AUSSENPOLITIK Sand im Faß
Katrin Lot, Bürgerin der DDR, wollte sich scheiden lassen. Sie war der Ehe überdrüssig; einen juristischen Scheidungsgrund hatte sie nicht. »In der Sowjet-Union«, sinnierte sie, »wäre es einfacher.«
Ihr Gatte, Offizier der Volksmarine, wußte es besser: »Das geht aber auch dort nur, wenn ein Mann sich besäuft und seine Frau dann verdrischt.«
Da kam die scheidungslustige Katrin auf die rechte Idee und riet: »Von der Sowjet-Union lernen heißt siegen lernen!«
Diese Szene, in der die Anhimmelung Moskaus durch die Zone veralbert wird, stammt aus dem unlängst uraufgeführten DDR-Lichtspiel »Lots Weib«. Sie ist
symptomatisch für eine späte Anwandlung des DDR-Regimes, nicht mehr kritiklos als unfehlbar zu übernehmen, was aus Moskau kommt.
Am vorletzten Wochenende machte das die Politspitze der SED deutlich:
- DDR-Chef Walter Ulbricht wies in
der Funk- und Fernsehsendung »Sonntagsgespräch« darauf hin, daß bei allen sowjetischen Erfolgen »in einem solch riesigen Land wie in der Sowjet-Union... manche Widersprüche« entstünden, »die gelöst werden müssen«.
- SED-Propagandist Eisler zitierte in derselben Sendung Lenins Ansicht, die werktätigen Klassen könnten »die Revolution nicht durchführen, ohne Fehler zu machen«. Und: »Mit dem Ausbruch der Revolution sind die Menschen nicht zu Heiligen gemacht worden.«
- Politbürokandidat Herrmann Axen
dozierte auf einem Festakt zur russischen Oktober-Revolution in Ost-Berlin, um die Jahrhundertwende habe sich zwar. »das Zentrum 'der revolutionären Bewegung nach Rußland verlagert«. Aber es sei klar, »daß sich in unseren Tagen das Zentrum der revolutionären Bewegung nicht mehr allein in einem Lande konzentriert«.
Die von Axen artikulierte SED-Ansicht, daß Moskau nicht »allein« das Zentrum der revolutionären Bewegung sei, ist der bislang deutlichste Schritt in den gleichwohl bescheidenen Emanzipationsversuchen der DDR. Diese Bemüh- ungen Ost-Berlins zielen darauf ab, aus der Komparserie des stumpfsinnig gehorchenden Satelliten ins Charakterfach eines gleichwertigen Partners von Moskau zu wechseln.
Den dabei spürbaren Anflug von? Selbstbewußtsein beziehen die DDR -Regenten aus der für sozialistische Verhältnisse beachtlichen Wirtschaftskraft der Zone, die längst wichtigster Außenhandelspartner der Sowjet-Union ist und beispielsweise 75 Prozent aller sowjetischen Werkzeugmaschinen-Importe liefert. Daß sie auch Üppiges bieten kann, ist zur Zeit in einem eigens eingerichteten DDR-Großgeschäft namens »Leipzig« auf dem Moskauer Lenin -Prospekt zu sehen: rare Gebrauchsgüter wie Galanteriewaren, Kosmetika und Spielsachen. Das glitzernde Konsum -Kabinett mit einer hundert Meter langen Schaufensterfront ist eine Attraktion für Sowjetmenschen.
Und der sowjetischen Regierung bot sich die DDR erfolgreich als Partner mit Mitgift dar. Offerten:
- das zuerst in der DDR praktizierte
»neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (Nöspl) - es wurde im vorletzten Monat auf Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU im wesentlichen auch in der Sowjet-Union eingeführt;
- eine engere ökonomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit - sie wurde bei Ulbrichts Moskau -Besuch im September besiegelt. Ein paritätischer Regierungsausschuß soll künftig zwischen Moskau und Ost -Berlin bilateral abmachen, was nach den Statuten der Ost-EWG, des »Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW) eigentlich nur multilateral zwischen allen sozialistischen Bruderstaaten geregelt werden darf. Ein zweiseitiges Geschäft, so machte Ulbricht den Sowjets klar, müsse für beide Seiten viel erfolgversprechender sein als die RGW -Konstruktion, die dauernd wirtschaftliche Rücksichten auf die schwächeren Mitgliedstaaten verlange.
Die neue Abmachung zwischen Moskau und, Ost-Berlin markiert nach sozialistischem Vokabular einen »neuen, höheren Abschnitt in den Beziehungen zwischen DDR und UdSSR«. Allerdings: Dieser wirtschaftliche Querstabilisator zwischen Russen und Deutschen ist nicht geeignet, die - trotz freundschaftlicher Beteuerungen - gespannten Beziehungen zwischen der DDR und den außersowjetischen Staaten des Ostens zu bessern. In Prag, Warschau und Budapest wird die Liaison Ost-Berlin/ Moskau verdrossen registriert.
Es war ohnedies ein kühler Sommer für die sozialistische Solidarität. Im Juli waren die Ungarn verprellt, als die SED herbeigebetenen Bruder-Delegationen das Nöspl-System in der Praxis vorführte und dabei spüren ließ, daß die Genossen aus dem Ungarland wohl zurückgeblieben seien. Im September protestierte die DDR bei den Tschechen gegen die Modalitäten eines Karlsbad -Besuchs des westdeutschen ÖTV-Vorsitzenden Kluncker.
Und die Polen mußten hinnehmen, daß die DDR polnische Bahn-Lieferungen für West-Berlin zum Teil nur über unsinnige Umwege ans Ziel gelangen läßt: Die Züge rollen von Polen an West-Berlin vorbei bis nach Helmstedt und erst von dort (im Rahmen des Interzonenhandels) nach West-Berlin - Ulbrichts Rache dafür, daß Polen gemäß Bonner Wünschen West-Berlin als Teil des westdeutschen Wirtschaftsgebietes akzeptiert hat.
Und nicht eben Feingefühl demonstrierte Ulbricht gegenüber den polnischen Genossen, als er Anfang Oktober in Leipzig den Mann rühmte, der für die Polen bis heute der nach Hitler hassenswerteste Deutsche ist: Bismarck. »Wir verhehlen nicht«, sprach der DDR -Chef, »daß wir .. . bestimmte Grundelemente der späten Bismarckschen
Außenpolitik zu Elementen unserer eigenen Außenpolitik gemacht haben.«
Der sächsische Kommunist bemühte den preußischen Junker als Kronzeugen dafür, daß man mit Rußland »in Frieden leben« müsse - mit eben jenem Rußland, das nunmehr die DDR als vollwertigen Partner akzeptieren soll. Wie selbstsicher sich die Zone in ihrem »neuen, höheren« Verhältnis zu Moskau wähnt, zeigt derweil die sowjetzonale Staatsfilm-Produktion:
In dem jüngst präsentierten Defa -Lichtspiel »Tiefe Furchen« tritt ein sowjetischer Ortskommandant auf, der einen bewährten deutschen Genossen aus dem Bürgermeisteramt jagt und ihn durch einen Faschisten ersetzt. Oder anders: Auch Sowjetmenschen irren.
In dem Film »Karbid und Sauerampfer« schließlich wollen einfältige sowjetische Offiziere in der Zone - die Szene spielt 1945 - eine Ladung Karbid-Fässer beschlagnahmen. Sie werden von einem deutschen Arbeiter, der den Transport beaufsichtigt, genarrt. Er dreht den Sowjets Fässer mit Sand an.
DDR-Kaufhaus »Leipzig« in Moskau, Szene aus dem DDR-Film »Karbid und Sauerampfer": Von den Russen siegen lernen