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JUSTIZ Samt für Gehobene

Ohne gesetzliche Grundlage bereiten sich Richter und Staatsanwälte bei Kriegsgerichts-Übungen auf den Ernstfall vor. *
aus DER SPIEGEL 34/1983

Im Tagungsraum des »Sporthotel Droste« im sauerländischen Schmallenberg wurde ein Zug Juristen auf den nächsten Weltkrieg eingestimmt.

Carl-Heinz Schönherr, Ministerialrat aus dem Bonner Justizministerium, erläuterte den anwesenden Richtern, Staatsanwälten und Beamten die Lage. Ob als Ankläger oder als Mitglieder von Kriegsgerichten, machte Schönherr seinen Zuhörern klar - im Ernstfall hätten sie »die Disziplin der Truppe zu stärken«. Die juristische Grundlage ihres Handelns sei in einer Sammlung von Wehrjustizgesetzen und -verordnungen niedergelegt.

Aber kaum hatte der Ministeriale die blau gebundenen Geheimtexte, nach denen im Kriegsfall Soldaten abgeurteilt werden sollen, an die drei Dutzend Anwesenden verteilen lassen, kam Unmut auf. »Der Inhalt der Papiere«, schimpfte der promovierte Jurist und Reserve-Hauptmann Wolfgang Stauf, 37, aus Diez an der Lahn, sei schlichtweg »verfassungswidrig«. Die Kameraden, die den Wehrkunde-Unterricht im Sauerland mehr als gemütlichen Herrenabend betrachtet hatten, waren verblüfft. Erstmals stellte ein truppenerfahrener Jurist in Frage, was seit rund 20 Jahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit unbeanstandet geprobt wird: eine eigenständige Wehrgerichtsbarkeit für den Ernstfall.

Und Stauf, Rechtsberater eines Divisionskommandeurs sowie Wehrdisziplinaranwalt, der in Schmallenberg noch auf verlorenem Posten stand, hat inzwischen Verstärkung bekommen. Juristen aus Parteien und Gewerkschaften, von der SPD, den Grünen und der ÖTV, greifen das Thema auf, das sich bestens eignet, die Diskussion über die geplante Aufstellung der Pershing-Raketen in der Bundesrepublik anzuheizen.

Die Kritiker der Militärjustiz haben gute Argumente, denn die heimlich betriebenen Kriegsgerichtsspiele sind mit dem Verfassungsgebot der Rechtsstaatlichkeit schwer zu vereinbaren. Zwar kann der Bund, gemäß Artikel 96, »Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte« als Bundesgerichte etablieren, die dann »im Verteidigungsfalle« tätig werden. Doch schreibt das Grundgesetz zwingend vor, »das Nähere« sei durch ein Bundesgesetz zu regeln - und genau dieses Gesetzgebungsverfahren ist umgangen worden.

Bisher hat sich der Bundestag weder mit der Gesetzessammlung befaßt, die den Militär-Juristen bei ihren Übungen vorgelegt wird, noch mit der Frage, ob eine Militärjustiz überhaupt eingerichtet werden soll. Und doch gibt es ein komplett ausformuliertes Wehrjustizgesetz, eine Wehrstrafgerichtsordnung plus Einführungsgesetz, ein Landesverteidigungsschutzgesetz, ein Völkerrechtsstrafgesetz und eine Rechtsverordnung über die Errichtung und die Zuständigkeitsbereiche der Wehrstrafgerichte.

Knapp 900 Richter, Staatsanwälte und Beamte haben, auch ohne gesetzliche Grundlage, einen Einberufungsbefehl in der Tasche. Die künftigen Wehrrichter sind, streng geheim, auf 31 Wehrgerichte und acht Oberwehrgerichte verteilt.

Der Andrang der Freiwilligen ist groß, die Justiz hat Wartelisten angelegt. Besonders begehrt sind die Einladungen, wenn im idyllischen Schwarzwald-Kurort Baiersbronn oder in Decimomannu, dem deutschen Luftwaffenübungsplatz auf Sardinien, geprobt wird.

Begonnen haben die Kriegsspiele 1963, als Kai-Uwe von Hassel (CDU) Verteidigungsminister war. Der V-Fall, begründete der Christdemokrat die Einführung der Kurse, könne so plötzlich eintreten, daß keine Zeit mehr bleibe, erst dann Wehrstrafgerichte zu bilden. In einem solchen Falle werde »immer nur das funktionieren, was bereits im Frieden eingerichtet wurde«.

Seitdem funktionierten die Planspiele reibungslos, ganz gleich, ob Christ- oder Sozialdemokraten regierten. Die Justizbeamten kauften Aktentaschen, Stahlkassetten, Kofferradios, Reiseschreibmaschinen, Diktiergeräte, Feldschreibtische und Regale - alles, was ein Richter mit Kombattantenstatus im Ernstfall so gebrauchen könnte. Gesamtetatposten 1983: 225 000 Mark.

Zur Standardausrüstung gehören Taschenwörterbücher für Polnisch, Tschechisch oder Russisch - für den Fall, daß ausländische Kriegsgefangene zu verurteilen sind. Auch 68 Roben, Stückpreis 160 Mark, sind in einem Depot für den V-Fall eingemottet. Für den gehobenen Dienst sehen die Verwaltungsvorschriften als Talar-Besatz Samt vor, rangniedrigere »Angehörige des Wehrjustizdienstes« (amtliche Bezeichnung) müssen sich mit Wollstoff begnügen.

Die Wehrbürokraten haben sogar ein »Tätigkeitsabzeichen« festgelegt - einen »auf die Spitze gestellten Rhombus, der fliederblau eingewebt ist und das in Farbe der Dienstgradabzeichen eingewebte Emblem Schwert und Waage enthält«.

Gestritten wird zwischen Justiz- und Verteidigungsministerium allerdings noch darüber, ob die Wehrrichter bewaffnet an Kampfhandlungen teilnehmen sollen. Die einen plädieren dafür, die Richter den kämpfenden Soldaten gleichzustellen, damit sie bei einer Gefangennahme nicht wie völkerrechtlich ungeschützte Freischärler behandelt werden. Andere raten davon ab, die Wehrrichter zu Angehörigen der Bundeswehr zu machen. Der Hildesheimer Richter Ulrich Vultejus, Sprecher der Organisation »Richter und Staatsanwälte für den Frieden«, der die Kriegsgerichtsübungen als »verfassungswidrig« einstuft, lehnt Richter mit Kombattantenstatus generell ab: »Wir haben aus der Vergangenheit gelernt und werden unseren Beruf so nimmermehr ausüben.«

Eine öffentliche Diskussion über die Wehrstrafgerichte, vermutet Vultejus, sei den Regierenden in Bonn gegenwärtig »politisch zu heiß«. Beabsichtigt sei offenbar, die geheimgehaltenen Gesetzentwürfe dem Deutschen Bundestag »überhaupt nicht vorzulegen«, sie vielmehr im Verteidigungsfalle kurzfristig von einem Notparlament beschließen zu lassen - ein Plan, der für die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen an den »Tatbestand der Vorbereitung eines Staatsstreichs« grenzt.

Seine Bedenken übermittelte Vultejus dem Bundestagspräsidenten Rainer Barzel, der das Notparlament, einen 33köpfigen Ausschuß von Mitgliedern des Bundestags und Bundesrats, leitet. Der Ausschuß, schrieb der Richter, »hätte unter dem Druck der Verhältnisse, auch dem Zeitdruck, gar keine andere Wahl, als den Entwürfen zuzustimmen«. Die Bundesländer, für Aufgaben der Justiz zuständig, würden »mit Rücksicht auf die Aktivitäten des Bundes« keine Vorbereitungen für den Kriegsfall getroffen haben und seien »der Aufgabe deshalb nicht gewachsen«.

Daß die Verschlußsachen, die nach Beendigung der Übungsveranstaltungen wieder einkassiert und weggeschlossen werden, bisher eingebunkert blieben, hat nach Meinung von Rechtsexperten einen plausiblen Grund: Viele Vorschriften sind mit dem Rechtsstaatsgedanken nicht vereinbar.

Der in Artikel 101 des Grundgesetzes garantierte Grundsatz des »gesetzlichen Richters«, kritisiert etwa der Düsseldorfer Rechtsanwalt Günter Tondorf, verkomme »zu bloßer Beliebigkeit«. Nach Paragraph 25 der Wehrstrafgerichtsordnung (WStGO) kann auch derjenige Richter entscheiden, der »am leichtesten erreichbar ist«. Und die Gültigkeit einer gerichtlichen Entscheidung werde nicht dadurch berührt, »daß bei ihr ein nach der Geschäftsverteilung nicht zuständiger Richter mitgewirkt hat«.

Anders als die Strafprozeßordnung (StPO) erlaubt die WStGO gegen Urteile der Militärgerichte weder Berufung noch Revision. Zwar gibt es eine nächsthöhere Instanz, die die Plausibilität der festgestellten Tatsachen überprüfen soll, aber anstelle des zuständigen Oberwehrgerichts entscheidet notfalls über den Einspruch wieder das »am leichtesten erreichbare«, wenn kein Oberrichter erreichbar ist, jedoch am Ende dasselbe Wehrgericht, dessen Urteil angefochten wurde.

Und den Bundesgerichtshof, dem die Wehrstrafgerichte laut Grundgesetz untergeordnet sind, kann der Verurteilte überhaupt nicht anrufen, selbst wenn er lebenslang erhält.

Die Rechte von Beschuldigten sind stark eingeschränkt: *___Ein tatverdächtiger Soldat kann schon dann verhaftet ____werden, »wenn bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, ____daß sein Verbleiben auf freiem Fuße die Schlagkraft ____oder Kampfführung der Truppe gefährden werde und die ____Haft zur Abwendung dieser Gefahr erforderlich ist«; *___der Verdächtige ist »spätestens am vierten Tage nach ____der Ergreifung« dem Haftrichter vorzuführen, nach ____geltender StPO muß dies bereits am Tag nach der ____Festnahme erfolgen; *___bei der Haftprüfung hat der Beschuldigte »keinen ____Anspruch auf mündliche Verhandlung«; eine ____obligatorische Kontrolle durch ein Obergericht ist, im ____Gegensatz zur StPO, nicht vorgesehen; *___die Mitwirkung eines Verteidigers wird erst dann ____"notwendig, sobald das Hauptverfahren eröffnet worden ____ist«; ist kein gelernter Jurist erreichbar, können auch ____"Soldaten und Beamte der Bundeswehr« ohne einschlägige ____Vorbildung vom Gericht als Verteidiger bestimmt werden, ____sie müssen lediglich »das 21. Lebensjahr vollendet ____haben«; *___bei zu erwartenden Strafen bis drei Jahren kann die ____Wehranwaltschaft »schriftlich oder mündlich den Antrag ____auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren stellen, ____wenn der Sachverhalt einfach und die sofortige ____Aburteilung möglich ist«.

Das Jugendgerichtsgesetz wird im Verteidigungsfall praktisch außer Kraft gesetzt. Jugendliche werden beim Strafvollzug den Erwachsenen gleichgestellt; das Legalitätsprinzip ist aufgehoben, weil die Autoren der Gesetzestexte eine Strafverfolgung im Krieg nicht zwingend vorgeschrieben haben, und Justizminister und Verteidigungsminister sollen wie zu unseligen Zeiten anordnen können, »daß Vollzugseinheiten gebildet werden und bei diesen Einheiten militärischer Dienst im geschlossenen Arbeitseinsatz geleistet wird«.

Einige gravierende Unterschiede zur NS-Zeit gibt es: Standrecht und Todesstrafe sind abgeschafft. Der diffuse Vorwurf der Wehrkraftzersetzung, dem im Dritten Reich rund 10 000 deutsche Soldaten zum Opfer fielen, kommt in der Gesetzessammlung nicht vor.

Auch sprachlich hat sich einiges geändert - die Strafbataillone heißen jetzt »Vollzugseinheiten«. Aber die Vorschriftensammlung hat mit dem Gedankengut von damals manches gemein. Die Militärjuristen sind auch nach den heutigen Schubladengesetzen mehr Helfer der Truppen als Diener des Rechts - ihre vorrangige Aufgabe ist es, Soldaten zu disziplinieren.

Die Empfindlichkeit der Militärs gegenüber Kritikern ist geblieben. Der Infanterie-Hauptmann d. R. Stauf, der ein »Faible fürs Militärische« hat, darf nach seiner internen Kritik nicht mehr an Übungen der Truppe teilnehmen.

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