regelung birgt die Gefahr, daß die Bundeswehr auch im Fall von Streiks, die von der Regierung als umstürzlerisch empfunden werden, eingesetzt wird.

* Jedem Deutschen wird das Recht eingeräumt, »Widerstand« gegen jeden zu leisten, »der es unternimmt«, die verfassungsmäßige »Ordnung zu beseitigen«, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Diese Formulierung aber kann ohne weiteres als Rechtfertigung der Selbstjustiz mißdeutet werden. In solchen Fatalitäten endeten die Bemühungen der Ministerialbürokraten von sechs Bundeskabinetten, mit deutschem Perfektionismus und mit der Pedanterie von Leuten, die Russisch Brot nach dem Alphabet essen, den Notstand in Paragraphen zu fassen.

Damit begonnen hatte das Bonner Innenministerium bereits 1957. Der damalige Hausherr Gerhard Schröder hielt allzuviel Paragraphen für überflüssig: »Mein Notstandsgesetz hat zwei Artikel. Artikel eins: Der Notstand ist die Stunde der Exekutive; Artikel zwei: Das Gesetz tritt mit seiner Verkündung in Kraft.«

Schröders -- in Wahrheit doch umfänglicherer -- Gesetzentwurf fiel 1960 mit Aplomb durch; denn die SPD, die eine Notstandsregelung zwar im Prinzip für notwendig hielt, war zutiefst beleidigt, weil der Minister sie nicht vorher kontaktiert hatte.

Amtsnachfolger Hermann Höcherl ("Gott hat die Nüsse gemacht, uns bleibt, sie zu knacken") wollte mit den Sozialdemokraten gemeinsame Sache machen -- nach dem Motto: »Die eigentliche Politik wird nicht im Plenum des Bundestages, sondern auf dem Sofa gemacht. Auf dem Sofa wird man sich in der Regel schneller einig.«

Doch auch Nußknacker Höcherls neuer Notstandsentwurf scheiterte 1962, nachdem die SPD während der SPIEGEL-Affäre erkannt hatte, »daß im Falle eines Notstands der Willkür der Exekutive Tür und Tor geöffnet« würden (so der damalige SPD-Chef Ollenhauer).

Höcherl ließ seinen Entwurf im Rechtsausschuß des Bundestages entschärfen. Aber auch die Neufassung brachte die SPD im Sommer 1965, als Wahlen ins Bundeshaus standen, aus Angst vor Stimmenverlusten auf der Linken zu Fall.

Höcherl-Nachfolger Lücke verfolgte das Notstandsprojekt mit zähem Fleiß weiter. Im Oktober 1966 ließ er 44 Bundestagsabgeordnete, fünf Minister und knapp 1200 Regierungshelfer in einem Eifel-Bunker den Notstand üben. Wie eine Gruppe aufgekratzter Scharnow-Reisender, mit Skatkarten und großem Biervorrat, reisten die Politiker an. Als sie nach vier Tagen und Nächten »Fallex 66« ermattet aus dem Bunker kamen, urteilte der damalige CDU-Abgeordnete und heutige Bundesinnenminister Ernst Benda, es sei »ein Scheißspiel« gewesen; aber sein Notstandseifer erlahmte nicht.

Anders die Freidemokraten: Sie wurden durch »Fallex« -- so sagen sie heute -- zu Notstandsgegnern, brachten einen eigenen Gegenentwurf zu Papier und beschlossen, sich mit den gleichgesinnten Sozialdemokraten um Pfarrer Kaffka und die Gewerkschaftler Gscheidle, Matthöfer und Lenders zu verbinden.

Nun mußten die Notstands-Verfasser des Bonner Machtkartells um ihre parlamentarische Zweidrittelmehrheit fürchten: Freidemokraten und SPD-Frondeure hatten zusammen 141 der 496 Stimmen -- an der Sperrminorität fehlten ihnen nur noch 25 Stimmen.

Also mußten die Christdemokraten und ihre SPD-Genossen Kompromisse schließen, um ihr Gesetzes-Vorhaben nicht zu gefährden. Sie akzeptierten insbesondere eine stärkere Kontrolle der Exekutive durch den Bundestag -- etwa beim Einsatz der Bundeswehr und bei den Dienstverpflichtungen.

So setzte die SPD unter dem Druck ihrer Frondeure auch durch, daß der Bundestag jene Notstandsmaßnahmen, die Bonns Bundesregierung etwa aufgrund eines voraufgegangenen Nato-Beschlusses erlassen würde (der sogenannte Bündnisfall), wieder rückgängig machen kann.

Angesichts solcher Teilerfolge im Kompromißkampf mit dem christdemokratischen Regierungspartner schmolz die ehedem 93 Mann starke Gruppe der Notstandsgegner in der SPD-Fraktion mehr und mehr zusammen. Dafür wuchs die Unruhe beim linken Parteivolk, das sich weniger von den liberalisierten Paragraphen als vielmehr vom autoritären Geist der Notstandsgesetze betroffen fühlte.

Dieser innerparteilichen Opposition und allen den Genossen in der Fraktion, die ihr Ja zum Notstand nur mit schlechtem Gewissen sagten, versprach Parteichef Willy Brandt am Donnerstag in der dritten Lesung: »Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden finden, um die Demokratie zu verteidigen -- und das ist ganz wörtlich gemeint.«

* US-Botschafter Cabot Lodge (2. v. r), Frankreich-Botschafter Seydoux (l.) und Briten-Gesandter Laskey (2. v. l.) am Montag letzter Woche im Bonner AA bei Üebergabe der Noten, mit denen Bonns Alliierte zugunsten der deutschen Notstands-Verfassung auf ihre Vorbehaltsrechte verzichteten.

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