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»Salto mortale vom sechsten Stock«

aus DER SPIEGEL 31/1992

Dies ist eine der populärsten Billy-Wilder-Anekdoten: Wilder, immer auf der Suche nach guten Filmanfängen, hatte Angst, ihm würde im Traum der beste Filmanfang einfallen, er würde ihn aber bis zum nächsten Morgen vergessen haben. Also legte er sich ein Notizbuch und einen Bleistift an sein Bett und beschloß, sofort aufzuwachen, sobald ihm eine glänzende Idee für einen Filmanfang käme.

Eines Nachts ist es soweit. Billy Wilder hat eine fulminante, nie dagewesene Eröffnungsszene im Traum vor Augen. Sie ist so schön, daß er aufwacht. Rasch notiert er sie sich und schläft beruhigt wieder ein. Als er am nächsten Morgen auf seinen Notizblock blickt, steht da: »Boy meets girl« - junger Mann trifft junges Mädchen.

Billy Wilder kam Anfang 1934 nach Hollywood. 1938 erscheint er erstmals zusammen mit Charles Brackett als Drehbuchautor im Vorspann eines Films. Es ist der Lubitsch-Film »Blaubarts achte Frau«, und der hat einen wunderbaren Coup für seinen »boy meets girl«-Anfang. Die Geschichte geht auf ein französisches Stück von Alfred Savoir zurück.

Der Held der Farce, ein mehrfach geschiedener Millionär, will in einem Kaufhaus nur eine Pyjamajacke kaufen. Als man ihm sagt, das sei unmöglich, man könne nur ganze Schlafanzüge erwerben, kommt als rettender Engel eine hübsche, junge Dame dazu und sagt, sie wolle nur eine Pyjamahose kaufen. Aus »boy meets girl« wird »Pyjamajacke trifft Pyjamahose«. Natürlich paßt das perfekt zusammen, obwohl es einen ganzen Film lang nicht danach aussieht.

Wilder, der ein Filmleben lang immer auch der Meister der Anfänge geblieben ist, die dem Zuschauer schier den Atem rauben, hat bei all seinen Drehbüchern einen Mitarbeiter gehabt. 1938 begann die Zusammenarbeit mit Charles Brackett: »Blaubarts achte Frau« war der erste Film in einer 13jährigen Kollaboration. Danach hatte Wilder für ein paar Jahre keinen festen Mitarbeiter, er wechselte sie von Film zu Film. Doch dann mit »Love in the Afternoon« (Ariane - Liebe am Nachmittag) begann 1957 das gemeinschaftliche Schreiben mit I.A.L. Diamond, das eigentlich erst mit Diamonds Tod endete - über 30 gemeinsame Drehbuchjahre.

Charles Brackett und I.A.L. Diamond waren also die beiden wesentlichen Partner Billy Wilders - und es ist oft darüber spekuliert worden, ob seine Kompagnons nur bessere, hoch gebildete Privatsekretäre gewesen seien oder ob sie, wie andere herausgefunden haben wollen, Wilder den Löwenanteil am Skript zulieferten.

Wilder selbst sieht im gemeinsamen Drehbuchschreiben eine absolut gleichgewichtige gemeinsame Arbeit. Brackett und Wilder, die in den vierziger Jahren die bestbezahlten Drehbuchautoren Hollywoods waren - beide verdienten 4500 Dollar die Woche -, wurden als »glücklichstes Paar von Hollywood« (The happiest couple) beschrieben - ihre Krisen, so die Trennung für »Double Indemnity«, waren »Ehekrisen«. Brackett definierte ihre Beziehung mit dem Bibelwort: »Was Gott zusammengefügt hat . . .«

Wilder erinnert sich noch lebhaft an die Anfänge ihrer »Paarung":

Als ich ihn kennenlernte, galt Brackett als so etwas wie ein blaublütiger Yankee. Sein Vater, ein angesehener Rechtsanwalt, war zeitweise Senator des Staates New York. Während ich ein begeisterter Anhänger von Roosevelts New Deal, also ein Liberaler war, dem man linke Neigungen nachsagte, war Brackett der geborene Republikaner mit einem liberalen Touch: In New York hatte der Literat Brackett für den New Yorker Theaterkritiken geschrieben. Zu seinen Freunden gehörten F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und Gertrude Stein. Bevor er als Drehbuchautor nach Hollywood kam, hatte er einige Romane verfaßt.

Zwei Autoren, die zusammen an einem Drehbuch arbeiten, müssen an beiden Enden eines Seils ziehen - sonst entsteht keine Spannung. Bei mir und Brackett war dies der Fall - genauso wie _(y 1992, Hoffmann & Campe Verlag, ) _(Hamburg. ) später bei »Iz« Diamond und mir. Brackett hatte im Grunde die Manieren eines britischen Torys oder strebte sie zumindest an.

Wir waren grundverschieden: Ich haßte geschlossene Türen, er hatte Angst vor offenen. Ich wanderte im Zimmer auf und ab, er saß still da. Trotzdem oder gerade deswegen: Die Spannung hat gut funktioniert, so gut, daß er manchmal mit dem Telefonbuch nach mir warf - getroffen aber hat er nur die Lampe.

Während unserer Zusammenarbeit im Krieg bin ich dem viel älteren Brackett immer wieder auf die Nerven gegangen, indem ich ihm sagte, wie unruhig ich darüber sei, daß ich nicht im Krieg, nicht in Europa mitkämpfte.

»Du und mitkämpfen?« fragte Brackett. »Du bist doch viel zu alt!«

Ich war 38 und fühlte mich gekränkt. Also habe ich ihm die Geschichte von der Soldatenaushebung im alten Österreich erzählt. Die Einzugsoffiziere durchkämmten das Land nach Rekruten, die Söhne versteckten sich in den Scheunen und Wäldern. So griffen die Militärs eines Tages in einer Scheune einen jüdischen 80jährigen Greis. Sie wunderten sich, daß er sich versteckt hatte. »So alte Männer ziehen wir nicht mehr ein!« - »Was!« schrie der Alte empört, »mich wollt ihr nicht mehr einziehen?! Ja braucht denn die österreichische Armee keine Generäle?«

Brackett sah mich einen Augenblick nur wortlos an. Dann sagte er: »An die Schreibmaschine, General!«

Nachdem ich mich von Brackett getrennt hatte, fand ich Jahre später in Diamond meinen idealen »Kollaborateur«. I.A.L. Diamond, der in Rumänien geboren wurde und als neunjähriger Junge mit seinen Eltern nach New York kam - ursprünglich hieß er Itek Dommnici -, ist mir durch seine witzigen Sketche aufgefallen, die er für die jährlichen Versammlungen der »Screenwriters Guild« schrieb.

»Iz« war ein ungeheuer zurückhaltender und schüchterner Mensch. Und er war ein Untertreiber. »Why not?« sagte er, wenn ich ihm eine Dialogzeile, eine Pointe vortrug, die ihm gelungen schien, und dieses »Warum nicht?« war das höchste Lob, das man von ihm bekommen konnte. Ich wußte dann: Die Pointe sitzt.

Wir waren aber auch in vielen Dingen verschieden. Verschieden zum Beispiel darin, daß er eine große Scheu nicht nur vor Four-letter-words hatte, sondern vor allen Bezeichnungen für sexuelle Dinge, soweit sie nicht griechischen - oder zumindest lateinischen - Ursprungs waren und eigentlich außerhalb von Ärztekongressen und Operationssälen nicht benutzt wurden - außer von »Iz«. Ich habe ihn oft geneckt, indem ich ihm beim Schreiben einer Szene sagte: »Soll der mons pubis der Darstellerin zu sehen sein?« Oder »Sollen wir ihn ihre mammae berühren lassen?« In Zeiten, wo wir unsere Filme in die allgemeine amerikanische Prüderie hineinschrieben, war das nicht weiter störend. Das wurde es erst später - vielleicht am deutlichsten bei den Sanatoriumsszenen in »Buddy Buddy« (1981). Da hat er vielleicht bei den Szenen, die mir als Parodie auf den Nacktheitskult und die neue enthemmte Sexualität vorschwebten, zu sehr gebremst. Jedenfalls sind sie so, wie sie geworden sind, nicht gut. Nicht Fisch, nicht nacktes Fleisch.

Der Hauptunterschied zwischen uns war eigentlich der: Während ich wie schon bei Brackett immer in Bewegung war und unruhig im Zimmer auf und ab lief, saß er ruhig da - er konnte warten. Das mag daran gelegen haben, daß ich auch beim Schreiben schon an die Bewegungen der Kamera dachte und diese Bewegungen vor Augen hatte. Außerdem hatte ich stets einen Horror vor längeren Dialogen, ich ahnte die Unruhe der Zuschauer voraus.

An das Publikum zu denken, den ohnehin ungeduldigen Zuschauer vor Augen zu haben - das war in der Zusammenarbeit mit Diamond mein Part. Und wir hatten über Jahre eine stillschweigende Verabredung: Wenn einer von uns beiden zu dem Vorschlag des anderen sagte: _(* Mit Gary Cooper und Claudette Colbert. ) »Du, ich glaube nicht!«, dann hat der Vorschlagende wortlos seine Idee fallenlassen und in den Papierkorb geworfen. Es gab zwischen »Iz« und mir keine Prestigekämpfe. Keiner dachte: »Killst du mir meine Pointe, kill ich dir deine!«

Drehbuchschreiben ist ein Wechsel auf die Zukunft. Zwischen dem Augenblick, da man die alles entscheidende Grundidee zu einem Film hat, und dem Moment, wo man endlich zu drehen beginnt, vergeht eine lange Zeit. Und dann noch einmal viel Zeit, bis der Film in die Kinos kommt. Aktualität im Film heißt vorauszuahnen, was das Publikum in eineinhalb Jahren sehen will.

Bei Filmen mit aktuellen Bezügen spielt die Wirklichkeit einem oft die merkwürdigsten Streiche. So fiel mitten in die Dreharbeiten zu »Ninotschka« 1939 der Hitler-Stalin-Pakt: Der Nazi-Außenminister Ribbentrop fuhr nach Moskau und schloß mit Stalin den Nichtangriffspakt.

Zu diesem widernatürlichen Pakt, der damals die Weltöffentlichkeit tief verunsicherte, fällt mir ein abstruses Filmdetail ein. Offenbar kam die Ribbentrop-Reise so plötzlich und überraschend für die Sowjetführung, daß sie den ungewohnten Gast gar nicht richtig empfangen konnte - in ganz Moskau war keine Hakenkreuzflagge aufzutreiben.

Nun drehte damals aber gerade der Regisseur Herbert Rappaport, ein Freund von mir, der nach Moskau emigriert war, einen wütend kompromißlosen Anti-Nazifilm, und zwar »Professor Mamlock« nach dem Theaterstück von Friedrich Wolf. Und in ihrer Not requirierte die sowjetische Regierung alle Fahnen vom Set des Films und pflanzte sie auf dem Roten Platz für Ribbentrop auf - in Wahrheit wurde also der nationalsozialistische Außenminister mit antifaschistischen Requisiten empfangen.

Zum Drehbuchschreiben gehört nicht nur eine ebenso zündende wie über die Aktualität hinaus haltbare Grundidee - man muß auch noch das richtige Glückslos aus dem Hut ziehen.

Das läßt sich am besten an meinem Film »Some Like It Hot« (Manche mögen''s heiß) verdeutlichen. Diamond und ich haben als Stoff eine Grundidee von Robert Thoeren übernommen, nach der schon zwei Filme gedreht worden waren: »Fanfares d''Amour« 1935 und »Fanfaren der Liebe« 1951.

Der deutsche Film spielte in der Zeit der Arbeitslosigkeit in Deutschland und handelt von zwei Musikern, die sich verkleiden, um Jobs zu bekommen: mal als Mädchen, um in einer Damenkapelle mitspielen zu können, mal schwarzgeschminkt, um als Schwarze in einer Jazzband engagiert zu werden, mal in Trachten für eine bayerische Volksmusikkapelle.

Unser entscheidender Grundeinfall, genauer gesagt, unsere beiden entscheidenden Einfälle: Wir verlegten den Film in die zwanziger Jahre nach Chicago, also in eine »historische« Zeit, die nah genug war, daß wir die Redeweisen, das Verhalten und die Ideen der Akteure als gegenwärtig darstellen konnten, und die als Epoche der Prohibition und der Gangsterkriege um den Schnaps weit genug entfernt war, um schon allein im Kostüm historisch interessant zu sein. Wir konnten mit den Kostümen die früheste Tonfilmzeit herbeizitieren.

Die zweite Voraussetzung: Wir machten die Helden zu Zeugen des Massakers vom Valentinstag von 1929 - einer blutigen Vendetta zwischen Gangstern in Chicago, die sich auch deshalb tief in das amerikanische Bewußtsein eingeprägt hat, weil die grausamen Morde am Valentinstag, also an einem Festtag der Liebe, stattfanden.

Der mit mir befreundete Produzent David O. Selznick, dem ich damals erzählte, daß die Verkleidungskomödie mit dem Massaker in Chicago anfange, hat nur skeptisch den Kopf geschüttelt und mich gewarnt: Ein solches Blutbad könne keine Komödie eröffnen, sondern würde sie den ganzen Film lang überschatten und damit unmöglich machen. Er hat glücklicherweise nicht recht behalten.

Denn ich brauchte diese Voraussetzung: Wie anders hätte ich einen ganzen Film lang zwei Männer nötigen können, Frauenkleider zu tragen - außer, indem ich sie in panische Todesangst versetzte, weil sie die einzigen, für die Gangster lebensgefährlichen Mordzeugen waren.

Selbst wenn die beiden noch so verliebt sind, können sie genau aus diesem Grund nicht zurück zu ihrer wahren Identität. Wäre das Ganze nur ein Spaß, die beiden nur verkleidet, um einen Job zu finden - sie hätten sich in jeder Sekunde die Frauenkleider vom Körper reißen und erklären können, wer sie wirklich wären. Nur so hatte die Komödie ihre zwanghafte Notwendigkeit.

Das war die wichtigste Entscheidung. Und sie war so richtig, daß sich viele Szenen zwangsläufig daraus ergaben und wie von selbst schrieben. Hinzu kam bei »Manche mögens''s heiß« das Glückslos. Das war in diesem Fall die Monroe. Man muß sich das nur vorstellen: Da sitzen beispielsweise zwei als Mädchen verkleidete Männer bei einem Mädchen im Bett. Bei einem Mädchen? Bei der damals begehrtesten Frau der Welt! Und sie wären nie in das Bett gekommen, wenn sie nicht scheinbar Mädchen wären, und sie kommen zu nichts in dem Bett, weil sie Mädchen bleiben müssen.

Aus dem Plot und der Tatsache, daß Marilyn Monroe spielte, ergab sich eine so große Spannung für den Zuschauer, daß sie sich nur in einer Art komischer Explosion entladen konnte.

Wir haben daraus auch in der Szene Nutzen gezogen, als Tony Curtis als vermeintlicher Millionär die Monroe auf Osgoods Jacht führt. Um sie zu verführen? Wir haben nachgedacht und uns die Frage gestellt: Was ist noch aufregender, als die Monroe zu verführen? Und wir haben die Antwort gefunden: Von der Monroe verführt zu werden!

Der Film bekam durch die Tatsache, daß damals das gesamte männliche Publikum mit der Monroe schlafen wollte, daß sie der begehrteste Wunschtraum war, eine ungeheuer komische Durchschlagskraft - dieses enorme Anwachsen von Anteilnahme und Schadenfreude haben wir bei der ursprünglichen Idee zum Film nicht voraussehen können.

An der Wand in Billy Wilders Arbeitszimmer hängt, braun gerahmt, die großgeschriebene Frage: »How would Lubitsch have done it?« Wie hätte Lubitsch es gemacht? Diese Frage ist noch immer, über 40 Jahre nach Lubitschs Tod, das Kriterium, das man in Wilders Augen, als Filmschreiber, als Filmemacher anlegen muß.

»Die meisten Filmemacher«, so Wilder, »rechnen dem Publikum vor: 2 + 2 = 4. Lubitsch sagte 2 + 2 und ließ das Publikum die Summe selber ziehen.«

Im Dezember 1922 war Ernst Lubitsch von Bremerhaven aus nach New York gefahren. Und von dort nach Hollywood. Es ist vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, dessen Wunden offenbar noch nicht verheilt sind. Jedenfalls hat Lubitsch Wilder später erzählt, daß er im Roosevelt Hotel, gegenüber von »Grauman''s Chinese Theatre«, abgestiegen sei und daß er und sein Assistent Blanke am zweiten Abend Lärm und Geschrei von der Straße gehört hätten.

Als sie aus dem Fenster geblickt hätten, seien sie Zeugen einer Demonstration geworden, die die amerikanischen »Veterans of the War« veranstaltet hätten. Die »Veterans« hätten dagegen protestiert, daß die Industrie die »Boches« geholt habe. Die antideutsche Stimmung in Amerika war eine Folge des Krieges und auch der Kriegspropaganda: Man hatte die Bilder deutscher Soldaten in Belgien vor Augen, wie sie gleich drei Babys auf einmal mit ihrem Bajonett aufgespießt hatten.

Später, 1939, als Lubitsch, Reisch, Brackett und Wilder »Ninotschka« schrieben, hatten sie mit dem Stoff anfangs aufgrund einer ähnlichen Stimmung Probleme. Jede Verspottung der Sowjetunion wirkte damals wie ein Votum für die Nazis, deren entschiedenste Gegner doch die russischen Kommunisten waren.

Erst mit dem Hitler-Stalin-Pakt änderte sich das Klima: Der latente Antikommunismus _(* Während der Dreharbeiten zu »Manche ) _(mögen''s heiß«. ) in den USA kam jetzt wieder zum Vorschein, er begünstigte »Ninotschka«, der jetzt als antisowjetischer Film mißverstanden und begrüßt wurde. Dabei wollte Lubitsch eine Komödie mit der Garbo machen, sonst nichts. Wilder: »Und natürlich waren uns die Pointen gegen den Kommunismus recht - als Pointen.«

Die Arbeit am Drehbuch zu »Ninotschka« steht Wilder noch genau vor Augen:

Wir schrieben daran oft in Lubitschs Haus. Wir, das heißt Walter Reisch, Charles Brackett und ich - und vor allem Lubitsch selbst, der oft die befreienden, entscheidenden Ideen hatte: Es war wirklich nicht leicht, den Film, dessen Handlung, dessen Erotik sich vorwiegend im Kopf der Figuren abspielt, in szenische Bilder umzusetzen.

Stockte unsere Arbeit, ging Lubitsch aufs Klo. Blieb er dort länger als zwei Minuten, dann waren wir sicher, daß er mit einem erlösenden Einfall zurückkommen würde. Wir haben darüber oft Witze gemacht, daß er sich dort wahrscheinlich einen Ghostwriter versteckt habe, um uns zu verblüffen.

An einem Problem hatten wir besonders lange zu knacken. Tagelang überlegten wir hin und her: Wie kann man in einem Film zeigen, daß eine hundertprozentig überzeugte sowjetische Kommissarin, die nach Paris kommt, durch den kapitalistischen Luxus korrumpiert wird? Wie kann man den Augenblick sichtbar machen, in dem diese Wandlung beginnt, in dem das Eis der Ideologie zu schmelzen beginnt?

Lubitsch also kam aus der Toilette raus und sagte voller Bestimmtheit: »Ich hab''s!« Wenn die Kommissarin zum erstenmal ins »Ritz« kommt, wo sich ihre drei längst vom Luxus verdorbenen Pariser Kommissare einquartiert haben, und sie die Halle auf ihrem Weg zum Fahrstuhl durchqueren muß, kommt sie an einer Reihe von Ausstellungsvitrinen vorbei, wie sie in First-Class-Hotels anzutreffen sind: Es gibt da Blusen, Kleider, Flacons mit Parfüm, Modeartikel, Schmuck und Uhren.

Lubitsch ließ sich eine Vitrine einfallen, in der drei modische Hüte drapiert waren, hybride Kreationen einer mondänen Haute Couture, verrückt geschwungen und extravagant. Die Garbo bleibt kopfschüttelnd vor dieser Vitrine stehen, schaut sich die Hüte an und sagt: »Wie kann eine Zivilisation überleben, die es ihren Frauen erlaubt, sich solche Dinger auf den Kopf zu stülpen?«

Am späten Abend bleibt sie wieder für einen Augenblick vor der Vitrine mit den Hüten stehen, schürzt verächtlich die Lippen und macht: »Zzz!«

Ein paar Tage später. Sie öffnet die Vorhänge in ihrem Hotelzimmer, durch das Fenster leuchtet ein herrlicher Frühlingstag. Und dann taut sie auf. So sehr, daß sie den drei Kommissaren ein paar Rubel gibt: sie sollen sich ruhig ein bißchen amüsieren gehen, den schönen Tag genießen.

Man merkt: Sie ist eine andere Frau, sie ist völlig verwandelt. Als sie allein ist, kommt eine der typischen Lubitsch-Szenen. Man sieht, wie die Garbo sorgfältig alle Türen verschließt. Wie sie dann ins Schlafzimmer geht, die Tür sorgfältig schließt, an einen kleinen Schrank tritt, sich noch einmal vorsichtig umsieht, um sich zu vergewissern, ob sie auch ja von niemandem beobachtet wird. Dann öffnet sie eine Schublade und nimmt einen der Hüte heraus, die wir Zuschauer schon aus der Vitrine in der Hotelhalle kennen. Es ist natürlich der extravaganteste. Sie setzt ihn auf, setzt sich aufs Bett und betrachtet sich im Spiegel. Und jeder Zuschauer weiß: Diese Frau ist für den Kommunismus verloren.

Beim Drehen durfte man der Garbo nicht zuschauen, sie duldete niemanden, der nicht unmittelbar zum Filmteam gehörte, auf dem Set. Und sie hatte so etwas wie einen sechsten Sinn dafür, wenn jemand beim Filmen zusah, der nicht dabeisein mußte.

Ich bin einmal während der Dreharbeiten zu »Ninotschka« auf den Set der Metro gekommen und wollte, von ihr unbemerkt, ein Weilchen zusehen. Plötzlich tauchten zwei Arbeiter auf und stellten wortlos einen schwarzen Paravent zwischen mich und die Szene. Sie konnte es nicht ertragen, beim Drehen beobachtet zu werden, es war so etwas wie ein Einbruch in ihre intimsten Geheimnisse. Und sie hatte gute Gründe, weil sie wußte, daß das Wunder Garbo beim Drehen nicht zu sehen war, weil es ein Wunder des Zelluloids war. Ihr Gesicht verwandelte sich auf dem Film. Aus dem verschlossenen, ja vielleicht sogar langweiligen Gesicht einer Schauspielerin in das Gesicht eines Stars, aus dem der Zuschauer sämtliche Geheimnisse der weiblichen Seele abzulesen vermeinte.

Bei den größten Stars vollbringt das Zelluloid, die Emulsionsschicht auf dem Film dieses Wunder, gibt ihnen, indem es sie scheinbar von drei Dimensionen auf zwei »verflacht«, eine Tiefe, ein Geheimnis - Rätsel, die auf einmal zu sprechen scheinen. Die Garbo war so ein Fall: die Geburt eines Stars aus dem Zelluloid.

Ich habe später als Regisseur das gleiche Wunder bei der Monroe erlebt. Sobald man sich nach Abschluß eines Drehtages die Muster ansah, war man jedesmal aufs neue perplex, welche Verwandlung sich da auf dem Weg über die Kamera vollzogen hatte.

Das Drehen ging bei Lubitsch streng nach Drehbuch, und er ließ die Schauspieler nie vom geschriebenen Dialog abweichen - alle Überlegungen, Diskussionen über Varianten und Schwierigkeiten fanden vorher beim Schreiben statt. Das Drehen war das Umsetzen des Drehbuchs in den Film. _(* In der Rolle der sowjetischen ) _(Kommissarin. )

Ich erinnere mich nur an eine Ausnahme: Lubitsch hat der Garbo einen Satz in »Ninotschka« während des Drehens verändert. Bei ihrer Ankunft in Paris regt sie sich über die drei Klassen in der Eisenbahn auf: daß die Armen auf den harten Holzbänken der dritten Klasse sitzen müßten, während die Reichen im weichen Plüsch der ersten Klasse säßen.

»We communists, we will change this from the bottom up«, sollte sie sagen - Wir Kommunisten werden das von Grund auf ändern -, wobei das Wort »bottom« im Englischen den Nebensinn von Hintern hat, den die Garbo heraushörte und daraufhin Lubitsch bat, das Wort zu ändern. Ein Wort, das wie Hintern klang, wollte sie nicht in den Mund nehmen.

Lubitsch entsprach ihrem Wunsch sofort - zum erstenmal änderte er auf dem Set einen Dialog. Wohl nicht, weil er ihrer schier viktorianischen Prüderie entgegenkommen wollte, sondern weil er spürte, daß sie recht hatte: Ein Wort wie »bottom« paßte nicht zu ihr, verletzte das Image ihrer Unnahbarkeit, ihrer Entrücktheit aus allen Niederungen des Alltäglichen.

Natürlich gehörte das, was die Garbo bis zum Extrem verkörperte, damals zur Star-Strategie Hollywoods. Es war unvorstellbar, daß man als Normalsterblicher den Stars im Drugstore nebenan, noch dazu mit Lockenwicklern im Haar, begegnet wäre. Die Überlegung war: Warum wohl sollte jemand sein sauer verdientes Geld für eine Kinokarte ausgeben, um dafür dann jemanden zu sehen, den er aus seinem Alltag kennt? Kinoheldinnen sollten niemals wie das Mädchen von nebenan aussehen. Denn wenn sie es täten, könnte man gleich nach nebenan gehen - statt ins Kino.

Die Garbo hat diese Entrücktheit bis ins Extrem gelebt. Ich habe sie einmal privat getroffen - außerhalb der feierlichen Anlässe von Preisverleihungen und Filmpremieren. Sie wohnte damals in meiner Nähe in Beverly Hills und joggte jeden Nachmittag auf dem Rodeo Drive. Man nannte das damals zwar noch nicht Joggen, jedenfalls aber sah ich sie, hielt meinen Wagen an und habe sie gefragt, als wir uns unterhielten und sie so verschwitzt und durstig aussah, ob sie nicht Lust hätte, auf einen Cocktail zu mir zu kommen, ich wohnte doch gleich um die Ecke.

Sie sagte ohne Umstände zu, und als wir nach Hause kamen, rief ich meiner Frau zu: »Audrey, rate mal, wen ich auf einen Drink mitgebracht habe?« Und sie fragte: »Wen?« Und ich sagte: »Die Garbo.« Und sie sagte: »Und Howard Hughes und den Papst«, denn sie dachte, ich würde einen blöden Witz machen, weil die Garbo als so menschenscheu bekannt war. Dabei war es gerade die spontane, unkonventionelle Einladung, die Greta Garbo bewog, mitzukommen.

Sie konnte, das merkte ich schnell, einen kräftigen Schluck vertragen und lachte genauso kräftig, während sie einen Dry Martini und dann den zweiten trank - verschwitzt, im Trainingsanzug, und dazu so etwas sagte wie: »Ich sage immer, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer« oder »Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist, meine ich immer« - eine _(* Das in Amerika abgewiesene Schiff ) _(mußte schließlich doch nicht nach ) _(Deutschland zurückkehren. Als Belgien, ) _(Frankreich, England und die Niederlande ) _(sich in letzter Minute bereit erklärten, ) _(die jüdischen Flüchtlinge aufzunehmen, ) _(konnte die »St. Louis« am 17. Juni 1939 ) _(in Antwerpen landen. ) Frau, die Sprichwörter aufsagte, als handle es sich um spontane Erkenntnisse. Ich antwortete: »Ach, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer? Das sagen Sie immer?« Und sie nickte: »Ja, ich finde wirklich, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.« Und ich: »Das finde ich aber sehr gut.«

Vielleicht habe ich mir dieses Gespräch deshalb so gut gemerkt, weil es meinem Stolz schmeichelte: Was für elegante Sätze und witzige Repliken haben dagegen wir, als wir »Ninotschka« schrieben, der Garbo in den Mund gelegt.

In Hollywood wollte man noch kurz vor dem US-Kriegseintritt um jeden Preis den Eindruck vermeiden, Amerika ließe sich durch die Emigranten aus Europa dazu hinreißen, in den Krieg hineingezerrt zu werden, indem es durch anti-nazistische Filme die Nazis beleidigte.

In Washington wurde sogar ein Senatsunterausschuß gegründet, der die neutrale Grundhaltung von Filmleuten untersuchen und darauf achten sollte, ob sie sich nicht der »Kriegshetze schuldig machten«. Als »Zeugen« traten isolationistische oder pro-deutsche Gruppen auf - Vorläufer der McCarthy-Ära.

Präsident Roosevelt, der gewiß alles in seiner Macht Stehende für England und gegen Nazideutschland tat, mußte es sozusagen heimlich tun. Im Wahlkampf 1940 versicherte er immer wieder: »Ich habe es schon früher gesagt, aber ich sage es wieder und wieder und wieder - eure Söhne werden nicht in irgendeinen fremden Krieg geschickt werden.«

Ich erinnere mich noch, wie traurig, enttäuscht und verbittert wir waren, als wir 1939 erfuhren, wie Roosevelt das Schiff »St. Louis«, das vollbesetzt mit jüdischen Emigranten aus Deutschland kam und dem zuerst die Kubaner die Aufnahme verweigert hatten, trotz aller Bitten (seine Frau soll ihn weinend angefleht haben) nicht in Amerika anlegen ließ, sondern die Emigranten in den sicheren Tod zurück nach Deutschland schickte, nur um den Anschein der Einmischung zu vermeiden.

In diesem Kontext wird deutlich, welche Aufregung ich durch eine kleine Namensbenennung, »Adolf«, im Film »Arise my Love«, verursachte. (Wilders Held, der in dem 1940 unter der Regie von Mitchell Leisen gedrehten Film in einem spanischen Gefängnis auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartet, hatte eine Ratte, seinen einzigen »Gesprächspartner«, »Adolf« genannt. Die Zensur strich den Namen.)

Von »Arise my Love« wurde hinter dem Rücken von Brackett und mir eine zweite, »geglättete« Version hergestellt, die in »neutralen« europäischen Ländern gezeigt werden durfte - weil sie Hitler nicht beleidigte: Geschäft ging vor Moral.

»Hold Back the Dawn« (Das goldene Tor) von 1941, der letzte Film, den ich für den Regisseur Mitchell Leisen schrieb, spiegelte ebenfalls meine Emigranten-Erfahrung wider.

Der Film schildert die Situation von Flüchtlingen aus Europa, die in Mexiko auf ihre Einreise in das gelobte Land USA warten.

Wie ich nach meiner Einwanderung 1934, so lebt auch der Held in »Hold Back the Dawn« in einem kleinen mexikanischen Hotel an der Grenze und wartet auf sein Visum. Das Hotel ist heiß, dreckig, der unrasierte Held liegt auf dem Bett, starrt in die Luft und wartet und wartet und wartet.

Auf einmal sieht er, wie eine Schabe über die Tapete kriecht und versucht, auf den fleckigen Spiegel zu kommen. Und er beobachtet sie und schiebt sie mit dem Stock immer wieder zurück, hindert sie, den Spiegel zu bekriechen. _(* Oben: mit Hans Furberg und Claudette ) _(Colbert; unten: mit Hauptdarsteller ) _(Charles Boyer (Mitte), Regisseur ) _(Mitchell Leisen (rechts). ) Er spielt mit der Schabe, wie ihm und vielen anderen an der Grenze mitgespielt wurde - von Grenzbeamten.

Er sagt also zu der Schabe: »Wohin willst du?«, »Wo ist dein Paß?«, »Wo sind deine anderen Papiere?« Und immer wieder schiebt er sie zurück, weil sie kein Visum, weil sie keine ausreichenden Papiere bei sich hat.

Leisen drehte also den Film und hatte es geschafft, uns möglichst oft vom Set fernzuhalten. Das gelang ihm vor allem deshalb, weil er zu drehen begonnen hatte, als das Drehbuch noch nicht ganz fertig war. Brackett und ich schrieben parallel zu den Dreharbeiten.

Eines Tages gehe ich also zum Mittagessen in die Kantine, und da sitzt Charles Boyer, der den Einwanderer spielte, beim Essen, ganz fein mit Serviette und Rotwein, Franzose von Kopf bis Fuß, und ich frage ihn, wie es ihm gehe, und er erzählt mir, daß sie gerade an der Szene in dem schäbigen Hotelzimmer arbeiten.

»Ich mag die Szene besonders«, sage ich, »vor allem, wie Sie mit der Schabe sprechen.«

Er sagt mit seinem stark französischen Akzent: »Also das aben wir ein wenisch verändert.« Ich sage: »Verändert?« Und er: »Isch spresche doch nischt mit derr Schabe, es ist doch weder fein noch logisch, mit einem Insekt zu spreschen. Das kann mir doch gar nicht antworten. Das aben wir gestrichen.«

Darauf ich: »Aber genau darum, weil es nicht logisch ist, habe ich die Szene geschrieben.« Und er: »Unsinn. Ein normaler Mensch spricht doch nischt mit einem Insekt.«

Brackett und ich, die wir wußten, daß wir nach den vielen voraufgegangenen Auseinandersetzungen weder bei Leisen noch beim Produzenten Hornblow Hilfe zu erwarten hatten, haben es trotzdem versucht. Natürlich vergeblich. Wir waren aber noch beim Schreiben, der ganze dritte Teil fehlte noch, und so haben wir uns gesagt: »Wenn er nicht mit der Schabe sprechen will - spricht er überhaupt nicht.«

Wir ließen Charles Boyer also weitgehend verstummen und schanzten seiner Partnerin Olivia de Havilland heimlich den ganzen Text zu. Sie wurde dann prompt auch für den Oscar nominiert. Die Schabe blieb ohne Ansprache und durfte den Film nicht betreten. Und ich habe nie wieder einen Film geschrieben, für den ich mir nicht einen Regisseur ausgesucht hätte, der solche Szenen richtig lesen konnte, weil er sie selbst erlebt und geschrieben hatte: mich. *HINWEIS: Im nächsten Heft Was wirklich mit Paulette Goddard im »Ciro''s« passierte - Hollywood übt den Luftkrieg - Wiedersehen mit Deutschland 1945 als US-Besatzer

y 1992, Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg.* Mit Gary Cooper und Claudette Colbert.* Während der Dreharbeiten zu »Manche mögen''s heiß«.* In der Rolle der sowjetischen Kommissarin.* Das in Amerika abgewiesene Schiff mußte schließlich doch nichtnach Deutschland zurückkehren. Als Belgien, Frankreich, England unddie Niederlande sich in letzter Minute bereit erklärten, diejüdischen Flüchtlinge aufzunehmen, konnte die »St. Louis« am 17.Juni 1939 in Antwerpen landen.* Oben: mit Hans Furberg und Claudette Colbert; unten: mitHauptdarsteller Charles Boyer (Mitte), Regisseur Mitchell Leisen(rechts).

Hellmuth Karasek
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