USA / RASSEN-UNRUHEN Russisches Roulette
Auf der Kanzel stand ein junger Johnson, 28, schwarz. Einst Vertrauter des gewaltlosen Dr. Martin Luther King, nun Organisator eines King-Gedenkmarsches durch die Mord-Stadt Memphis, fragte er die Gemeinde: »Antwortet mir im Chor: Was wollte Dr. King? Was wollen wir?«
Und die Gemeinde im Claiborne-Tempel in Memphis, 800 Mann stark, skandierte: »Non-vi-o-lence!« (Gewaltlosigkeit!)
Zwei Tage später, als der ermordete Gewaltlose in seiner Heimatstadt Atlanta beerdigt wurde, dirigierten schwarze Ordner den gewaltlosen Protest gegen die Gewalt, trauerten stumm 150 000 Landsleute - an der Spitze Coretta King und Jacqueline Kennedy, die beiden Witwen der Nation.
Es war eine trügerische Gewaltlosigkeit, eine unheimliche Stille nach einem Inferno von Gewalt und Brutalität. Nach dem Mord von Memphis brannten innerhalb von vier Tagen 110 amerikanische Städte, wurden 32 Menschen getötet, 2135 verwundet, 13 428 verhaftet, mußten 20 800 Bundessoldaten und 44 000 Nationalgardisten eingesetzt werden.
Vor dem Capitol zogen erstmals seit über 35 Jahren Soldaten auf. Polizisten riegelten das Weiße Haus ab. »Washington«, so entsetzte sich das US-Nachrichtenmagazin »Newsweek«, »glich der belagerten Hauptstadt einer Bananenrepublik.«
Die Schwarzen in den Straßen zündelten vor allem aus spontanem Protest gegen Kings gewaltsamen Tod - und zuweilen auch aus Freude am Spiel der Flammen. Sie zündelten nicht - noch nicht - für das politische Programm der »Black Power«-Bewegung.
Zwar rief Floyd McKissick, Chef des radikalen Kongresses für Rassengleichheit (CORE): »Diese Gewaltlosigkeit ist jetzt eine tote Philosophie.« Und sein Kollege Stokely Carmichael, Chefideologe der Schwarzen Macht, fuchtelte gar auf einer Gedenkfeier für King mit der Pistole.
Doch die Masse der amerikanischen Neger, von denen 55 Prozent immer noch im Süden leben, ist politisch unbedarft, an kleinen Freiheiten, nicht aber an Neger-Einheit interessiert.
Von 22 Millionen Schwarzen sind allerhöchstens zehn Prozent organisiert - mehr als die Hälfte davon in örtlichen Kirchenvereinen oder Sekten, die anderen zumeist in den konservativen Gruppen der Gemäßigten wie der NAACP (400 000 Mitglieder), der »National Urban League« (50 000 Mitglieder) oder Martin Luther Kings »Southern Christian Leadership Conference« (knapp 5000).
Nur eine - freilich militante - Minderheit trat jenen obskuren Organisationen bei, die den fast 180 Millionen US-Weißen den Kampf angesagt haben. Zu diesen Vereinen gehören
‣ das »Student Nonviolent Coordination Committee« (SNCC oder Snick), einst von Carmichael, jetzt von »Rap« Brown geführt;
‣ das »Revolutionary Action Movement« (RAM), dessen prochinesische Führer unter anderem aus Kuba zu den Waffen rufen;
‣ die »Five Percent«, so genannt, weil nach Meinung ihrer Führer »fünf Prozent aller Schwarzen Verräter sind, 90 Prozent Schafe und nur fünf Prozent Kämpfer, die zu allem entschlossen sind«;
‣ der »Congress of Racial Equality« (CORE) dessen etwa 100 000 Mitglieder seit dem vorigen Jahr gleicher als gleich sind: In die früher integrierte Organisation werden nur noch Neger aufgenommen. Auch die zündenden Parolen eines Carmichael ("Weißes Blut muß fließen") rissen die Schwarzen nicht aus ihrer Lethargie - nicht einmal nach dem Mord an King: Der Pastor war unter den Farbigen gerade wegen seiner Gewaltlosigkeit keineswegs unumstrittener Neger-Held. Black Power, so hatte er im vorigen heißen Sommer gewarnt, »ist eine nihilistische Philosophie, geboren aus der Überzeugung, daß der Neger nicht gewinnen kann«.
Die Nation, so hämmerte King seinen schwarzen Landsleuten immer wieder ein, »spielt russisches Roulette mit ihren Aufständen. Nicht eine einzige soziale Frage wurde durch Aufstände zufriedenstellend gelöst«.
King verwies auf die Statistiken: Danach verdienten beispielsweise 1956 erst zehn Prozent der Farbigen mehr als 7000 Dollar im Jahr, heute aber sind es 28 Prozent. Danach ist das Einkommen der Farbigen von 1960 bis 1967 um 24, das der Weißen aber nur um 14 Prozent gestiegen.
Doch Carmichael und seine Anhänger konterten gleichfalls mit Zahlen: Zwar verdienen 28 Prozent der Farbigen mehr als 7000 Dollar, bei den Weißen aber sind es 55 Prozent. Und: 40 Prozent der Farbigen werden offiziell als »arm« bezeichnet, das heißt: Ihr Einkommen liegt unter 3130 Dollar jährlich dem Existenzminimum für eine vierköpfige Familie.
Da »Black Power« trotz des King-Mordes nicht sogleich über die Ufer brach, hielt sich auch die Regierung noch zurück. Bei den Krawallen in der Hauptstadt mußten die Bundessoldaten deshalb ungeladene Gewehre tragen. Die Munition hing am Koppel, und in der Tasche trug jeder Soldat ein plastikversiegeltes Kärtchen mit dem Text: »Ich werde meine Waffe nicht laden oder abfeuern, außer wenn mir ein Offizier dazu persönlich den Befehl gibt.«