SED-PARTEITAG Schaum gebremst
Vor dem SED-Hauptquartier am Werderschen Markt in Ost-Berlin stoppte ein seesandfarbener VW-Variant 1600 mit West-Berliner Kennzeichen. Der Fahrer schritt auf den wachhabenden Unteroffizier in der himbeerrot paspelierten Uniform des Staatssicherheitsdienstes zu: »Ich habe einen Brief zu übergeben.«
Der Soldat salutierte und kommandierte ins Wachtelephon: »Bereitschaftsdienst zum Hauptportal.« Minuten später wies sich der Besucher vor einer fülligen Blondine als Bote des Bonner SPD-Parteivorstandes aus und überreichte ein gelbes Kuvert im DIN-A5-Format. Es war am 12. April, gegen 19.30 Uhr.
Die Kurierpost -- mit dem Text der am selben Tag von Kanzler Kiesinger zum VII. SED-Parteitag abgegebenen Regierungserklärung, einem offenen Brief der SPD an die Parteitagsdelegierten und einem Begleitschreiben des SPD-Vorstandsmitglieds Alfred Nau -- bewirkte Einmaliges beim schwerfälligen SED-Parteiapparat: Das Politbüro revidierte seine Direktiven binnen Stunden.
Denn zu der Zeit, da die Bonner Botschaft in Ost-Berlin ankam, war beim SED-Blatt »Neues Deutschland« bereits ein Kommentar in Druck, der die schwarz-rote Regierungserklärung als »Schaum von Friedensgerede« abtat und den Vorschlag für neue technische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte brüsk verwarf.
Nun aber, im Besitz des SPD-Briefs« beschlossen die Genossen, unverzüglich ihren Schaum zu bremsen. Offenbar befangen in dem Gedanken, daß der erste formgerechte Brief eines SPD-Vorstandsmitglieds an die SED-Führung und die direkte Übermittlung einer Regierungserklärung durch eine Regierungspartei das Vorspiel zur so lang ersehnten DDR-Anerkennung durch die Bundesrepublik einleite, gab das Politbüro dem Parteiblatt-Chef Rudi Singer Gegenorder.
In der Nacht zum 13. April mußte der SED-Schreiber für den noch nicht ausgedruckten, Ost-Berliner Teil der Auflage einen Kommentar verfassen, in dem die Schmähungen gegen Bonn durch beinahe wohlwollende Worte ersetzt wurden. Singer: Die SED verfolge »den Fortgang dieser Entwicklung mit aktivem Interesse«.
Zwei Tage Zeit blieb den 2200 Delegierten des VII. SED-Parteitages, sich mit dem verwirrenden Frontwechsel ihrer Führer vertraut zu machen. Doch als sie am Montag letzter Woche in der Werner-Seelenbinder-Halle der Eröffnungsrede Walter Ulbrichts lauschten, mußten sie wieder mal umdenken: Der Parteichef fand für die Bonner Regierungserklärung kein freundliches Wort.
Er widmete dem Papier nicht einmal fünf Minuten seines fast fünfstündigen Referats und verschanzte sich vor dem westdeutschen Annäherungsversuch hinter einer Hürde, die für Bonn unüberwindlich scheint: Forderung einer Gipfelkonferenz zwischen Ost-Ministerpräsident Stoph und West-Kanzler Kiesinger. Auf seinem Präsidiumssitz kicherte Willi Stoph vernehmlich vor sich hin.
Woher der Gegenwind wehte, offenbarte sich den Parteitagsgenossen erst 24 Stunden später, als Leonid Breschnew, Boß der Sowjet-KP und Chef-Gouvernante der DDR, seine goldgefaßte Brille aufsetzte, um mit monotoner Stimme vom Präsidiums-Podest herab Richtlinien seiner Deutschland-Politik zu verkünden.
Der Sowjet-Gast verlor kein böses Wort über Maos China und kritisierte nur maßvoll die USA. Statt dessen diffamierte er, leidenschaftslos wie ein Gerichtsvollzieher, die Bundesrepublik, »die den abscheulichsten Wesenszügen des Hitler-Regimes blind nacheifert«, als »Kriegsmaschinerie« und die Bonner Entspannungsoffensive als politische Wegelagerei.
Breschnew: »Bonn hat den sozialistischen Ländern Europas wirklich die Hand entgegengestreckt. Diese Hand aber hält einen Stein, und man muß uns Kommunisten schon für sehr naiv halten, um zu hoffen, daß wir diesen Stein nicht sehen.«
Die Philippika war darauf berechnet, dem Auditorium klarzumachen, weshalb der Kongreß nicht nach Singers Melodie tanzen durfte. Und auch die Hinterbänkler, die das ferne Präsidium beäugten, begriffen nach dem Breschnew-Verdikt, daß es sich fortan niemand leisten kann, an der ausgestreckten Hand der Bundesrepublik dem Sowjet-Imperium zu entweichen.
Was sonst auf dem Parteitags-Programm stand, rechtfertigte weder die kostspielige Renovierung der Seelenbinder-Halle noch den Super-Service, von der Zahnstation über Südfrucht-Rationen und Werbepräsente (wie Aktentaschen) bis zum kompletten Feldlazarett auf Rädern. Für die zum Herbst angekündigte Einführung der Fünf-Tage-Woche ebenso wie für das Ulbricht-Versprechen, die formal demokratische Verfassung der DDR durch ein SED-Grundgesetz zu ersetzen, hätte es keines kommunistischen Sechs-Tage-Things, sondern allenfalls der Volkskammer als Akklamationsmaschine bedurft.
Auch um die parteiamtliche Antwort auf die Bonner Regierungserklärung entgegenzunehmen, die Ulbricht montags versprochen hatte, hätten die Genossen nicht tagelang die Ohren spitzen müssen. Wie diese -- am Donnerstag abgegebene -- Entgegnung ausfallen würde, hatte ihnen der Berliner Delegierte und Maschinenschlosser Klaus Teschendorf schon am Tag nach der Eröffnungsrede dargetan. Vom Politbüro instruiert, machte sich der Junggenosse zum Sprecher des gesunden Parteiempfindens und erläuterte, daß für die SED nur mehr Chef-Kontakte zwischen Bundesrepublik und DDR akzeptabel seien.
Teschendorf: »Sollte der Bonner Kanzler die Adresse noch nicht wissen, so kann ich ihm helfen. Die Adresse ist: Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Vorsitzender des Ministerrates, Herr Willi Stoph, 102 Berlin, Klosterstraße 47.«
* In der ersten Reihe v. l.: SED-Politbüromitglied Matern, ZK-Sekretär der KPdSU Andropow, SED-Politbüromitglied Honecker, KPdSU-Chef Breschnew, DDR-Ministerpräsident Stoph, Polens Parteichef Gomulka, Ost-Berlins Oberbürgermeister Ebert und der tschechoslowakische ZK-Sekretär Hendrich.