NORDIRLAND Sarg oder Burg
Es ist eine unsichere Gegend, in der Taten von kleinen Gruppen oder einzelnen Psychopathen den Herzschlag der Menschen bestimmen. Die sind Gefangene der Geschichte von gestern. Rache wird fast unvermeidbar. Wie-du-mir-soich-dir-Morde gehören zum Alltag.«
So beschreibt der ehemalige Minister für Nordirland, Merlyn Rees, Ulster, die britische Provinz auf der grünen Insel. Seit August 1969, als der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten ausbrach, sind dort 2650 Menschen solchen Morden zum Opfer gefallen. Ein bitteres Wort aus der Zeit der irischen Hungersnöte im vorigen Jahrhundert klingt aktuell: Das Heim eines Engländers ist seine Burg. Das Heim eines Iren ist sein Sarg.
Wird der Sarg mit der orange-weißgrünen irischen Trikolore bedeckt, war das Opfer ein Katholik. Der blau-weißrote britische Union Jack signalisiert dagegen einen verblichenen Protestanten. Nordirland - stolz getrennt bis in den Tod.
Totenfeiern wurden zum wichtigsten Ritual im Leben der beiden Bevölkerungsgruppen, besonders bei den Katholiken.
In der Zeit gemeinsamer Trauer erzeugen Mahnwachen und Messen, Fahnen und Kreuze ein geradezu stammesmäßiges Zusammengehörigkeitsgefühl. Die erschauernde Nachbarschaft erfährt bei solchen Gelegenheiten nicht selten, daß der junge Mann von nebenan Mitglied der Untergrundarmee der IRA war: Ein schwarzes Barett und schwarze Handschuhe auf dem Sarg bezeugen es.
Die geheimnisvoll-romantische Atmosphäre wird weiter angeheizt, wenn plötzlich eine Gruppe Maskierter auftaucht, die mit Gewehren eine Ehrensalve abfeuert. Weil die Polizei das am offenen Grab oft verhindert, schießen die Mitkämpfer zuweilen ihren Salut vor einem schnell hergerichteten Schrein mit Photos des Toten irgendwo in der Stadt.
So scheint es manchmal, als ob verstorbene Iren wichtiger wären als lebende. »Diese Narren, diese Narren. Sie haben uns unsere Toten beschert«, soll der legendäre Führer des Osteraufstandes von 1916 in Dublin, Padraic (Patrick) Pearse, über die Briten ausgerufen haben. Wohl wahr. Die Republik Irland und Ulsters Katholiken verehren die im Kampf gegen England gefallenen Märtyrer bis heute geradezu kulthaft. Gedenkfeiern und Beerdigungen gelten auch als ergiebigste Rekrutierungsplätze der IRA.
Nordirlands Protestanten huldigen dem Totenkult weniger, aber auch sie zeigen »eine geradezu mystische Liebe zu Fahnen und Emblemen« (so der Londoner »Sunday Telegraph"). Die Märsche ihrer uniformierten Orange-Orden zünden Jahr für Jahr »Kettenreaktionen von atavistischer Begeisterung in der Gemeinschaft«.
»Wir haben zwei Herden von Bullen, die in verschiedene Kirchen gehen. Und diese Bullen haben verschiedene Fetzen«, spottete der irische Journalist P. P. O'Reilly. Die Fahnen der einen Herde würden auf die andere wie ein rotes Tuch wirken.
Tatsächlich verbietet ein »Emblems Display Act« von 1954 das Hissen der Trikolore in Nordirland. In katholischen Hochburgen achtet allerdings kaum jemand das Gesetz. Neuerdings können die Behörden auch die herausfordernde Zurschaustellung der britischen Flagge untersagen, etwa bei Märschen von Protestanten durch katholische Wohngegenden.
Solche Paraden provozieren immer wieder Unruhen. Totenfeiern hingegen waren für die bitter verfeindeten Religionsgemeinschaften tabu - bis vor einigen Monaten. Dann aber zündete die IRA am britischen Heldengedenktag im vergangenen November am Kriegerdenkmal im nordirischen Enniskollen eine Bombe. Elf Protestanten starben, Dutzende wurden verletzt.
Die Rache folgte Mitte März. Der protestantische Fanatiker Michael Stone stürmte als Einzelkämpfer auf den Belfaster Milltown-Friedhof, wo über 5000 Katholiken drei von britischen Spezialagenten in Gibraltar erschossene IRA-Kämpfer zu Grabe trugen (SPIEGEL 11/ 1988). Er tötete mit Handgranaten und Schüssen drei Trauergäste und verletzte 68.
Als eines der Opfer drei Tage darauf beerdigt werden sollte, kam es zum bisher perversesten Zwischenfall: Der Trauerzug mit der Leiche des ermordeten Kevin Brady unterbrach den Gang zum Friedhof. Die gramgebeugte Gemeinde verwandelte sich eben mal in einen mordgierigen Lynchmob, brachte zwei Menschen um und zog dann weiter zum Grab.
In der aufgeheizten Atmosphäre des Trauertages hatten sich zwei britische Soldaten in Zivil in einem Auto verdächtig gemacht, mit dem sie mitten in den Leichenzug fuhren. Wütende Männer zerrten die beiden Unbekannten aus ihrem Wagen, rissen ihnen die Kleider vom Leib, schlugen sie fürchterlich zusammen und richteten sie schließlich mit Schüssen hin. Ob die beiden Briten die Gegend ausspähen wollten oder durch Zufall in die Prozession geraten waren,
wird möglicherweise nie geklärt werden. Aber sie hatten, noch dazu bewaffnet, das Ritual entweiht, und wer das tut, wird buchstäblich zerrissen.
Nach dem grauenhaften Vorfall, der teilweise gefilmt und rund um die Welt vom Fernsehen ausgestrahlt wurde, forderten protestantische Ulster-Politiker den Rücktritt von Nordirland-Minister Tom King. Denn der hatte bei den letzten Beerdigungen nicht wie üblich Ulsters Polizei und britische Truppen aufmarschieren lassen, sondern durch Vermittlung der katholischen Kirche eine Vereinbarung erreicht:
Die Streitkräfte bleiben weg, wenn auf Propaganda-Shows an den Gräbern - wie Auftritt maskierter IRA-Ehrenformationen und Abfeuern von Saluten - verzichtet wird.
Beide Seiten hielten sich an die Abmachung. Aber anstelle der üblichen Prügelszenen zwischen Polizisten und Trauergästen kam es zum Totschlag.
»Die Sicherheitskräfte sind in einer Lage, in der sie nicht gewinnen können«, verteidigt sich King. Die Rückkehr zu massiven Polizei- und Truppenaufgeboten erscheint unvermeidlich.
Die Militärexperten des Londoner »Daily Telegraph« rechneten aus, daß jeweils drei Bataillone, ein Drittel der Streitkräfte in Ulster, erforderlich seien, um bei Beerdigungen alle Absperrungen und Kontrollpunkte zu besetzen.
Eine Serie von Begräbnissen würde Verstärkungen mit Truppen aus England oder der Bundesrepublik erfordern - auf Kosten der britischen Nato-Verpflichtungen.