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Sibirien Schau weg, hör weg und vergiß

Von Fritjof Meyer
aus DER SPIEGEL 35/1993

Du sonnst dich im Liegestuhl an Deck und läßt die Ufer wie einen Film vorüberrollen - fichtenbesetzte Berge wechseln mit parkartigen Auenlandschaften, hin und wieder ein Dorf. Angler, Motorboote, Camperzelte. Herden von Kühen und Pferden saufen am Strom.

Oxana mit langem Zopf serviert Zürcher Kaffee und Apfelkuchen: in Sibirien, auf dem Jenissej, der breit ist wie der Rhein bei Köln am Ausgangspunkt der Reise in Krasnojarsk, nicht weit von jener lieblichen Gegend, wo der verbannte Lenin einst auf die Jagd ging.

Nach 2000 Kilometern und vielen Windungen mündet der Fluß ins Eismeer. Der Sommer dauert nur ein paar Wochen in Sibirien, ehe der Schnee fällt und das Wasser auf acht, neun Monate gefriert. Dann erstarrt das »schlafende Land« - so heißt Sibirien in der Sprache der Ureinwohner - zur Kältekammer, die den im Boden versteckten Reichtum an allen denkbaren Rohstoffen vor seiner Ausbeutung durch den Menschen schützt.

Wer zu diesem Wagnis dennoch verurteilt war, bekam hierher die Freifahrt einst von der Polizei der Zaren, dann von Stalins Schergen, die Millionen deportierten. Dennoch leben in dem Land, größer als Europa, heute nur etwa doppelt so viele Menschen wie einstmals in der DDR. Die meisten möchten flüchten.

Schweizer, Franzosen, Italiener und ein paar Deutsche sind jetzt gekommen, um auf dem mittleren der drei großen sibirischen Ströme Ob, Jenissej und Lena Ferien zu machen, an Bord des Passagierdampfers »Anton Tschechow«, der - mit 250 Betten und Swimming-pool - vor 15 Jahren für Nomenklatura-Touristen in Österreich gebaut worden war.

Der Unternehmer Hans Kaufmann, 45, aus Weinfelden in der Schweiz hat das Schiff für Devisentouristen gechartert und mit einer Million Franken und Mobiliar aus dem Westen renoviert, anstelle der Kellner sowjetischen Typs Studentinnen von der Uni Krasnojarsk angeheuert und ausgebildet - Speisen von links, Getränke von rechts.

Zwei Uniformierte der Spezialeinheit Omon mit Pistole schützen Schiff und Ladung. Zum Reiseleiter und Animateur berief Kaufmann den Lehrer seiner Kinder in Weinfelden.

Der verwegene Ostkaufmann, der 1969 mit zwei Angestellten im Reisebüro der Mittel-Thurgau-Bahn (55 Kilometer Strecke) angefangen hatte, riskiert die Schneise in den Dschungel der Unwägbarkeiten russischer Kompetenzen und Eigentumsverhältnisse. Allein der staatliche Steuersatz ändert sich alle paar Wochen. Sämtliche Lebensmittel läßt Kaufmann importieren, weil sich russische Lieferanten nicht an Termine halten; um Krasnojarsk herum etwa streiken gerade die Bauern und schicken keine Milch in die Stadt.

Der Regierungsbezirk Krasnojarsk zieht Devisen aus der Charter und der Hälfte der Restauranteinnahmen. Kaufmann verfügt heute über acht Schiffe, denn er bedient auch Wolga, Dnjepr und die Kanäle von Moskau nach St. Petersburg, und er läßt den alten Orientexpreß über die Transsib bis nach Peking rollen. Für 1993 verbucht er 18 000 zufriedene Kunden.

Kaufmann hat auf ein halbes Jahr einen Jet jener eigenen Fluggesellschaft gemietet, die sich die Region Krasnojarsk in neuem Selbstbewußtsein leistet. Er hat die Sitze neu beziehen lassen und die Stewardessen eingekleidet; sie dürfen die Bordverpflegung verkaufen - ein Kaviarbrötchen für einen Dollar.

Die »Krasnojarsk Airlines« bringt die Touristen von Moskau an den Jenissej und zurück aus Norilsk im Norden (wo einstmals Zwangsarbeiter Molybdän-Erz schürften und vor exakt 40 Jahren Bombenflugzeuge einen Streik beendeten). Der Jet holt auch zwei Dutzend japanischer Gäste aus Chabarowsk in Fernost, weil für die Aeroflot-Konkurrenz wieder mal das Benzin ausgegangen ist.

Rundum Erholung. Schließe die Ohren, wie es die Einheimischen tun, wenn westliche Zeitungen von einem gefahrenträchtigen Plutoniumreaktor mitten in Krasnojarsk berichten. Schau weg von den verrotteten Betonplattenbauten und dem allgegenwärtigen Unrat.

Vergiß, daß im Gebiet Krasnojarsk 68 Zwangsarbeitslager, 6 Gefängnisse und 2 Psycho-Haftanstalten existierten, daß sterbenskranke Deportierte aus dem ganzen russischen Imperium für faulen Kohl und Hering nach Gold und Diamanten schürfen und Frauenbrigaden die Wälder abholzen mußten. Und daß die Atomanlage in der Stadt von Häftlingen betrieben wurde.

Die Lager sind aufgelöst, aber die Orte Igarka, Dudinka, Norilsk gründen sich auf den Gebeinen der Stalin-Opfer, auch jener Hafen, dem die Gefangenen den Namen »Karaul« gaben, »Hilfe!«. Die meisten Menschen hier sind unfreiwillig hergekommen. Nun sind sie frei.

In Lessosibirsk, dem ersten Halt, steht die Holzfabrik still, es ist Sonntag und zudem der »Feiertag der Bauleute«. Im Lokalblatt Morgenröte des Jenissej hat Redakteurin Galina Kankejewa Ausruhen »wie in der guten alten Zeit« empfohlen. Sie selbst verdient sich an diesem Tag ein Zubrot als Reiseführerin, weil ihr Gehalt nur für Lebensmittel reicht. Ein Abstieg: Frühere Einkünfte verhalfen ihr zu einem goldenen Gebiß.

Wann war das, die gute alte Zeit? »Eine Floskel«, sagt Galina erst, dann: »Jeder versteht, was gemeint ist.«

Die nächste Station, die Stadt Jenissejsk, war zur Zarenzeit durch Gold und Zobelpelze reich geworden. Ungerührt präsentiert Galina, was die Kommunisten daraus machten. Die nie mehr reparierten Holzhäuser verfallen, von den 26 Kirchen sind 2 geblieben. Eine diente als Gemüselager, Mönche restaurieren sie jetzt. Sie fanden auf dem Gelände viele Schädel mit Einschußlöchern, die sie unter einem frischen Holzkreuz beigesetzt haben.

Kosaken des Zaren hatten die Kolonie Sibirien erobert. Ihre 200 Jahre alte Siedlung Worogowo 400 Kilometer weiter nordwärts ist ein blühendes Blockhausdorf mit Kuh- und Schweineställen, Gänse- und Hühnerscharen und Bauerngärten voller Blumen und Gemüse. Im Winter liegt der Schnee zwei Meter hoch, dann wird das Vieh durch das Dach des Stalls gefüttert.

Wie überall am Jenissej leben hier auch Deutsche von der Wolga, die nicht mehr wissen, woher ihr Dialekt rührt: »Möchte mir a bißle schwätze?«

Einer hat es piekfein, die Wände mit kaukasischen Teppichen isoliert, Spitzendeckchen und Fernseher in der guten Stube. »Viele sind schon weggemacht ins Reich«, berichtet er. Er hat alles, was er braucht, samt zwei Schinken, die im Flur hängen. Er bleibt am Jenissej.

Die Untere Tunguska, einen Nebenfluß, säumen weiße Felsen. Die Landschaft gehört den Mücken, aber auch Wölfen und Bären, nach denen der Rudergast mit dem Fernglas das Ufer absucht, ehe er die Passagiere mit den Rettungsbooten zu einem Spaziergang ausschifft.

Am Polarkreis liegt die Siedlung Turuchansk, deren berühmtester Bewohner der Altbolschewik Jakow Swerdlow war, dorthin verbannt kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Später agierte er als »inoffizieller, aber um so mehr tatsächlicher Generalsekretär der Oktoberrevolution« von 1917 (so sein Genosse Trotzki). Swerdlow wurde Staatsoberhaupt der jungen Sowjetrepublik, erlag indes schon 1919 angeblich einer Lungenentzündung, womöglich aber einem Attentat. Sein Kopf im offenen Sarg war bandagiert.

Seine Blockhütte in Turuchansk ist immer noch Museum. Die Führerin erklärt, er habe die Zarenfamilie erschießen lassen, 1918 in Jekaterinburg, das nachher Swerdlowsk hieß. Ihn besuchte häufig der Verbannte Stalin, mit dem er sich ständig zankte. Als der später Generalsekretär der KPdSU war, bauten Zwangsarbeiter für ihn flußabwärts ein pompöses »Pantheon« aus Lärchenholz und aus Stuck, der roten Granit vortäuscht. Die Stalin-Figur, die davorstand, ist inzwischen gefällt.

Swerdlows überlebensgroße Bronzefigur reckt sich noch im Garten seines Blockhauses. Eine Vitrine im Museum erinnert neuerdings an das Unterfangen von 1948, mit Zwangsarbeitern eine Eisenbahnlinie von hier zum Ob zu bauen (100 000 Tote). Sie wurde nie fertiggestellt.

Ein Eßnapf und ein Kanten Brot der Häftlinge sind ausgestellt, dazu Gulag-Stacheldraht, von dem ein Stück als Souvenir für zwei Dollar zu erwerben ist.

Ein weißbärtiger Litauer, der nach der Fron in der Verbanntensiedlung Igarka hängenblieb, führt einen acht Meter tiefen, klirrend kalten Stollen vor, in dem die Atemluft zu Stalaktiten an der Decke vereist. Der Schacht war einmal zur Erforschung des Permafrostes vorgesehen, der das Erdreich nur bis zu einem Meter unter der Oberfläche auftauen läßt. Jüngst waren Landsleute da, die im dauergefrorenen Boden die Leichen früherer Leidensgenossen bargen. Die sahen so aus wie im Augenblick ihres Todes.

Sibirien, im kurzen Sommer so schön, erholt sich langsam von der Vergangenheit: Es war immer ein Gräberfeld von der Größe eines Kontinents. Das Heimatmuseum von Igarka bewahrt Fellhemden, Knochenwerkzeug und Wigwams der von den Kosaken einst dezimierten Nenzen und Ewenken, der Indianer Sibiriens. Die Stadt Dudinka rühmt sich des kostbaren Mantels eines Schamanen.

Ein paar tausend Eingeborene ziehen mit ihren Rentieren durch die Taiga, noch immer verfolgt von den weißen Ausbeutern der Naturschätze, aber ihre Kinder gehen zur Schule. Einige Assimilierte bieten im Kulturhaus von Dudinka, vor dem ein marmorner Lenin den Umbruch übersteht, Folklore dar.

Privathändler verkaufen auf dem Markt Westimporte, Rinderhälften und Zigaretten (stückweise). Zum Shopping im gut sortierten Staatsmagazin haben die wohlfrisierten Frauen von Dudinka ihr bestes Kleid nebst Pumps angezogen und Make-up aufgelegt. Überall gibt es, anders als zu Sowjetzeiten, Blumen zu kaufen. Ein Relikt kommunistischer Erziehung blieb: Im Bus bieten Kinder weißhaarigen Fahrgästen ihren Platz an.

In Dudinka läßt sich leben, jedenfalls heutzutage. Im Museum von Igarka erzählt hinter den völkerkundlichen Exponaten ein Plakat eine ungewöhnliche und dennoch typische Siedlungsgeschichte: Der Posten Igarka wurde 1929 gegründet. Von 1930 bis 1933 kamen - im Zuge der Zwangskollektivierung der ukrainischen Bauern - 20 000 »Volksfeinde« dazu. 1938 wurden in Igarka ein Dutzend Einwohner erschossen.

1942 vermehrte sich die inzwischen drastisch gesunkene Einwohnerschaft wieder um 2000 Letten, 5000 Deutsche von der Wolga, 500 Griechen vom Kaukasus. Aus Leningrad kamen 300 Finnen, weitere 400 Deutsche und 100 Letten. 1944 wurden 400 Kalmücken zwangsangesiedelt. 1948 stießen - zur Zeit der Künstler- und »Zionisten«-Verfolgung - 500 »Intellektuelle« dazu und 1949 noch 1300 Familien aus Litauen. Die deportierte Tochter Alja der großen russischen Exil-Dichterin Marina Zwetajewa war in Igarka, als Reinigungsfrau in der örtlichen Schule. Heute hat Igarka 5000 Einwohner. 40 000 liegen im Permafrost begraben.

Die »Anton Tschechow« fährt alle Stationen des großen Terrors am Jenissej ab, doch kein Wachturm zeigt sich mehr am Horizont, kein Zaun und kein Barackenlager. Die Sonne brennt, das Captain's Dinner mundet, hundertmal erklingt »Kalinka«.

Weiter nach Norden geht die baumreiche Taiga langsam in die Heide der Tundra über, die jetzt von Glockenblumen, Hahnenfuß und Weidenröschen übersät ist. Holz für den Hausbau und zum Heizen fehlt dort. Zum Gartenbau reichen die Sommerwochen nicht.

Die letzte Siedlung vor dem Meer ist auch ohne die Insignien der Sklavenhaltergesellschaft ein Ort am Ende der Welt. Die Bretterhütten von Ust-Port versinken im Müll und Modder. Kohle für den langen Winter (Temperaturen um 40 Grad minus, bei Wind bis zu 59 Grad minus) ist am Ufer aufgeschüttet. Treibholz zum Heizen fällt erst nach dem Brechen des Eises im Frühjahr an.

Eine zahnlose junge Frau offeriert ihren Polarhund, zum Beispiel, sagt sie, für eine Pelzmütze. »Wir sind die Ärmsten«, befindet eine Arbeiterin. Der Budenladen hält Brot und Gurken feil, köstliche sibirische Butter (die zu Zarenzeiten bis nach Hamburg exportiert wurde), auch Fisch, das Kilo für 180 Rubel - am fischreichen Jenissej.

Über der Siedlung hängt ständig der Gestank einer Pelztierfarm. 3000 Silberfüchse, deren Fell je 35 000 Rubel bringt, quälen sich auf Maschendraht, aber sie werden satt: Für sie wird täglich eine Kuh geschlachtet, außerdem fressen sie Fisch, der kraft andauernder Planwirtschaft tiefgefroren aus dem 5000 Kilometer entfernten Wladiwostok kommt - obwohl es in Ust-Port auch eine Fischfabrik gibt.

Vorarbeiter Alexander Schut zog freiwillig aus Krasnojarsk hierher den Strom hinunter, er folgte der zarten Studentin Galja aus Ust-Port, die er geheiratet hat. Sie unterrichtet nun an der Schule, welche eine Deutsche sauberhält, um ihre Rente von 18 000 Rubel aufzubessern. Galja trägt Tee auf, dazu Waffeln, in der Tundra gesammelte Preiselbeeren und rohen Fisch.

Das Dinner an Bord ist komfortabler, die Germanistikstudentin Oxana hat sibirische Landestracht angelegt, die der Kaufmann aus der Schweiz importierte. Gegen Mitternacht - noch ist es taghell - schießt der Erste Offizier drei Leuchtkugeln ab: Das Eismeer ist erreicht.

Unbeschreibliche Farben zeigt der Himmel, Sibirien ist wunderbar. Und der Rückflug - nicht erst nach 25 Jahren - ist bestätigt. Y
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Bis ins Eismeer *

fährt diesen Sommer über den sibirischen Fluß Jenissej 2000 Kilometer weit das Passagierschiff »Anton Tschechow«, das ein Schweizer Unternehmer gechartert hat. Nach der Investition von einer Million Franken öffnet sich für ein paar Sonnenwochen die Kältekammer Sibirien den Touristen aus dem Westen. Die Route führt die Besucher an Siedlungen vorbei, die von Deportierten der Zaren und den Häftlingsheeren Stalins erbaut wurden, um die Rohstoffschätze des Landes auszubeuten - Holz und Kohle, Erze und Diamanten. Die Nordpassage durchs Eismeer zum Atlantik soll demnächst Sibirien mit dem Westen verbinden.

[Grafiktext]

_159_ Rußland: Verlauf des Jenissej

[GrafiktextEnde]

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