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Save our Soul

Global Village: Im Pariser Finanzdistrikt La Défense singt ein Gospelchor gegen die Krise an.
aus DER SPIEGEL 53/2009

Früher in Amerika, sagt Philippe Ronsin, katholisch, weißhaarig, lustig, konnten die Sklaven ihre Herren nur beim gemeinsamen Gang in die Kirche sehen, »und wissen Sie was? Das ist in Frankreich heutzutage eigentlich nicht viel anders«. Ronsin sitzt bei einem bescheidenen Mittagessen im Untergeschoss des Kirchleins Notre-Dame de Pentecôte weit im Westen von Paris, es gibt Pute mit Nudeln und Gemüse. Wer den kleinen Betonbau mit dem Kreuz an der Fassade nicht kennt, übersieht ihn leicht, denn er steht winzig inmitten hundertfach größerer Kathedralen des Geldes und der Macht, im nach Bürofläche größten Business District Europas mit Namen La Défense.

Immer mittags, von 12.30 bis Punkt 13.30 Uhr, wenn die 160 000 Arbeiter ringsum in Schlips und Kragen oder dunklem Kostüm aus den Bürotürmen strömen, steht in Notre-Dame für Momente der Werktag still, es wird zu Brokern gepredigt, zu Direktorinnen, Sekretärinnen.

Manager beten neben Pförtnern, Aufsichtsräte knien neben Putzfrauen, und immer freitags leitet Philippe Ronsin die Probe des Gospelchors von La Défense, um dem seelenlosesten Quartier von Paris ein wenig Soul einzuhauchen.

Der Ort hat es nötig. La Défense, der Name kommt aus gemütlichen Epochen, als Paris nur gegen die Preußen verteidigt werden musste. Heute steht die ganze Welt vor der Tür, und auf der kilometerlangen Achse, die zum Arc de Triomphe zeigt, sind die Armeen versammelt, die in jüngster Zeit große Schlachten verloren haben, AIG und Société Générale, HSBC und Lehman Brothers. Letztere mussten die Segel streichen, aber sie haben sich in La Défense ein Denkmal gesetzt, das bleiben wird, das größte Bürogebäude Europas, 180 000 Quadratmeter Nutzfläche, gekauft für mehr als zwei Milliarden Euro, ein 160 Meter hohes liegendes, schiefes U.

Auch aus ihm kommen freitags ein, zwei Sänger herüber zu Philippe Ronsin, um Gottes frohe Botschaft zu feiern. Die Chormitglieder arbeiten alle in den Türmen ringsum, zusammen sind sie 60, 70 Leute, Amerikaner dabei, Asiaten, Afrikaner. Es fehlt an Tenören, und dieser Trend kann sich verschlimmern, gerade sind wieder vier Sänger arbeitslos geworden. Die Weltkrise trifft auch den Gospelchor.

»Man spürt, was da draußen los ist«, sagt Philippe Ronsin, er sieht jung aus für seine 71 Jahre, »im Augenblick fehlt die Lockerheit, es ist da ein großer Leidensdruck.«

Bis 2001 hat er selbst in der Mühle von La Défense gesteckt, wo sich im Lauf der Jahrzehnte nicht nur Banken und Versicherungen angesiedelt haben, auch die Öl- und Gasgesellschaften sind da, die Strom- und Stahlkonzerne. Ronsins Wabe lag im Turm namens Ariane, beim Zementkonzern Ciments français war er zuständig fürs internationale Geschäft, ein weltreisender Direktor, der in den USA den Gospel lieben lernte, die Musik der Plantagen, sagt er, »die afrikanische Rhythmen mit europäischen Melodien verheiratet«.

Er legt die Gabel weg und gibt eine Kostprobe. »Do Lord, oh do Lord, oh do remember me«, und noch einmal, »Do Lord, oh do Lord, oh do remember me«, er singt laut, er hebt die Hände wie ein Prediger, er sagt: »Das macht Spaß, wie? Gottes Botschaft mitten in diesem gottlosen Viertel«, und dann wird gelacht am Tisch.

Eine Künstlerin ist da, die im Gemeindehaus Skulpturen ausstellt, Kinder von Kirchenhelfern springen herum, der Kulturbeauftragte von Notre-Dame, der früher bei IBM in der Nachbarschaft gearbeitet hat, erzählt, dass Gospelchöre aus aller Welt, wenn sie in Paris gastieren, immer nur in zwei Kirchen singen wollen: in Notre-Dame de Paris, der alten Kathedrale, und in Notre-Dame de Pentecôte, dem neuen Betonbau in La Défense, 2001 erst eröffnet und während der Schulferien stets geschlossen, weil das Viertel dann tot ist.

An den allermeisten Freitagen aber ist Musik zu hören. »Go Down Moses«, »Rock My Soul«, »Total Praise« gehören fest ins Repertoire des Chors, in jedem Halbjahr üben sie ein gutes Dutzend Nummern ein, aber eigentlich muss Ronsin ständig von vorn anfangen. Viele Choristen bleiben nicht lange, ihre Firmen schicken sie von Paris aus weiter in die Welt, nach Amerika, nach China, nach Indien, sie bleiben vielleicht ein, zwei Jahre, sie singen ein, zwei Jahre, »dann sind sie wieder weg«, sagt Ronsin, »c'est la vie«.

Einmal, kurz vor Weihnachten, konnte man ihn und seine Truppe bei einem Konzert bewundern, sie treten nicht oft auf, aber wenn, dann tragen sie alle Schwarzweiß und um den Hals gelbe und orange Schals. Sie sangen nicht weit von der Kirche entfernt, im Trubel der Shopping-Mall Les Quatre Temps. Es war die Stunde der Mittagspause in La Défense, die einzige Stunde, in der das Viertel wirklich zu leben scheint, die 160 000 Arbeiter mit Schlips oder im Kostüm hatten ihre Türme verlassen und gingen herum mit Sandwiches in Händen, und manche holten sich sogar die iPod-Stöpsel aus den Ohren, um dem Gospelchor zuzuhören.

Es wurde gesungen und geklatscht, »I'm So Glad« und »My Life Is in Your Hands« und »Elijah Rock«, die Sänger wippten nach links, nach rechts, sie sahen gut aus, sie sangen nicht schlecht. Besonders eindrücklich aber, erschütternd fast, gelang ihnen die Nummer »Heaven Help Us All": »Help the people with their backs against the wall.«

Nun kann der Eindruck täuschen, aber für ein paar kurze Momente wirkte da das Einkaufszentrum stiller, die Passanten ringsum verharrten, als hörten sie die Worte, die Botschaft, als verstünden sie sehr genau dieses Lied von den Leuten mit dem Rücken zur Wand. ULLRICH FICHTNER

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