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GRÜNE Schafft alle

Zur Landtagswahl in Baden-Württemberg haben die Grünen ihre Kandidaten alle ausgetauscht. *
aus DER SPIEGEL 11/1984

Holger Heimann, 32, Abgeordneter der Grünen im Baden-Württembergischen Landtag, wußte seit langem von der Lust der Basis, ihn kaltzustellen. Er wechselte von Heidelberg nach Esslingen und faßte dort, als Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 25. März, neuen Mut: »Ich denke, daß wir durch meine Kandidatur keine Zitterpartie am Rande der Fünf-Prozent-Hürde spielen, sondern um den Fraktionsstatus kämpfen.« Dazu brauchen die Grünen acht Mandate, umgerechnet knapp sieben Prozent, deutlich mehr als vor vier Jahren (5,3 Prozent).

Doch die müssen die Grünen ohne Heimann erreichen. Der Kandidat hatte auch an der neuen Basis kein Glück. Der Kreisverband Esslingen vergaß, Heimann rechtzeitig zu nominieren.

So treten CDU, SPD, FDP und auch die DKP in allen 70 Wahlkreisen an, die Grünen nur in 67. Rund 20 000 Grünen-Wähler stehen in den drei Esslinger Wahlkreisen ohne Kandidaten da. Das hält nicht nur Heimann für »politisch verheerend«, auch sein Abgeordneten-Kollege Winfried Kretschmann wertet die Panne als »eine Katastrophe«.

Landesgeschäftsführer Bernd Faller-Schwendemann sieht jedoch »den Einzug der Grünen in den Landtag« durch die Schlamperei von Esslingen »nicht gefährdet«. Die Alternativen hoffen sogar, daß sie das Ergebnis der Bundestagswahl von 1983, bei der sie 6,8 Prozent erreichten, noch übertreffen.

Mit Holger Heimann ist der letzte von sechs Abgeordneten gescheitert. Wolf-Dieter Hasenclever, der Sprecher der Gruppe, gab auf, weil er nicht länger nur »parlamentarischer Arm einer außerparlamentarischen Bewegung« (Basis-Forderung) sein wollte. Kretschmann resignierte, weil ihm »die Kraft« fehlte, »Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner und mit großen Teilen der eigenen Partei zu führen«.

Der Freiburger Hans Dietrich Erichsen und seine Stuttgarter Fraktionskollegin Elsbeth Mordo waren politisch nicht mehr gefragt und verzichteten. Helgo Bran überwarf sich mit der Partei und kämpft jetzt in Freiburg als Unabhängiger um Stimmen. »Diese Partei«, so ein parlamentarischer Mitarbeiter der Landtagsgruppe, »schafft alle.«

Gemäßigte wie Hasenclever haben an Einfluß verloren. Die »Fundamentalisten« und marxistisch geprägte rote Grüne bestimmen das Programm.

Der Wahlparteitag beschloß, an der »inhaltlichen Anbindung der Mandats- und Amtsträger an die Basisentscheidungen« ebenso festzuhalten wie an der »Offenlegung der Einkünfte und Diäten aller Parlamentarier«. Die Grünen streben einen »grundlegenden Wandel unserer Wirtschaft und Gesellschaft« an, fordern Mitsprache bei der »Frage, was wie und wo produziert wird und wer über die Produktionsmittel bestimmt«.

Kretschmann verlor den Spaß an der Mitarbeit: »Die Beschlüsse liegen weit weg von meiner Auffassung.« Er will jetzt im hessischen Groß-Gerau, dicht an der Startbahn West, stellvertretender Landrat werden.

Auch die verpatzte Heimann-Nominierung gab den Grünen-Grüppchen Anlaß zur Selbstzerfleischung. Der verhinderte Spitzenmann empfahl, dem SPD-Kandidaten die Stimmen zu geben. Es könne ein »politisches Signal« sein, wenn SPD und Grüne in einem traditionell schwarzen Wahlkreis wie Nürtingen ein Direktmandat holen würden.

Diese Empfehlung wiederum nannte Heimanns Weggefährte Kretschmann »schamlos«. Er schlug, wie der Esslinger Kreisverband und der Landesvorstand, die Abgabe ungültiger Stimmzettel vor. Vollends über Kreuz gerieten die Spitzen-Grünen bei der Debatte um Koalitionen. Heimann riet den Alternativen zur »Zusammenarbeit mit jeder der großen Parteien, auch mit der CDU«. Ex-Bundesvorstandsmitglied _(Lang (SPD), Morlok (FDP), Späth (CDU). )

Ernst Hoplitschek, der mit Hasenclever, Kretschmann und rund hundert Gleichgesinnten eine innerparteiliche Opposition ("Ökolibertäre Grüne") organisiert, verkündete sogar, CDU-Ministerpräsident Lothar Späth könne »auf jeden Fall« ein Koalitionspartner für einen »neuen Konservatismus« in Schwarzgrün sein.

»Undenkbar«, kommentierte der Landesvorstand in Stuttgart derlei »Gedankenspielereien«. Sie seien »ein Schlag ins Gesicht der Grünen in Baden-Württemberg« und würden »aufs schärfste verurteilt«. Späth wird die Stimmen nicht brauchen.

Jetzt führt der Stuttgarter Rechtsanwalt Rezzo Schlauch, 36, Pfarrersohn aus dem hohenlohischen Fürstenstädtchen Langenburg, als Spitzenkandidat die Grünen ins nächste Gefecht. Der Jurist, beruflich und finanziell unabhängig, hat die Grünen-Gruppe im Landtag seit vier Jahren rechtlich beraten.

Er wird bei den Grünen respektiert und gilt, obwohl Hasenclever-Gefolgsmann, als basisgebunden. Diskussionen bestreitet er mit Sachverstand und Witz.

Im Aufgebot der Grünen dominieren diesmal die Freiberufler, Techniker und Wissenschaftler. Unter den Kandidaten sind mehr Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte als Lehrer und Studenten, nur wenige sind arbeitslos.

In den Stimmen-Hochburgen von 1980, den Universitätsstädten Heidelberg, Tübingen und Freiburg, treten Bewerber an, die auch vor Ort kaum jemand kennt. Schlauch: »Unsere Abgeordneten haben zu früh resigniert.«

Trotz der nach Ausbildung und Herkunft eher bieder-bürgerlichen Kandidatenschar rechnen die Grünen vor allem mit den Stimmen der Friedensbewegten, der Nachrüstungsgegner und Blockierer von Mutlangen oder Großengstingen. Die wohnen zwar nicht dort, wo sie demonstrieren, gelten aber landesweit als starkes Wählerpotential, ebenso wie Kernkraftgegner und Umweltschützer. Spitzenkandidat Schlauch: »Das macht allein sechs Prozent.«

Lang (SPD), Morlok (FDP), Späth (CDU).

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