BORDGERICHT S. Zt. erschossen
Am 8. Mai 1945 legte die deutsche Wehrmacht die Waffen nieder. Am 11. Mai griffen zehn deutsche Soldaten wieder zu den Karabinern und erschossen einen Deutschen. Es war die Vollstreckung eines Todesurteils, das ein deutsches Kriegsgericht aufgrund deutschen Kriegsrechts gefällt hatte - nach der Kapitulation.
Die Öffentlichkeit erfuhr erst 20 Jahre später von der Exekution auf dem Marine-Schießstand Flensburg-Mürwik. Das Kieler Justizministerium bestätigte Ende Juni 1965 »auf Anfrage«, daß wegen dieser Exekution ein Ermittlungsverfahren gegen den Konteradmiral a.D. Bernhard Rogge, 65, eingeleitet worden sei.
Es war der Eichenlaubträger Rogge, renommierter deutscher Kaper-Kommandant des Zweiten Weltkriegs, der das Flensburger Todesurteil als zuständiger Gerichtsherr bestätigt hatte.
Für Admiral Rogge begann nach Kapitulation und Kriegsgericht in der Bundeswehr eine neue Laufbahn. Bei seiner Pensionierung war er Befehlshaber im Wehrbereich I, danach wurde Rogge 1962 Berater für zivile Verteidigung bei den Landesregierungen in Hamburg und Kiel. Sein Vertrag mit Kiel lief am 31. März aus und wurde nicht mehr erneuert; sein Vertrag mit Hamburg endet am 31. August.
Nur zögernd und bruchstückhaft gab ein Sprecher des Kieler Justizministeriums preis, was sich nach der Kapitulation in Flensburg-Mürwik, dem letzten Sitz der Reichsregierung unter Großadmiral Karl Dönitz ("Enklave Dönitz"), zugetragen hatte:
Ein 21jähriger Maschinen-Gefreiter habe sich am 7. und 9. Mai 1945 der »Untergrabung der Manneszucht« durch »zersetzende Reden« schuldig gemacht. Ein Bordgericht - besetzt mit einem Marine-Oberstabsrichter, einem Kapitänleutnant und einem Hauptgefreiten
- habe daraufhin am 10. Mai den Delinquenten nach Paragraph 5 Ziffer 2 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) zum Tode verurteilt.
Neben Rogge, der damals Befehlshaber des Ausbildungsverbandes der Flotte in der Enklave Dönitz war und das Urteil am selben Tage bestätigte, werde auch gegen die Richter des Bordgerichts ermittelt, bekundete der Justiz-Sprecher. Mehr durfte er nicht sagen. Weder erläuterte er, was es nach der deutschen Kapitulation noch zu »zersetzen« gab, noch nannte er die Namen von Richter und Gerichtetem.
Der Richter ist der Rechtsanwalt und Notar Dr. Theodor Constabel, wohnhaft in Meldorf in Holstein. Der Gerichtete ist der gelernte Schlosser Johann Christian Süß, geboren am 21. November 1923 in Hüttenheim, beerdigt auf dem Flensburger Friedhof Friedenshügel, Abteilung 29, Grabstelle 308.
Sein Vater, der Bergmann Johann Süß, der 1960 in Roxheim bei Bad Kreuznach starb, hatte manchen Kummer mit ihm. Er bekam schon lange vor dem Zusammenbruch vom Kommandanten des jungen Süß, Oberleutnant zur See Meier (Dienststelle Feldpost-Nr. M 14 408) zahlreiche Mahnungen, erzieherisch auf den disziplinlosen Sohn einzuwirken.
Am 30. April 1943 rechnete Meier dem Vater Süß das Sündenregister vor: »Somit ist Ihr Sohn während seiner Dienstzeit insgesamt mit 51 Tagen geschärftem Arrest, acht Tagen gelindem Arrest und 39 Tagen Ausgangsbeschränkung bestraft worden ... Da nun die schwerste disziplinare Ahndung und auch Ihr väterlicher Einfluß erschöpft sind und Ihr Sohn auch jetzt noch nicht den Anschein einer Besserung zeigt, müssen Sie sich auf schlimmste Strafen (Gerichtsstrafen) gefaßt machen.«
Das Schlimmste geschah jedoch erst, als der Krieg vorbei war. Und der Maschinen-Gefreite Süß ist nicht einmal der einzige deutsche Soldat, der nach der Kapitulation von deutschen Kriegsgerichten zum Tode verurteilt und erschossen wurde.
So verhandelte im Mai/Juni 1948 ein Schwurgericht in Hamburg gegen den Kapitän zur See Rudolf Petersen, der am 10. Mai 1945 als Gerichtsherr die von einem Kriegsgericht verhängten Todesurteile über drei fahnenflüchtige Matrosen bestätigt und die Vollstreckung befohlen hatte. Gerichtsherr Petersen wurde freigesprochen, der Vorsitzende des Kriegsgerichts wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
In diesem Prozeß sagte der frühere Leiter der Rechtsabteilung im Oberkommando der Kriegsmarine als Zeuge aus, daß die Alliierten bei der Kapitulation die Aufrechterhaltung der Disziplin und der deutschen Kriegsgerichtsbarkeit verlangt hätten. Erst viel später habe er von einer Verfügung erfahren, nach der die Bestätigung und Vollstreckung von Todesurteilen durch die britische Besatzungsmacht gebilligt werden müsse.
Von diesem - am 4. Mai 1945 erlassenen - Dekret der Briten wußten offenbar auch die deutschen Marinerichter in Flensburg nichts, als sie den Johann Christian Süß zum Tode verurteilten. Der damalige Marinerichter Theodor Constabel letzte Woche zum SPIEGEL: »Diese Verfügung konnten wir gar nicht berücksichtigen, denn wir kannten sie nicht.« Das Todesurteil wurde den Briten nicht zur Genehmigung vorgelegt, der Füsilierte wurde am Ort der Exekution - auf dem Marineschießstand - formlos verscharrt.
Die Hinterbliebenen erfuhren nichts von diesem Schicksal, obwohl sie oder wenigstens der »gemeindliche Polizeiverwalter« nach einem OKW-Erlaß (vom 7. August 1940) hätten verständigt werden müssen. Erst 1952, als dem Flensburger Standesamt zur Kenntnis kam, daß auf dem Schießstand in Mürwik Leichen füsilierter deutscher Soldaten begraben seien, wurde nachgeholt, was die Kriegsmarine einst versäumt hatte.
Am 25. März 1952 ließ das Standesamt die Leichen von vier deutschen Soldaten auf dem Schießstand exhumieren und auf den Flensburger Friedhof Friedenshügel überführen. Außer Johann Christian Süß wurden drei Soldaten beigesetzt, die zwei Tage vor der Kapitulation - am 6. Mai - erschossen worden waren:
- der Maschinen-Hauptgefreite Willi Albrecht aus Trechow, Kreis Franzburg/Barth (Pommern);
- der Maschinen-Hauptgefreite Karl -Heinz Freudenthal aus Bremerhaven;
- der Signal-Hauptgefreite Günther Källander aus Memel.
Nach der Beisetzung informierte das Standesamt die »Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht« (Wehrmacht-Abwicklungsstelle) in Berlin. Und im Dezember 1952 teilte die Abwicklungsstelle den Eltern von Süß, die bis dahin immer noch glaubten, der Sohn sei vermißt, mit: »Ihr Sohn Johann Christian Süß wurde am 11. 5. 1945 in Flensburg-Mürwik erschossen. Nähere Auskunft können Sie durch den Oberstaatsanwalt Flensburg - Marine-Gerichtsaktenarchiv - erhalten.«
Vater Süß schrieb nach Flensburg. Der damalige Flensburger Oberstaatsanwalt Voß ließ ihm am 30. Januar 1953 unter »Archiv-Nr. 46 446« antworten: »Wie ich aus den hier zur Verwahrung gelangten Akten eines ehemaligen Gerichts der Kriegsmarine entnommen habe, wurde der Masch.-Gefr. Johann Süß, geb. am 21. 11. 23 in Hüttenheim, s. Zt. in Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils erschossen; der Verurteilte war der Untergrabung der Manneszucht und tätlichen Bedrohung Vorgesetzter schuldig befunden und dementsprechend verurteilt worden.«
Ermittlungen nahm die Flensburger Staatsanwaltschaft, die das Erschießungsdatum mit der im pedantischen Juristendeutsch ungewöhnlichen Formulierung »s. Zt.« umschrieb, damals nicht auf. Vater Süß erstattete keine Anzeige. Denn: »Dadurch bekommen wir den Jungen auch nicht wieder.«
Erst bei einer Routine-Kontrolle der Akten in der Berliner Wehrmacht-Abwicklungsstelle im Dezember vergangenen Jahres fiel das Hinrichtungsdatum auf. Die Akte Süß wurde an die Zentralstelle zur Verfolgung von NS -Verbrechen in Ludwigsburg, von dort an die zuständige Staatsanwaltschaft in Flensburg überstellt.
Nun begannen die Flensburger doch noch zu ermitteln. Die zuständigen Behörden beschlossen dem Vernehmen nach, »die Angelegenheit vertraulich zu behandeln«, wie die Nachrichten -Agentur UPI später meldete. Flensburg schwieg ebenso wie Konteradmiral Rogge, um dessen Ansehen es geht.
Für die Pflege der Grabstätte des Füsilierten Johann Christian Süß kommt derweil der Bund auf. Er zahlt jährlich zehn Mark.
* Paragraph 5,2 KSSVO: »Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft, wer es unternimmt, einen Soldaten oder Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes zum Ungehorsam, zur Widersetzung oder zur Tätlichkeit gegen einen Vorgesetzten oder zur Fahnenflucht oder unerlaubten Entfernung zu verleiten oder sonst die Manneszucht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu untergraben.«
Süß-Grab in Flensburg
Zehn Mark vom Bund
Gerichtsherr Rogge
Nach der Kapitulation ...
Gerichteter Süß
... die Manneszucht untergraben?