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Rußlands unbefleckte Generation

Von Jewgenij Jewtuschenko
aus DER SPIEGEL 6/1987

Unsere Gesellschaft leidet an vielen Krankheiten, die wir heute bekämpfen - der pathologische Wunsch nach Weltherrschaft aber gehört nicht dazu. Ihm bin ich selbst bei unseren Militärs nie begegnet, auch wenn einige von ihnen insgeheim einen solchen Wunsch hegen mögen, weil Krieg nun einmal eine Zeit rascher Beförderungen und meteorhafter Karrieren ist.

Wir haben viele Fehler gemacht und machen sie auch weiterhin. Wir befreien uns allmählich, ohne daß es uns schon ganz gelungen wäre, von der Last der Vorurteile, der Einschränkungen und des Mißtrauenskomplexes gegenüber unseren eigenen Bürgern sowie denen anderer Länder (häufig war er unsere Antwort auf den Mißtrauenskomplex uns gegenüber).

Auf alle Fälle aber entwickeln wir uns und entwachsen den engen Kleidern unserer Vergangenheit. Und wenn wir nicht in das ideologische Gewand schlüpfen wollen, das uns aus zweiter Hand dargeboten wird, so deshalb nicht, weil wir unseren eigenen Nationalstolz, unsere eigene Geschichte und keine geborgte Geschichte haben. Das hindert uns überhaupt nicht, unsere jungen Leute in westliche Jeans zu kleiden oder das Design von Pierre Cardin in unserer Bekleidungsindustrie zu verwenden.

Natürlich wollen die Männer von gestern nicht, daß sich unser Leben ändert, denn Bürokraten haben nun einmal keine Ideologie, sondern nur eine »Stühlchenmanie«. Dem Bürokraten geht es allein darum, daß ihm der Stuhl nicht entzogen wird, auf dem ersitzt.

Das russische Volk aber möchte nirgends mehr für irgendwelche Waren Schlange stehen müssen - Menschenschlangen sind die häßlichen Geister des Kriegs. Das russische Volk möchte ein Ende aller Versorgungsengpässe, denn angesichts der Bodenschätze, die wir besitzen, sind solche Engpässe unverzeihlich.

Das russische Volk möchte sich gut kleiden. Es möchte das Wohnungsproblem ein für allemal gelöst wissen (die Mieten für Staatswohnungen sind zwar die niedrigsten der Welt, unter Umständen aber muß man lange warten, bis man eine solche Wohnung bekommt). Das russische Volk wünscht sich genügend kostenlose Kindertagesstätten und Kindergärten für alle Kinder.

Überdies möchte das russische Volk nicht nach Anweisungen von oben leben, sondern nach seinen eigenen Vorstellungen. Es will kein amtlich inspiriertes pseudo-optimistisches Geschwafel von der Rednertribüne, sondern Worte in Verbindung mit Taten. Ebenso will es eine wahrhaftige Literatur, selbst wenn diese eine bittere Wahrheit zu berichten hat. Es will eine Literatur, welche die Menschenrechte verteidigt.

Das russische Volk will die Öffnung. Es will das verstärkte Recht auf eine persönliche Meinung, es will das Recht, jeden, ungeachtet seiner Position, zu kritisieren.

Das russische Volk möchte so viel wie möglich lesen, nicht nur seine eigenen Bücher, sondern auch solche aus dem Ausland. Es möchte die besten ausländischen Filme sehen und die beste ausländische Musik hören. Von jeher hatten die Russen großes Interesse an westlicher Kultur und die Fähigkeit, sie kreativ zu verarbeiten. Sie möchten aber auch, daß der Westen seine Verlage und seine Kinos unseren Büchern und unseren Filmen öffnet, weil wir auf diesem Gebiet etwas besitzen, auf das wir stolz sein können, vor allem jetzt.

Das russische Volk möchte, daß diejenigen, die das Land für immer verlassen wollen, ausreisen dürfen und daß diejenigen, die erkennen, daß sie einen Fehler gemacht haben und zurückkehren wollen, tatsächlich auch zurückkehren dürfen, wenn sie ein reines Gewissen haben.

Die Mehrheit der Russen jedoch möchte nur ins Ausland reisen, um dann wieder zurückzukommen. Einen Massenexodus wird es nie geben, selbst wenn alle Grenzen geöffnet würden. Die Russen sind ein Volk, das seine Heimat liebt, und sie neigen vielleicht mehr zu Heimweh als jede andere Nation.

Das russische Volk möchte ausländische Gäste empfangen und so oft wie möglich ins Ausland reisen, um dann die neuesten Ideen der Technik und der Lebensweise mit nach Hause zu bringen - eine Eigenschaft, die schon unseren großen Vorfahren, den Zaren Peter, auszeichnete.

Das Fenster, das er nach Europa öffnete, ist oft auf beiden Seiten verbarrikadiert worden. Das russische Volk aber möchte, daß dieses Fenster für alle geöffnet ist. Auch wir haben in unserem Land etwas zu zeigen.

Sehr oft wird in der westlichen Presse das gesamte sowjetische Volk mit dem Gulag identifiziert. Dieses Pauschalurteil gibt unserem ganzen 280-Millionen-Volk die Schuld an den Verbrechen, die während der Stalin-Ära an unschuldigen Menschen verübt wurden. Gleichzeitig trägt es mit dazu bei, die künstlich erzeugte Angst zu schüren, die durch das Wort »Sowjets« ausgelöst wird. Angst aber schafft Mißtrauen, Mißtrauen schafft Raketen, und Raketen wiederum schaffen Mißtrauen. Es ist ein wahrer Teufelskreis.

Es gibt einen extremen Standpunkt, der in einigen Werken der neuen Emigrantenliteratur zum Ausdruck kommt: »Alle, die während der Stalin-Ära nicht eingesperrt waren, müssen unehrenhaft gewesen sein.« Wenn dem so wäre, müßten wir dann nicht auch Anna Achmatowa, Pasternak, Bulgakow, Soschtschenko und Platonow als unehrenhaft abqualifizieren, nur weil sie nicht eingesperrt waren?

Haben nicht gerade diese Schriftsteller und viele andere Intellektuelle die heilige Flamme des Gewissens unserer Nation genährt, indem sie sie mit halbverbrannten Händen vor allen Stürmen jener Epoche schützten?

Die Geheimdienstchefs Jeschow und Jagoda, die seinerzeit die Verhaftungen vorgenommen hatten, wurden später selbst verhaftet, ebenso viele Ermittlungsbeamte, welche die grausamen Verhöre durchgeführt hatten.

Vor nicht langer Zeit veröffentlichte die Zeitschrift »Sowjetische Kultur« Bitten von Lesern, Michail Tuchatschewski und anderen Opfern des Personenkults Denkmäler zu errichten. Diese Idee unterstütze ich voll und ganz. Wir sollten allen, die unschuldig ums Leben kamen, Hochachtung bezeigen und jene nicht vergessen, die für ihren Tod verantwortlich waren.

Heute besteht über die Hälfte der Bevölkerung unseres Landes aus Menschen, die zur Zeit jener tragischen Ereignisse entweder Kinder waren oder gar erst nach 1953 geboren wurden. Sie können mithin einfach nicht »unehrenhaft« oder »befleckt« sein. Kann man auf diese Generationen etwa den schwarzen

Schatten der Verantwortung für den Gulag werfen? Das ist doch schlicht unmöglich.

Ohne zweifelhafte historische Parallelen ziehen zu wollen, möchte ich nur eines zu bedenken geben. Wir machen doch auch jene Deutschen, die nach 1945 geboren sind, nicht für Maidanek oder Auschwitz verantwortlich. Waren jene jungen Deutschen, welche die Schäden behoben, die durch die Bomben ihrer Väter und Großväter an der Westminster Abbey entstanden waren, etwa schuld an dieser Zerstörung? Sie selbst jedoch übernahmen einen Teil der moralischen Verantwortung für die Vergangenheit, und das macht sie sogar noch weniger schuldig.

Die unbefleckte Generation steigt jetzt in viele führende Positionen auf. Das ist ein großer psychologischer, meines Erachtens sogar politischer Faktor.

Viele ehemalige Militärs haben unsere Regierung gebeten, den früheren, kraftvoll klingenden Namen »Stalingrad« der Stadt Wolgograd zurückzugeben. Ich glaube aber, daß die von der Namenhypnose unbefleckte Generation die richtige Entscheidung getroffen hat, die Stadt nicht umzubenennen, weil das als Rückschritt in die Vergangenheit verstanden werden würde.

Andererseits ist die Wiedereinführung der früheren historischen Namen vieler unserer Städte ein gesundes Zeichen eines unbefleckten Denkens.

Ehrlich und offen wurde zum Beispiel zugegeben, daß Tschernobyl ein tragischer Fehler war. Früher wäre ein solches Unglück als »feindliche Sabotage« interpretiert worden. Stalin hat einmal gesagt, Lenin habe eine Eigenschaft besessen, ohne die es unmöglich sei, ein wahrer Revolutionär zu sein: den Mut, seine Fehler rechtzeitig einzugestehen. Stalin selbst jedoch folgte Lenins Beispiel nicht.

Typisches Merkmal der neuen Denkweise ist die Aufgeschlossenheit für andere Ansichten. Wenn heute ängstliche Redakteure die alte Praxis anwenden, kontroverse Artikel oder literarische Arbeiten »nach oben« zu schicken, erhalten sie für gewöhnlich die Antwort: »Entscheidet selbst. Dafür sitzt Ihr doch an Euren Schreibtischen- um zu entscheiden.« Einige können sich einfach nicht daran gewöhnen, sie haben Angst vor Demokratie.

Wie aber steht es mit der Jugend, mit den 16- bis 20jährigen, den Jüngsten der unbefleckten Generation? Die sind natürlich ganz anders. Es gibt einige Zyniker, ebenso einige Skeptiker, auch einige potentielle Bürokraten, die selbst in der Schule schon ein staatsmännisches Imponiergehabe zur Schau tragen.

Die jungen Leute sind pragmatischer als unsere Generation, sie besitzen mehr Logik als Idealismus. Andererseits aber sind sie nicht von dem fanatischen Idealismus durchdrungen, der in dogmatische Engstirnigkeit entarten kann. Sie alle zeichnet ein sehr wichtiges Merkmal aus: die Abscheu gegenüber Falschheit und leerem Gerede. Sie sind einfach allergisch gegen dummes Geschwätz.

Endlich sind unsere Fernsehanstalten doch dazu übergegangen, Live-Interviews auszustrahlen. In den Jugendsendungen haben mich viele ganz junge Menschen durch die Kühnheit und Schärfe ihres Urteils überrascht.

Sie lehnen es ab, von den Erwachsenen mit moralisierenden Lehren vollgestopft zu werden. Sie wollen den Dingen durch eigenes Nachdenken auf den Grund gehen. Mitunter wissen sie nicht genug in der Geschichte Bescheid. Aber ist das ihre Schuld, ist es nicht unsere?

Die heutige Jugend erwirbt weit bessere Fremdsprachenkenntnisse als unsere Generation. Es gab eine Zeit, wo wir nicht einmal die geringste Hoffnung hatten, daß eine Fremdsprache sich als nützlich erweisen könnte. Wir waren die Kinder des Kalten Krieges. Heute dagegen ist es keineswegs ungewöhnlich, in der Metro einen russischen Teenager zu sehen, der ein englisches oder französisches Buch im Original liest. Zu unserer Zeit hätte man deswegen in Verdacht geraten können.

Die heutige Jugend erlernt die Computertechnik im Handumdrehen. Unsere Generation dagegen wuchs zu einer Zeit auf, als im Wörterbuch der Bürokratie die Kybernetik noch als bourgeoise Pseudowissenschaft bezeichnet wurde. Auch mit dem neuesten westlichen Jazz und Rock ist diese Jugend bestens vertraut. Unsere Generation dagegen tanzte in den 40er und 50er Jahren zu den Klängen des Foxtrotts »Rio Rita« der 30er Jahre. Zugegeben, in ihrem Alter wußten wir besser über Literatur Bescheid als sie, aber schließlich sind sie Kinder des Fernsehens.

In unserer Jugend waren die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen nicht ganz normal - Folge des nach Geschlechtern getrennten Schulwesens. Zu meiner Schulzeit galt es als ungehörig, mit einem Mädchen befreundet zu sein. In der heutigen Generation sind die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen einfach und freundschaftlich. Die jungen Menschen fangen etwa fünf Jahre früher an als wir, sich zu küssen.

Unsere Jugendlichen lieben ihr Land, fühlen sich aber durch erhabene Phrasen über diese Vaterlandsliebe peinlich berührt - und das zu Recht. Mit Nationalismus haben sie nichts im Sinn. Sie wollen die übrige Welt kennenlernen und haben in Gesprächen mit mir häufig beklagt, daß es bei uns kaum einen Schüleraustausch mit anderen Ländern gibt. Sie möchten mit ihren Altersgenossen in Europa und Amerika Freundschaft schließen. Den Umgang mit Ausländern scheuen sie nicht.

Die heutigen Schulabgänger interessieren sich mehr für Geisteswissenschaften als für naturwissenschaftliche oder technische Dinge. Ihr Lieblingssänger ist nicht Michael Jackson, sondern Wladimir Wyssozki, der so früh starb. Sie streuen Blumen auf sein Grab und singen seine Lieder zur Gitarre, wobei sie ihn mit einem komisch klingenden Krächzen ihrer jungen Stimmen imitieren. Sie lieben seine Unabhängigkeit, seinen freien Geist, der in keinen Rahmen gepreßt werden konnte. Deshalb verzeihe ich ihnen, daß ihnen Wyssozki in ihrem Entwicklungsstadium vielleicht mehr bedeutet als Puschkin.

Im Gegensatz zu unserer Generation, die nur Ski-Langlauf machte, betreiben viele der heutigen Generation Skisport im Gebirge, der gefährlicher und schöner ist. Unser Hauptsport war Fußball, mitunter sogar nur mit Lumpenbällen. Heute lernen immer mehr Jugendliche schon früh, Tennis zu spielen.

In den Ferien gehen diese jungen Menschen auf den Bau, um Geld zu verdienen. Wir dagegen machten so etwas zuweilen unentgeltlich. Die heutigen Jugendlichen reisen gern ohne ihre Eltern. Sie lieben es, mit Kanu oder Floß entlegene gefährliche Flüsse zu befahren oder hohe Berge zu besteigen.

Sie kopieren philosophische Bücher über den Buddhismus und praktizieren Yoga. Die Mehrheit dieser jungen Leute ist ehrlich in Wort und Tat, gegenüber älteren Menschen ziemlich unhöflich, doch nicht unterwürfig. Mir scheint, daß sie eine Welt ohne Rüstung doch erleben werden - vielleicht in der Blüte ihres Lebens, vielleicht erst im Alter. Ich hoffe, daß diese Generation für eine solche Welt geistig und intellektuell gerüstet sein wird, weit besser als wir es heute sind. Dafür aber muß sie vermeiden, ihre Unbeflecktheit zu beflecken.

In dem hervorragenden Roman des kirgisischen Autors Tschingis Aitmatow »Ein Tag länger als ein Leben« wird eine Legende erzählt, daß asiatische Eroberer früherer Zeiten die Köpfe von Besiegten in die Haut eines frisch abgezogenen Kamels einhüllten.

Das Opfer wurde dann in der Wüste der Sonne ausgesetzt. Nach und nach schrumpfte die Haut des Kamels und straffte sich um das Gehirn wie ein glühend heißes Band, welches das Erinnerungsvermögen auslöschte. Die Menschen ohne Gedächtnis verloren ihren Mut, ihren Stolz, ihr Nationalgefühl und wurden zu stummen Sklaven oder »Mankurts«.

In der Vergangenheit war der Kopf unserer Kunstbewegung ebenfalls in die Kamelhaut allgemein verbindlicher Theorien gehüllt. Nehmen wir etwa die berühmt-berüchtigte Theorie der »Konfliktlosigkeit« aus der Stalin-Ära. Nach dieser Theorie durfte es in der sozialistischen Kunst keine Konflikte zwischen Gut und Böse geben, sondern nur einen Konflikt zwischen dem Guten und dem Besseren. Die offeielle Kunst, die mit Stalinpreisen ausgezeichnet wurde, entfernte sich auf gefährliche Art und Weise von der Realität.

In den Dörfern herrschte Hungersnot. Abgemagerte Kühe mußten an den Dachsparren der Kuhställe festgebunden werden, damit sie nicht umfielen, während Lustspielfilme mit sentimental-glücklichen Kosaken in den Kinos liefen.

Wir aber sind keine stummen Mankurt-Sklaven geworden, haben weder unser Gedächtnis noch unser Bewußtsein verloren. Die besten Vertreter unserer Kunst verteidigten weiterhin das Recht unserer Gesellschaft auf Wahrheit und Transparenz, obwohl sie Beleidigungen und Angriffen ausgesetzt waren, die sie in Lebensgefahr brachten.

Der erste historische Durchbruch in der Kunst kam nach dem Tode Stalins und nach dem 20. Parteitag, der die tragischen Folgen des Personenkults enthüllte. Aber die abgestorbene Hand der Vergangenheit streckte sich aus dem Grabe, griff nach den Beinen unserer Kunst und versuchte, ihre Entwicklung aufzuhalten. So wurde zum Beispiel Wladimir Dudinzews Roman »Nicht vom Brot allein«, der die Bürokratie und die Stagnation in allen Bereichen des Denkens anprangerte, von denjenigen, gegen die sich die Kritik richtete, rücksichtslos angegriffen.

Die Transparenz in der Gesellschaft, in der Presse, in der Kunst, die jetzt eingeführt wird, war nicht ein Geschenk der Götter. Wir haben dafür jahrelang gekämpft, manchmal gewannen wir Boden, manchmal verloren wir Boden, manchmal verschanzten wir uns, aber dann gingen wir aus dem Belagerungszustand zur Offensive über.

Einige ermüdeten und erklommen die gastfreundliche Strickleiter, die ausländische Hubschrauber herunterließen. Aber diejenigen, die an den endlichen Triumph glaubten, räumten das Schlachtfeld nicht, weil ihnen bewußt war, daß nicht in Paris oder New York das Schicksal des Landes und seiner Kunst entschieden werde, sondern auf ihrem eigenen Boden.

In dem Kampf für mehr Öffentlichkeit und Transparenz gab es zwei Standpunkte: »Streue kein Salz in offene Wunden«; das ist feige und kosmetischer Natur, denn unbehandelte Wunden eitern weiter unter dem Schorf, und: »Streue keinen Zucker in Wunden.« Das heißt, die Kunst solle wie die chinesische Medizin nicht davor zurückschrecken, in die wundesten Punkte, in die Nervenzentren der Gesellschaft, Nadeln einzuführen.

Nach langen Kämpfen hat sich nun der zweite Standpunkt in unserem gesellschaftlichen Leben durchgesetzt, weil wir begriffen haben, wie gefährlich Kosmetik sowohl für die intellektuelle als auch die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft ist.

Was sich zur Zeit in der sowjetischen Kunst vollzieht, möchte ich als »Vorrenaissance« definieren. Zum ersten Mal, soweit ich zurückdenken kann, wurden vorher nicht abgesprochene Wahlen im Verband der Filmschaffenden und im Schriftstellerverband durchgeführt, wobei die meisten Redner die bürokratische Einmischung in die Kunst aufs heftigste kritisierten und das Recht des Künstlers auf selbständiges Denken verteidigten.

Viele frühere »Rebellen« wurden an die Spitze dieser kreativen Verbände gewählt. Wir haben das Recht erstritten, in unseren eigenen Berufskreisen über das Schicksal von Kunstwerken zu entscheiden.

Nach der Wahl setzte der Verband der Filmschaffenden alsbald eine Kommission ein, die alle früher verbotenen oder archivierten Filme überprüfen sollte, mit dem Ergebnis, daß zehn Filme freigegeben wurden. Meiner Meinung nach ist einer davon, »Die Beichte«, von dem georgischen Regisseur Tengis Abuladse, ein Meisterwerk nicht nur nach sowjetischen, sondern auch nach internationalen Maßstäben und hätte auf jedem Filmfestival Anspruch auf einen Preis.

Mit dem Porträt des Bürgermeisters einer Provinzstadt bietet dieser Film ein verallgemeinerndes Bild vieler Tyrannen, einschließlich Berijas, des Geheimpolizei-Chefs unter Stalin. Das Hauptthema dieses Films ist der Minderwertigkeitskomplex, der sich durch Erniedrigung und sogar Venichtung der Begabteren selbst bestätigen möchte.

Der Film beginnt mit dem prächtigen Begräbnis des früheren Bürgermeisters, worauf irgendeine unbekannte Person die Leiche ausgräbt und sie zum Hause des Sohnes des Bürgermeisters bringt. Das passiert mehrmals. Der mysteriöse Totengräber wird aus dem Hinterhalt angegriffen, und es stellt sich heraus, daß es eine Intellektuelle ist, die sich mit einer Arbeiterjacke getarnt hat.

Vor Gericht rechtfertigt die Frau ihre Handlung damit, Leute wie der Bürgermeister hätten es nicht verdient, in der Erde zu liegen. Sie berichtet über ihre Kindheit, wobei wir als Zuschauer miterleben, wie der Bürgermeister eine Terrorkampagne in der ihm anvertrauten Stadt veranstaltet. Viele rechtschaffeneLeute werden als Feinde des Volkes verhaftet, so auch der Vater der Frau.

Ein Mann, den man durch Folterungen um seinen Verstand gebracht hat, gibt zu, er habe an einem absurden Komplott teilgenommen, um einen Tunnel von Bombay nach Moskau zu graben. Frauen in Schwarz streifen zwischen dem verladenen Bauholz auf dem Bahnhof umher und suchen nach den Namen ihrer Männer, Söhne und Brüder, die in die Rinde geritzt sind. Eine Kirche aus dem sechsten Jahrhundert, in der dieser Bürgermeister ein Atomlabor eingerichtet hat, fliegt in die Luft.

Das berichtet die Frau dem Gericht, das sie für geisteskrank erklärt. Der junge Enkel, den die Entlarvung seines geliebten Großvaters quält, erschießt sich. Der Vater verflucht seinen Vater als den Mann, der für all ihr Unglück verantwortlich ist, gräbt die Leiche aus und wirft sie einen Steilhang hinunter: Solche Leute seien nicht wert, unter der Erde zu liegen.

Die Symbolkraft des Films liegt darin, daß er weder an eine bestimmte historische Zeit noch an einen geographischen Ort gebunden ist. Der Bürgermeister mustert voller Arroganz die aus der Erde herausragenden Köpfe der Menschen, die auf seinen Befehl lebendig begraben wurden, und singt dazu Arien aus italienischen Opern. Er fährt durch die leeren Straßen der Stadt in einem Mercedes aus der Nazizeit, eskortiert von Reitern in mittelalterlicher Rüstung. Die Richter tragen viktorianische Perücken und moderne Milizionäre die Uniformen der zaristischen Polizei.

Der Film hat eine sehr mächtige moderne Aussage, und daß er von Georgiern gedreht wurde, sei zu ihrer Ehre gesagt. Die symbolischen Anspielungen ermöglichen es den Italienern, in dem Bürgermeister die Züge eines Mussolini zu erblicken, und den Lateinamerikanern, die, sagen wir, von Pinochet zu erkennen.

Daß der Film für die Öffentlichkeit freigegeben wurde, ist eine Garantie daß sich so tragische Fehler in einer Gesellschaft nie wiederholen werden, die sich nicht scheut, darüber zu sprechen. Noch vor zwei Jahren wäre eine öffentliche Aufführung unvorstellbar gewesen.

Viele leitende Positionen sind heute von einer neuen Generation besetzt, die mit den Tragödien der Vergangenheit nicht belastet ist. Sie haben keine persönlichen Schuldkomplexe wegen des Blutvergießens. Ihnen ist bewußt, daß sich die Gesellschaft ohne Wahrheit nicht entwickeln kann. Das ist ein Zeichen der bevorstehenden Reife unserer Gesellschaft, ihrer großartigen Aussichten unter den Bedingungen der Transparenz und Demokratie.

Ein weiterer sensationeller Film ist Wadim Abdraschitows »Pljubum oder Gefährliche Spiele«. Er handelt von einem Teenager, welcher der Miliz hilft, Kriminelle zu fangen, so etwas wie ein freiwilliger Detektiv.

Eine opportunistische Interpretation dieses Themas würde aus dem Jungen einen Helden und ein Vorbild gemacht haben, dem man nacheifern sollte. Aber der Titel »Gefährliche Spiele« ist kein Zufall. Da der Junge für die Verantwortung

noch zu jung ist, beginnt er, seine Autorität zu mißbrauchen. Er wird ein gefährlicher kleiner Superman.

Das sind Anzeichen für einen Schritt nach vorn in unserer Kunst und unserer Gesellschaft insgesamt auf dem Wege der freien Meinungsäußerung, ohne Einschränkung durch Kamelfelle, unter denen die Köpfe schrumpfen.

Die Aufführung des Stückes »Sprich« am Jermolowa-Theater läuft ungefähr eine halbe Stunde länger, weil das Publikum die Spieler an gesellschaftskritischen Stellen durch anhaltenden Applaus unterbricht. In der Schlußszene verliest eine ältere Kolchosbäuerin eine Rede mit vielen aufgebauschten Zahlen über die Ernteergebnisse, die jemand für sie geschrieben hat. Sie wird von dem Bezirksparteisekretär unterbrochen, einem Mann der neuen Denkschule. »Versuch es ohne dein Stückchen Papier. Sag es mit deinen eigenen Worten... sprich...« Die Frau ist ganz verlegen, denn ihr war eingetrichtert worden, nur die Worte anderer Leute nachzukauen. Hinter ihr erheben sich die Schatten der Toten, ihre Mitbewohner aus dem Dorfe, ihre Kinder, und sie alle flüstern ihr zu: »Sprich ... sprich ...« Die Frau ringt nach Worten, aber sie kommen ihr nicht über die Lippen, Tränen rollen über die runzligen Wangen.

Das Stück »Diktatur des Gewissens« am Komsomol-Theater wird zu einem spontanen Dialog zwischen den Schauspielern und den Zuschauern über die entscheidenden Themen der modernen Zeit - Dogmatismus, Bürokratie und die wahre revolutionäre Haltung, die nichts zu tun hat mit Grausamkeit gegen die »einfachen« Leute, für die einmal die Revolution gemacht wurde.

Die herausragende literarische Sensation ist ein neuer Roman von Tschingis Aitmatow ("Schafott"), der erstmals in unserer Literatur das frühere Tabu der Drogenabhängigkeit aufgreift. In dem Roman geht es um den Konflikt zwischen dem Intellektuellen und dem Ungeistigen. Von dem äußeren Handlungsrahmen eines Kriminalromans geht die Geschichte zurück bis in die ersten Tage des Christentums, vertieft sich in das Leben der Wölfe und kehrt zu einem zeitgenössischen Ebenbild von Jesus Christus zurück, der an einem vertrockneten Baum in der Wüste von Banditen gekreuzigt wird.

Gleich nach Erscheinen des Romans in einer Zeitschrift wurde er wegen »Flirtens mit religiösen Symbolen« kritisiert. Ein Verbot der Weiterveröffentlichung folgte, aber Fortsetzungen erschienen und wurden weit und breit diskutiert, sowohl positiv wie negativ.

Frühere Versuche, die öffentliche Meinung auf einen einzigen Typ festzulegen, werden nach und nach aufgegeben zugunsten eines Meinungspluralismus. In unserem größten Jugendmagazin »Junost« (3,5 Millionen Auflage) veröffentlichte Andrej Wosnessenski ein herzergreifendes Gedicht, »Der Graben«, über Plünderer unserer Tage: Sie rauben die Zahngoldkronen aus den Schädeln von Opfern des Faschismus in Massengräbern bei Simferopol.

Die November-Ausgabe von »Snamja« veröffentlichte Gedichte von Wladimir Kornilow, der vor zehn Jahren aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde und - statt zu emigrieren - geduldig auf den Wandel wartete, der nun endlich eingesetzt hat.

Die weitverbreitete sowjetische Illustrierte »Ogonjok« übernahm der ukrainische Dichter Witalij Korotitsch, ein Mann der Generation nach Stalin; eine seiner ersten Taten war die Veröffentlichung eines Artikels unseres neuen Ersten Sekretärs des Schriftstellerverbandes, Wladimir Karpow, der den Dichter Nikolai Gumiljow literarisch rehabilitierte. Gumiljow war 1921 wegen Teilnahme an einer konterrevolutionären Verschwörung erschossen worden.

»Nowy mir«, unser tonangebendes Intellektuellen-Magazin, wird erstmals von einem parteilosen Schriftsteller, Sergej Salygin, geleitet. Mutig trat er mit anderen Schriftstellern dem gefährlichen Plan entgegen, die nördlichen Flüsse Sibiriens nach Süden umzuleiten. Die Entscheidung der Regierung, dieses Projekt trotz der bereits getätigten hohen Investitionen zu stoppen, ist in der Geschichte beispiellos.

Die Zeitschrift »Moskwa« hat die bevorstehende Veröffentlichung von Michail Bulgakows Werk »Hundeherz« angekündigt, das linientreue Kritiker als eine Schmähschrift gegen den Sozialismus betrachteten.

Der Bestsellerautor Anatolij Rybakow markierte seinen 75. Geburtstag mit einer großen kreativen Leistung. Er schloß die 20jährige Arbeit an einem riesigen gesellschaftshistorischen Roman ("Kinder des Arbat") über das Moskau der 30er Jahre ab. Ich halte es für das lebendigste Porträt Stalins, da es weder aus blindem Haß noch aus blinder Liebe gezeichnet wurde, sondern mit der Kraft eines Shakespeare. Dieser Roman wird ein riesiges unbekanntes Gebiet unserer Geschichte erschließen.

Ein Prosaschriftsteller meiner Generation, Anatolij Pristawkin, hat eine lyrische Kurzgeschichte geschrieben, »Ein goldenes Wölkchen blieb über Nacht«, die man nicht ohne zu weinen lesen kann: über die ungerechte Deportation der kaukasischen Völker der Tschetschenen und Inguschen während des Kriegs, über die Grausamkeit der gegenseitigen Rache und die zärtliche Freundschaft zwischen russischen und tschetschenischen Waisen mitten im sinnlosen Blutvergießen.

Somit wird das Jahr 1987 für unsere Kunst vielversprechend. Wenn die allgemeine Entwicklung der Demokratie und Transparenz so fortschreitet wie jetzt, dürfte aus der Vorrenaissance unserer Kunst eine Renaissance werden.

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1945 auf der Potsdamer Konferenz.

Jewtuschenko/New York Times News Service.

J. Jewtuschenko

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