Sozialstaat Rutsche nach unten
Von allen Seiten bedrängt - so fühlt sich Arbeitsminister Norbert Blüm am wohlsten.
Die letzten Tage vor der Sommerpause war es mal wieder so weit. Die Sparpläne des CDU-Mannes bei der Arbeitslosenhilfe ließen sich kaum in Umrissen erkennen, da droschen SPD, Gewerkschaften und sogar ein versprengtes Fähnlein von der CDU-Linken schon auf ihn ein. »Ich bin in einer Abwehrschlacht«, ächzte Kämpe Blüm lustvoll.
Er meint das ganz anders, als es ankommt. Blüm sieht sich nicht als Sparvogt, der mit harter Hand die Begehrlichkeit der Nutznießer des Sozialstaats zügelt. Seine Abwehrschlacht führt der Arbeitsminister gegen hartgesottene Arbeitgeber, gesellschaftspolitische Reaktionäre in FDP und CDU/CSU und gegen Theo Waigel.
Als gelungen preist Blüm seine Taktik, auf Druck zum Abbau des Sozialstaats biegsam zu reagieren, um Schlimmeres zu verhüten. Seit Jahren zieht er nach jeder Attacke Bilanz. Stets kommt er zu dem Ergebnis, das Bestmögliche erreicht zu haben.
Genauso positiv schnitt in der vergangenen Woche auch Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) ab - ebenfalls nach eigener Einschätzung. »Mindestens 2,2 Milliarden Mark« will er den Gemeinden bei der Sozialhilfe ersparen, ohne rigorosen Sozialabbau, verspricht der Minister.
Wohlfahrtsverbände, Kommunen und vor allem die SPD sehen das zwar ganz anders. Doch der reformerprobte Gesundheitsminister führt ebenfalls vernünftige sozialpolitische Argumente an.
Seehofer will vor allem die jährlichen Zuwächse der Sozialhilferegelsätze auf den Anstieg der Nettoeinkommen der Arbeitnehmer begrenzen. Damit werde das Bedarfsdeckungsprinzip der Sozialhilfe durchbrochen, klagt Klaus Dörrie, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
Doch solche Kritik macht es sich zu leicht. Armut ist eine relative Größe. Mit steigendem Wohlstand einer Gesellschaft muß auch das Sozialhilfeniveau steigen. Wenn andererseits die Nettoeinkommenszuwächse der Arbeitnehmer unterhalb der Teuerungsrate liegen, muß das auch auf die Sozialhilfe durchschlagen.
Auch Seehofers Vorschlag, Sozialhilfeempfängern die Bezüge um 25 Prozent zu kürzen, wenn sie »zumutbare Arbeit« verweigern, bleibt unterhalb der Schmerzgrenze. Gekoppelt ist diese Zwangsmaßnahme, die auch nach geltendem Recht schon möglich ist, mit Eingliederungshilfen für arbeitslose Sozialhilfebezieher.
Gegen das Prinzip »Arbeit vor Sozialhilfe« hat selbst Ursula Engelen-Kefer, DGB-Vize, wenig einzuwenden. Sie nimmt allerdings Anstoß, daß die Gemeinde, nicht der Bund die Kosten der Eingliederung zu tragen habe.
Offen ist, ob Seehofer nur tariflich bezahlte, sozialversicherungspflichtige Arbeit als »zumutbar« verstanden wissen will. Wäre das anders, drohte dem Sozialstaat tatsächlich Gefahr. Leicht könnten Sozialhilfeempfänger, die jeden Job annehmen müssen, als Lohndrücker tariflich bezahlte Ungelernte von ihren Posten verdrängen.
Auf den Vorwurf, mit seiner Konkretisierung des Lohnabstandsgebots wolle er die Regelsätze drücken, kann Seehofer kontern: In den alten Ländern, so seine Modellrechnung, werde das Einkommen der Familien mit drei Kindern nach Erhöhung von Kindergeld, Wohngeld und der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums um 16,3 Prozent über der Sozialhilfe liegen. Das Abstandsgebot - 15 Prozent zwischen Familieneinkommen und Sozialhilfesatz - werde also nicht durch Kürzungen bei den Regelsätzen, sondern vor allem durch eine Erhöhung des Familienleistungsausgleichs eingehalten.
Soziale Grausamkeiten konnten Seehofer und Blüm bislang vermeiden. Doch der Druck auf die Fürsorgeempfänger wächst. Mit ihrem Sparprogramm bestätigen die Regierenden das Urteil der braven Bürger vom schönen faulen Leben in der sozialen Hängematte.
Statt, wie vollmundig angekündigt, den Sozialstaat umzubauen, liefert die Kohl-Regierung nur Sparstückwerk. Zoll um Zoll gerät dabei die Sozialpolitik auf die schiefe Ebene.
Norbert Blüm, der Herold der planmäßigen Umkonstruktion des Sozialstaats, flüchtet sich unter dem Spardiktat Theo Waigels in planlose punktuelle Operationen, die hier ein paar Millionen bringen und dort eine halbe Milliarde verschieben.
»Das Gefährliche dabei ist«, sorgt sich Wilhelm Adamy, für den DGB in der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit, »Blüm läßt es zu, die Arbeitsmarktpolitik zur Entlastung des Bundeshaushaltes zu instrumentalisieren.«
Das ist nicht alles. Staatsaufgaben werden der Arbeitslosen- und Rentenversicherung aufgepfropft, die Lohnnebenkosten auf hohem Niveau gehalten.
Blüms Kollege Seehofer versprach zwar, »wir machen keinen Verschiebebahnhof«, aber genau das ist nun sein Konzept. Seehofers Sozialhilfereform etwa setzt darauf, daß die Gemeinden mit Lohnkostenzuschüssen Sozialhilfeempfänger wenigstens für ein halbes Jahr in Lohn und Brot bringen. Ist das geschafft und werden sie dann wieder arbeitslos, sind die ehemaligen Sozialhilfeklienten Kunden der Nürnberger Bundesanstalt, die Kosten zahlen die Beitragszahler.
Der Kniff, Staatsaufgaben den Sozialversicherungen zuzuschieben, hat inzwischen auch schon deutliche Spuren in der Statistik hinterlassen. Der mit Beiträgen finanzierte Anteil des Sozialbudgets stieg von 1980 bis 1993 von 61,8 Prozent auf 63,9 Prozent, der Anteil der steuerfinanzierten Mittel ging von 36,1 Prozent auf 33,9 Prozent zurück.
Richtig schlagkräftig wird die Beweisführung über den unbezahlbaren Sozialstaat durch die Behauptung massenhaften Mißbrauchs. Auch dafür lassen sich Blüm und Seehofer einspannen. Die Novellierung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe haben, so maßvoll das Recht auch verändert wird, eine neue Qualität: Die Empfänger staatlicher Fürsorge sollen stärker auf ihre »Arbeitswilligkeit getestet werden« (Blüm). Das Vorurteil der Faulheit kriegt einen quasi amtlichen Stempel.
»Ich muß verhindern, daß jemand sich häuslich in der Arbeitslosenhilfe einrichtet«, begründet Blüm seine Sparaktion. Doch so häuslich ist es dort für die meisten ohnehin nicht. Durchschnittlich müssen die West-Arbeitslosen mit 1008 Mark pro Monat auskommen, die im Osten mit 782 Mark. Im Westen ist die Kaufkraft der Arbeitslosenhilfe nominal von 1993 auf 1994 um 6,1 Prozent gesunken.
700 Millionen Mark Arbeitslosenhilfe soll Finanzminister Waigel künftig einsparen, weil Blüm den Anteil von Langzeitarbeitslosen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) erhöhen will. Und die werden von der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit - und damit von den Versicherten - finanziert.
Der ABM-Etat der Nürnberger Anstalt wird jedoch deshalb nicht aufgestockt. Also fehlen die Mittel, mit denen Blüm Waigel entlastet, denen, die sie bisher bekommen haben.
400 Millionen Mark will Blüm dem Finanzminister einsparen, indem er die Bemessungsgrenze für die Arbeitslosenhilfe alle drei Jahre absenkt. Grund: Die Qualifikation der Langzeitarbeitslosen sinke mit der Dauer ihrer Verbannung aus dem Arbeitsleben; die Arbeitslosenhilfe müsse sich daran orientieren, in welche Positionen sie überhaupt noch zu vermitteln seien.
Dem Aufschrei der Empörung begegnete Blüm mit dem Argument, das alles stehe seit Jahren im Gesetz. Theoretisch richtig, nur wurde es nicht praktiziert. Die Arbeitsämter sehen keine Chance, individuell abzuschätzen, welche Chancen ein Arbeitsloser am Markt hat.
Jetzt soll die Bemessungsgrundlage einfach alle drei Jahre ohne Rücksicht auf individuelle Fähigkeiten oder Probleme um fünf Prozent gesenkt werden. Doch jede Absenkung muß mit einem Vermittlungsversuch auf dem vorherigen Niveau verbunden sein. Die Rutsche nach unten endet auf dem niedrigsten Tarif.
Der Arbeitsminister begründet diese Rigorosität allein damit, den Arbeitswilligen die »Rückkehr in den Arbeitsmarkt« zu bahnen. Doch wenn Facharbeiter nach langer Erwerbslosigkeit gezwungen werden, Arbeit für Ungelernte anzunehmen, erhöhen sich ihre Chancen nur minimal. Es steigt ja nur die Zahl der Bewerber, nicht das Angebot an Stellen für Ungelernte (siehe Kasten Seite 31).
Nach gleichem Muster lassen sich fast alle neuen Maßnahmen einordnen: Wenn die Arbeitslosenhilfe für über 60jährige entfällt, spart Waigel 300 Millionen - die Rentenversicherung bezahlt sie. Und die Verlagerung der Fahrgelderstattung für Schwerbehinderte im öffentlichen Personenverkehr heißt: Der Finanzminister spart 300 Millionen, die Länder werden belastet.
Ein Sonderfall ist der geplante Wegfall der »originären« Arbeitslosenhilfe. Dieser Einschnitt bringt Waigel immerhin 600 Millionen Mark pro Jahr.
Anspruch auf diese Unterstützung haben im wesentlichen Zeitsoldaten und Referendare, die nach Ablauf ihrer Dienstzeit oder ihrer Ausbildung keine Arbeit finden. Begünstigt sind aber auch Studenten, die weniger als 150 Tage Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben. Die Hilfe ist ohnehin auf ein Jahr begrenzt.
Doch selbst diese Kürzung ist keine echte Ersparnis. Die kleinere Gruppe der Studenten stößt gleich zu Beginn ihres Arbeitslebens zum Heer der Sozialhilfeempfänger.
Für die verhinderten Staatsdiener dagegen ist anderweitig gesorgt; für sie soll der Dienstherr sorgen - und das sind in der überwiegenden Zahl der Fälle die Länder. Y
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Empfänger von Arbeitslosenunterstützung in Ost- u. Westdeutschland
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