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SCHACHSPIELER DER KUNST

aus DER SPIEGEL 14/1964

Herbert Ihering, heute 76, begründete seinen Ruf als einer der bedeutenden Theaterkritiker Deutschlands in den zwanziger Jahren am »Berliner Börsen-Courier« Er war - gegen Alfred Kerr - einer der frühesten Förderer Brechts. Von 1945 bis 1954 wirkte Ihering, der in Westberlin wohnt, als Chefdramaturg am Deutschen Theater in Ostberlin. Für die Ostberliner Kulturzeitschrift »Sinn und Form« führte er ein »Theatertagebuch« über ost- und westdeutsche Aufführungen.

Kaum jemals hat es einen Theaterkünstler gegeben, der die gegensätzlichsten Journalisten und Kritiker zu solchen Huldigungsfanfaren angeregt hat wie Gustaf Gründgens. Selbstverständlich distanzierte sich auch manche Kritik. Aber die Sturmflut der Würdigungen nach seinem Tode scheint nicht nur die Intendanten und Regisseure, sondern auch die Schauspieler der letzten Jahrzehnte beiseite zu drängen. Das von Henning Rischbieter herausgegebene Buch »Gründgens - Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter« läßt - und das ist zu loben - verschiedene Gesichtspunkte gelten. Trotzdem, ein anderer Blick in die Zeit, ihre Dramatiker und ihre Theater wird notwendig.

Als Gründgens 1921 am Stadttheater in Kiel engagiert war, traf er dort den jungen Ernst Busch und spielte mit ihm in »Wilhelm Tell« und der »Braut von Messina«. Busch gab den Geßler, Gründgens Rudolf den Harras. In der »Braut von Messina« war Gründgens Don Manuel, Busch Don Cesar.

Diese Jugendzeit ist - ohne Übertreibung gesagt - entscheidend geworden für beider Leben. Denn als Ernst Busch von den Nazis verhaftet wurde und wegen Hochverrats zum Tode verurteilt werden sollte, trat Gustaf Gründgens als Intendant des Staatstheaters in Berlin für ihn ein und verschaffte ihm Rechtsanwälte, die nachwiesen, daß Busch schon früher mit Brecht und Willi Bredel ausgebürgert worden sei, also keinen Hochverrat mehr begehen konnte und nur nach einer anderen Rechtslage verurteilt werden dürfe. Also erhielt Busch Zuchthaus.

Als Busch 1945 von den Russen aus dem Zuchthaus Brandenburg befreit wurde, begann für Gründgens die Zeit der Haft. Busch bezeugte, wie mutig sich Gründgens in gefährlicher Situation für ihn eingesetzt habe, und gab mit den Russen in Berlin den Anstoß, daß Gründgens bald im Deutschen Theater spielen und Regie führen konnte. Gustav von Wangenheim war der erste Intendant des Deutschen Theaters nach dem Zusammenbruch. Bei ihm gab Gründgens als erste Rolle Carl Sternheims »Snob« - hinreißend und faszinierend. Dann wurde Wolfgang Langhoff Intendant und trat ebenfalls für Gründgens ein. Es war eine gute Zusammenarbeit. Daß Gründgens auch den »König Ödipus« spielte, blieb allerdings

ein Fehler, denn er war immer ein Schachspieler der Kunst, dem tragische Rollen weniger lagen. Das galt im Grunde auch für seinen Hamlet.

Die Zusammenarbeit der ersten zwei

Jahre nach dem Dritten Reich war sonst - fast könnte man sagen - beispielhaft. Professor Alexander Dymschitz, damals sowjetischer Kulturoffizier, war ein hervorragender Deutsch -Kenner und guter Berater. Er setzte sich entschieden für Gründgens ein, weil er wußte, daß Gründgens nie ein Nazi war und als Intendant des Staatstheaters in Berlin künstlerisch mutig gearbeitet hatte. Gründgens hatte viele geschützt und besonders die genialen Inszenierungen Jürgen Fehlings gedeckt.

Diese künstlerische Zusammenarbeit wird in dem ausgezeichneten Artikel K. H. Ruppels geschildert, der nicht dem üblichen Starrummel gilt. Er charakterisiert die Gemeinschaftsarbeit, den inneren Betrieb des Staatstheaters in der schwersten Zeit. Wieder war es der Gegensatz, der Gründgens beflügelte, das Risiko, das ihn hinriß.

Aber wieder in die ersten Nachkriegsjahre! Gründgens inszenierte in den Kammerspielen des Deutschen Theaters den »Schatten« von Jewgenij Schwarz. Es wurde mit Recht ein großer Erfolg. Dymschitz hatte oft den Proben beigewohnt. Er verstand es auch, daß Gründgens wieder ein Theater leiten wollte, als seine Heimatstadt Düsseldorf ihn rief. Es wurde eine saubere Trennung ohne politische Akzente.

Wenn wir aber einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Künstlers Gründgens gewinnen wollen, so müssen wir wiederholen, daß gerade Widerstände und Schwierigkeiten ihn produktiv machten. Gut, wenn er zwischendurch auch Rollen spielte, die ihm nicht lagen. Spannung war das Element, das ihn belebte. Spannung der Gegensätze in den Rollen, die er spielte. Spannung und Neugier, die er im Publikum weckte, das ihm zusah wie dem erregenden Kampf eines Schachweltmeisters. Aber dieser oft kühl rechnende Spieler, dieser Detektiv unter den Schauspielern, der dem Partner hinter die Karten zu sehen versuchte und dabei selbst in Gefahr geriet, dieser jagende und gejagte Beobachter, der immer auf Haltung hielt, schien oft wie ein Nachtwandler auf dem Dachfirst zu balancieren. Er durfte nicht angerufen werden, sonst stürzte er ab.

Der geistige Schauspieler Gustaf Gründgens war auch ein Nervenschauspieler. Man konnte in derselben Rolle oft bemerken, daß neben der Klarheit eines musischen Bewußtseins und der gliedernden Intelligenz eines präzisen Sprechers der Ton plötzlich abglitt, die Spannung nachließ. Der Schlafwandler schien angerufen zu sein und fiel.

Ich glaube, um einen solchen Künstler zu charakterisieren, darf man nicht in Tiefenforschungen und breite Darstellungen verfallen, wie sie der begabte Rolf Trouwborst in diesem Sammelband mit seiner Schilderung von Gründgens' Düsseldorfer Intendanten-Zeit versucht hat. Gründgens spielte knapp, seine Schauspielkunst verkürzte. Also muß man konzentriert über ihn schreiben. Ja - sogar Anekdoten können ihn und sein Wirken, auch im wesentlichen, im ernsten Sinne besser charakterisieren als theoretische Untersuchungen. Ich will versuchen, zwei solche Erlebnisse wiederzugeben.

Als Gründgens Generalintendant des Staatstheaters in Berlin war, besuchte ich ihn einmal in seinem Büro. Ich wartete ein paar Minuten. Dann kam Paul Bildt aus dem Zimmer und sagte: »Ach, er ist wieder so beschäftigt! Der ganze Tisch voller Akten, Rollen und Bücher! Er erstickt fast in seinem Beruf!« Dann wurde ich hineingerufen. Keine Akten, kein Werk auf dem Tisch. Gründgens kam strahlend aus dem Nebenzimmer, als ob er gerade eine besonders glückliche Probe hinter sich habe... Für Paul Bildt spielte er den abgearbeiteten Intendanten, den der Schauspieler nicht belästigen solle. Mir gegenüber trat er in derselben Viertelstunde als begeisterter Künstler auf.

Gründgens inszenierte jedes Gespräch. Er war der Regisseur jeder Unterhaltung und führte den Dialog genau nach Beruf und Persönlichkeit seines Gegenüber. Als er später - ich glaube, es war 1956 - mit Willy Haas sprach, spielte er schnell, um vor allem die Frage, warum er keine deutschen Dramatiker aufführe, zu unterdrücken, den Märtyrer des Betriebes. Er donnerte mit Recht gegen die Überbeschäftigung der Schauspieler durch Rundfunk und Fernsehen. Er schwärmte vom künstlerischen und geschäftlichen Erfolg der Klassiker -Aufführungen. Die Sache wurde aber

ernst, als er dann doch zur Gegenwart überging und etwa sagte, wie leicht es früher Jessner, Piscator und Erich Ziegel gehabt hätten, weil sie »auf dem Rücken« von Georg Kaiser, Hasenclever, Toller und dem »jungen Bertolt Brecht« groß werden konnten.

Ich habe damals unter der Überschrift »Gründgens schaltet die Zeit ab« darauf geantwortet. Denn weiter sagte er: »Es ist doch kein so großes Kunststück, ein modernes Theater zu führen wie Otto Brahm um 1900, wenn Ibsen noch lebt und schafft, wenn Hauptmann jedes Jahr ein neues Stück produziert und immer wieder ein neues Drama von Wedekind erscheint.«

Wußte Gustaf Gründgens nicht, daß für Kaiser, Toller und Brecht gekämpft wurde? Daß man ein Risiko einging, wenn man sie damals schon spielte? Daß Brahm für Ibsen und Hauptmann erst streiten mußte, bevor er sie als Erfolge in den Spielplan nehmen konnte? Als Gründgens dies damals sagte, hätte er Brecht ohne Kampf spielen können...

Ich erinnere mich an einen lustigen Brief- und Telegrammwechsel zwischen beiden, als Brecht 1948 nach Berlin zurückgekehrt war. Brecht schrieb an Gründgens folgende Zeilen: »Sie sagten 1932, daß Sie 'Die Heilige Johanna der Schlachthöfe' aufführen wollten. Ich sage jetzt: Ja. - Ihr Brecht.« Darauf telegraphierte Gründgens: »Bin über Ihren Brief zu Tode erschrocken! - Ihr Gründgens.«

Das gehört in eine anregende Anekdotensammlung

des Theaters. Aber es ist viel mehr. Es deckt mit Humor eine Theatersituation auf. Und wir wissen es ja: Einige Jahre später inszenierte Gründgens »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe«. Es wurde eine künstlerische Tat. Aber schon vorher hätte Gründgens sich nicht vom deutschsprachigen Drama der Gegenwart lossagen dürfen. Denn es gab neben Brecht: Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Peter Hacks. Gewiß, er spielte später auch Dürrenmatt, aber wozu dieser erste Abruf? War es nicht seine Aufgabe, auch nach der Nazizeit noch zu kämpfen? Und besonders für das so oft geschmähte neue Drama in deutscher Sprache?

Gründgens darf nie vergessen werden. Eben deshalb muß man ihn genau darstellen. Ihn unkritisch in die Wolken der Ewigkeit zu heben, kann nur Enttäuschung bringen. Sein tapferes Lebenswerk in schwierigen Nazijahren bleibt bestehen, wenn es richtig erkannt wird. Darum erwähne ich auch die guten Charakteristiken des Schauspielers, Regisseurs und Intendanten Gründgens von Joachim Kaiser, Siegfried Melchinger, Günther Penzoldt. Bestehen bleibt ebenso die produktive Zusammenarbeit mit Bühnenbildnern, früher mit Traugott Müller, dann mit Teo Otto.

Zum Schluß eine Frage: Wird Jürgen Fehling in der Geschichte des deutschen Theaters auch einmal so ausführlich behandelt werden? Gewiß, er konnte niemals ein Intendant sein. Seine Begabung galt nur der Regie. Aber viele seiner Inszenierungen, die auch Gründgens bewundert hat, gehören in die Geschichte des Welttheaters von Shakespeare bis Ernst Barlach.

Herausgegeben von Henning Rischbieter Erhard Friedrich Verlag Velber 146 Textseiten 96 Bildseiten 28 Mark Ihering

Herbert Ihering
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