Sanfte Gegenrede zur kriegerischen Sprache
Günther Gillessens Buch über die Geschichte der »Frankfurter Zeitung« ("FZ") unter Hitler gehört zu den spannendsten zeitgeschichtlichen Neuerscheinungen der letzten Monate. Das verdankt es dem fesselnden Gegenstand mehr als dem Autor. der, lange Zeit Redaktionsmitglied der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ("FAZ"), eine daher stammende Befangenheit viel zu wenig ablegen konnte.
Im Schlußkapitel der berühmten Zeitung, die der jüdische Selfmademan und 1848er Demokrat Leopold Sonnemann gegründet hat, drängen sich Glanz und Elend der deutschen bürgerlichen Geisteselite wie in einem Brennspiegel zusammen. Die Namen der regelmäßigen Mitarbeiter aus den zwanziger und drei-Biger Jahren sprechen für sich: Max Weber und Theodor Heuss, Joseph Roth und Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Benno Reifenberg, Walter Dirks und Dolf Sternberger, Bernhard Guttmann und Bernhard von Brentano, Rudolf Kircher und Friedrich Sieburg.
Ein erstes Revirement im Zusammenhang mit der Sanierung des bisherigen Familienunternehmens durch den Vorstandsvorsitzenden der I.G. Farben Carl Bosch hatte es schon während der Weltwirtschaftskrise gegeben. Einige linksliberale Redakteure (Guttmann, Brentano) waren ausgeschieden, andere (Roth, Kracauer, Benjamin) emigrierten 1933. Der Prinzipienliberalismus schwächte sich ab. Mit Kircher, seit 1930 Chef der wichtigen Berliner Redaktion und dort vor allem für die Regierungs- und Außenpolitik zuständig, und dem talentierten Friedrich Sieburg, bis zum Krieg auf dem Pariser Korrespondentenposten, war ein neuer schillernder Typus verführbarer Star-Journalisten in die vorderste Reihe getreten.
Bis das neue nationalsozialistische Schriftleitergesetz vom Herbst 1933 jüdische Redakteure verbannte, lag der Vorsitz der kollegialen Redaktionskonferenz in der Frankfurter Eschenheimer Gasse bei dem Sonnemann-Enkel Heinrich Simon, 1934 bis 1938 folgte ihm der feinsinnige Benno Reifenberg.
Die heroische Phase der 1856 zunächst unter anderem Titel gegründeten Zeitung lag weit zurück. Als preußische Truppen 1866 Frankfurt besetzten, war Sonnemanns Blatt vorübergehend ins württembergische Stuttgart ausgewichen. Das war der Anfang einer demokratischen Daueropposition gegen das System Bismarck gewesen. Respekt auch bei ihren Gegnern und großes Ansehen im Ausland verschaffte sich die Frankfurterin durch ihren glänzenden wirtschaftlichen und außenpolitischen Nachrichtendienst und die überaus gediegene journalistische Berufsarbeit.
Die schwächeren Nachfolger Sonnemanns dachten 1933, als Hitler zur Macht kam, weder an Emigration noch an Schließung des Blattes. Nach wenigen Artikeln mutiger Oppositionsankündigung durch Kircher und Reifenberg, als man die härtere Gangart der Nazis im März/April - auch im eigenen Verlagsgebäude - erlebt hatte, stellte die verunsicherte Führungsmannschaft sich rasch auf einen vorsichtigen Attentismus ein. Gleichzeitig war man überrascht und befriedigt, daß auch das NS-Regime, trotz der vorangegangenen Hetze gegen die bürgerlich-liberale »Judenpresse«, das Blatt bestehenließ und wegen seines Ansehens im Ausland sogar vor Eingriffen der Gauleitung in Schutz nahm. Unter solchen Auspizien begann das eher quälende als großartige Schlußkapitel der berühmten Zeitung - durch Gillessen leider schon im Titel ("Auf verlorenem Posten") unangemessen heroisiert.
Um die wahre Geschichte freizulegen, muß man erst die Schicht penetranter Rechtfertigung abtragen, mit der Gillessen sie überzogen hat. Der Leser muß sich auch frei machen von der fast durchgängigen Einspannung des Themas in die starr alternative Fragestellung: Widerstand oder Anpassung? Ob die Fortführung der »FZ« im Dritten Reich dem »Anderen Deutschland« oder dem NS-Regime diente, läßt sich gerade nicht mit »Ja« oder »Nein«, sondern nur mit »Sowohl als auch« beantworten.
Was unserem moralischen Reinlichkeitsbedürfnis im Umgang mit der NS-Zeit so wenig entspricht, wird gerade im Falle dieser Zeitung exemplarisch sichtbar: Fast alle wirksame Resistenz war nur partiell und mit partiellen Diensten für das Regime erkauft.
Ein guter Teil der alten sterilen Kontroverse über die Rühmlichkeit oder Unrühmlichkeit des Behauptungsversuchs unter Hitler - sie setzte schon unmittelbar nach dem Verbot der Zeitung 1943 ein und ist in den Rezensionen des Gillessen-Buches wiederauferstanden -
beruht auf der Pauschalität nachträglicher Wertungen. Damit wird das erst in der Spätphase des Regimes erfahrene grauenhafte Ausmaß der Inhumanität rückprojiziert auf Vorgänge und Haltungen schon der Jahre 1933/34 oder 1936/37. Die Stellung der »Frankfurter Zeitung« während der NS-Zeit ist jedoch genetisch zu sehen. Das bedeutet auch, daß anfängliche Motive und Chancen durch spätere Entwicklungen und Fakten ganz überrollt wurden und nicht mehr wiederherstellbar waren.
Auch Gillessen begeht den methodischen Fehler, daß er den aus der Zeit selbst stammenden Quellen spätere, nach 1945 entstandene Reflexionen, Rechtfertigungen und Rationalisierungen gleichwertig an die Seite stellt oder gar als vermeintliche Fakten in die Schilderung der Ereignisse einsetzt. Beispiel: In einer Aufzeichnung über »die zehn Jahre« der »FZ« unter Hitler stellte Reifenberg die Überlegung an, ob 1933 für die »FZ« eine Emigration, etwa in die Schweiz, in Frage gekommen wäre: »War es denkbar, von der deutschsprachigen Schweiz her den Sorgen Deutschlands Ausdruck zu geben und solcherart der Nation zu nützen? Das Blatt hätte außerhalb der deutschen Grenzen notwendig die Sprache der Emigration gesprochen, und das war nach aller geschichtlicher Erfahrung eine taube Sprache.«
Gillessen nimmt diese wahrscheinlich nur in nachträglicher Überlegung entstandene Argumentation als historische Tatsache und setzt sie in den Gang seines Berichtes so ein, als ob im inneren Führungskreis des Blattes nach dem 30. Januar 1933 tatsächlich solche Erwägungen angestellt und aus den von Reifenberg angegebenen Gründen verworfen worden wären. Da gerade für diese Phase Protokolle der Redaktionskonferenzen und auch Briefe Simons vorliegen, die dafür keine Anhaltspunkte liefern, spricht alles gegen die Version.
In dem Bestreben, die oppositionelle Festigkeit der »FZ« herauszustellen, kommt Gillessen auch zu keiner treffenden Bewertung des schnellen Haltungswechsels von anfänglicher imponierender Courage zu vorsichtiger Distanzierung im Februar/März 1933. Es war der Schock über das damals mit den Massenverhaftungen nach der Reichstagsbrand-Notverordnung erstmals zutage tretende Ausmaß der Gewalttätigkeits-Energie des neuen Regimes, der sofort klarmachte, daß eine kraftvolle legale Opposition nicht zu riskieren sein würde. Das führte dazu, daß Simon und Reifenberg für vorsichtige Reserviertheit votierten, während Kircher schon jetzt begann, den neuen Machthabern »staatsmännische« Teilübereinstimmung in Fragen der Außenpolitik und der neuen Organisation der politischen Kräfte zu signalisieren.
Am 25. März schrieb Simon an Kircher, seine Aufforderung zu größerer Zurückhaltung in der Berichterstattung sei geleitet von dem Ziel, »die sich
daraus ergebende Distanz« dem Regime gegenüber spürbar zu machen. Für den jüdischen Chef des Blattes war das damals weniger ein Element langfristiger Oppositionsstrategie als eine Frage der Selbstachtung. Es gehe doch auch darum, so schrieb er an Kircher mit einem auffälligen Lapsus linguae, »den fatalen Beigeschmack allzu rascher (!) Umstellung« zu vermeiden.
Auch von der späteren Phase zwischen 1935 und 1938, als die »FZ« prinzipielle Opposition längst aufgegeben hatte, nur noch versteckt oder auf Nebenschauplätzen die abweichende Meinung hervorscheinen ließ, gibt Gillessen nicht immer ein getreues Bild. Neben den Beispielen für negative Presselenkung mit Drohungen und Einschüchterungen, die er anführt, vermißt man (vor allem in den Nachschriften des einstigen »FZ«-Redakteurs Fritz Sänger über die täglichen Pressekonferenzen in Berlin) vorhandene Dokumente über andere Methoden. Sie zeigen, daß es auch wirksame »positive« Vereinnahmung gab. Sie konnte zum Beispiel darin bestehen, daß die sonst oft gefürchteten Herren aus dem NS-Propagandaministerium einzelne Artikel der Zeitung besonders lobten oder sich an ihnen sogar ergötzten.
Inzwischen hatte Kircher längst begonnen, sich und seine hervorragenden Kenntnisse und Fähigkeiten weit über das gebotene Maß hinaus dienstbar zu machen, um sich Bewegungsspielraum und Protektion zu verschaffen. Der Fall Kircher war symptomatisch nicht nur wegen der moralisch doppeldeutigen Rolle des auch wegen einer homosexuellen Affäre angreifbaren Mannes (Kircher ging deswegen 1938 nach Rom und schrieb von dort aus seine regelmäßigen »römischen Berichte« zur außenpolitischen und Kriegs-Lage). Er verdeutlichte in besonderem Maße, daß die der »FZ« eingeräumte Sonderstellung gewichtiger Protektion innerhalb des Regimes zu verdanken war.
Sie kam vom Auswärtigen Amt und von der Wehrmacht, auch von Goebbels und vor allem von Rolf Rienhardt, dem intelligenten Stabsleiter des nationalsozialistischen Pressekonzernchefs Max Amann. Es ist ein Verdienst Gillessens, daß er diese wirksame Protektion deutlich ins Licht gerückt hat. Die Vorstellung einer durchgängigen Konfrontation von »Frankfurter Zeitung« und NS-Führung wird dadurch korrigiert. Fast hätte Rienhardt auch das 1943 schließlich von Hitler selbst veranlaßte Verbot der Zeitung noch verhindern können.
Anlaß für das Verbot war ein Artikel des Feuilleton-Mitarbeiters Herbert Küsel im März 1943 anläßlich des 75. Geburtstages des verstorbenen völkischen Dichters Dietrich Eckart, der Hitler in seinen Münchner Anfängen ein besonders wichtiger Förderer und Anreger gewesen war und deshalb hohe Verehrung erfuhr.
Das kritisch-realistische Porträt, das Küsel auf offizielle Aufforderung geliefert hatte, entsprach diesem Kanon wenig. Hitler erfuhr davon in München von Gerdy Troost, der Witwe des »Führer-Architekten«, und befahl spontan, nun endlich gegen das Frankfurter Blatt vorzugehen. Küsel wurde verhaftet, dank der Rührigkeit Rienhardts aber bald wieder freigelassen.
Im Sommer schien es, daß über die Sache Gras wachsen könnte. Das verhinderte, wie es scheint, ein purer Zufall. Gillessen erfuhr darüber folgende plausible Geschichte: Während einer Urlaubsabwesenheit von Hitlers Pressechef Otto Dietrich habe sein Vertreter im Führerhauptquartier in der täglichen Pressemappe auch die »FZ« vorgelegt, die Dietrich schon lange nicht mehr gezeigt habe, da er Hitlers Wut auf die Zeitung kannte. Im Glauben, die Zeitung sei längst eingestellt, habe Hitler einen Wutanfall bekommen und die endgültige Schließung angeordnet.
In bezug auf frühere Phasen des Regimes hatte Reifenberg nach dem Krieg zur Begründung der Fortexistenz der Zeitung noch anführen können: Die Redaktion habe das sichere Gefühl gehabt, sie hätte »die besten Kräfte in Deutschland im Stich gelassen«, wenn sie »inmitten der gänzlich fiktiven Öffentlichkeit« im Dritten Reich »die immer noch mögliche Stimme der Realität« nicht mehr erhoben hätte. Auch persönlich geschockt durch eine zweitägige Verhaftung wegen der liebevollen Beschreibung eines Van-Gogh-Bildes, das die Nazis aus dem Frankfurter »Städel« entfernt hatten, war Reifenberg seit 1938/39 ins zweite Glied zurückgetreten.
Über die folgende Phase schrieb er wenig euphorisch 1945: »So schleppte sich die 'Frankfurter Zeitung' unter dem Zwang des Staates und der immer schwerer werdenden Last des eigenen Gewissens wie durch einen wüsten Traum des Landes einsam und überwach weiter.«
Männern wie Reifenberg, denen es noch um Inhalte ging, hätten es wohl am liebsten gesehen, wenn es schon 1939/40 zur Schließung der Zeitung gekommen wäre. Ihnen standen weniger sensible Pragmatiker gegenüber wie Erich Welter, der zur Erhaltung der Zeitung beinahe jeden Preis zu zahlen bereit war (und nach dem Kriege die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« gründete). Um das 1943
ergangene Verbot abzuwenden, scheute sich Welter, wie Gillessen berichtet, auch nicht, dem renommierten NS-Journalisten Schwarz van Berk die Leitung der Zeitung anzubieten.
Schon wegen solcher Auffassungsunterschiede, aber vor allem wegen der im Krieg noch erheblich angewachsenen Risiken jeden Anscheins von »Fahnenflucht«, war seit 1939 eine von der Redaktion gewollte Aufgabe des Blattes gar nicht mehr möglich. Gillessen übergeht das Problem, aber Reifenberg war so ehrlich, es nach dem Krieg auszusprechen: Man sei sich im engeren Kreis der Redaktion bewußt gewesen, daß man gar nicht mehr die praktische Möglichkeit besessen habe, die Zeitung zu schließen und »sich selbst auf eine so demonstrative Art ein Ende zu geben«.
Konnte Reifenberg für die ersten Jahre des Regimes noch selbstbewußt feststellen, daß keine Nazi-Infiltration im großen Kreis der etwa 80 Redakteure erfolgt und eine denunziationsfreie Atmosphäre menschlichen Anstandes und vertrauensvoll offenen Gesprächs erhalten geblieben war (er selbst, die »Seele« der Redaktion, hatte daran entscheidenden Anteil), so galt das nicht mehr in gleichem Maße für die Kriegszeit. Kollegiale Formen der Beschlußfassung über die »Politik« der Zeitung entfielen, auch weil eine verbindliche Politik für die Gesamtredaktion nicht mehr durchsetzbar war Reifenberg: »Die Homogenität der Redaktion galt nur insofern, als man schweigend nebeneinander arbeitete.«
Der resignative Ton solcher Äußerungen, von Reifenberg aus der noch frischen Erinnerung schon 1945 aufgeschrieben, klingt mir authentischer als das forcierte Stakkato der Argumentation, mit der Günther Gillessen am Schluß seines Buches sich und den Lesern noch einmal jeden Zweifel ausreden will daß das Experiment der Fortführung der »Frankfurter Zeitung« in der Hitler-Zeit sinnvoll gewesen und als erfolgreiche Opposition zu bewerten sei.
Stärker als Gillessen möchte ich betonen: Das Hauptmotiv des Weitermachens lag von vornherein nicht auf der politischen, sondern auf der professionellen Ebene. Man wollte weiter eine möglichst gute Zeitung machen, möglichst exakte Nachrichten beschaffen, die alte Solidität des journalistischen Handwerks und vor allem auch die Redlichkeit der Sprache in Ehren halten. Daß auch das Widerstand genannt werden kann, möchte ich mit Gillessen bejahen. Die totalitäre Perfektionierung des Regimes, die längst keine offene Opposition mehr zuließ und die geheime grausam hart zu bestrafen wußte, erzeugte selbst eine Verwandlung des ihr zuzuordnenden Widerstandes.
Die sanfte Gegenrede zur kriegerischen Heroismus-Sprache des Regimes in der Form eines Gedichts oder einer Kunstbetrachtung konnte unter solchen Umständen eine wichtige Form des Widerstehens sein. Aber sie macht sich unglaubwürdig, wenn sie auf der politischen Bedeutung, die solche Flucht in die Innerlichkeit oft gar nicht hatte, unbedingt besteht. Die von der Diktion Gillessens abweichende Trauer Reifenbergs scheint mir auch deswegen die angemessenere Form der Erinnerung an das letzte Kapitel der Geschichte der alten Frankfurterin zu sein.