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ERZIEHUNG / SCHULPSYCHOLOGEN Scheinbar faul

aus DER SPIEGEL 38/1967

Im ersten Schuljahr kam der schmächtige Anton Räschke** in Hamburg noch gut mit. Dann wurde er verträumt und unaufmerksam. Er störte im Unterricht wie beim Spiel. Seine Mitschüler hänselten ihn wegen Bettnässens, seine Lehrerin tadelte ihn wegen Versagens. Sein Leistungsabfall war so rätselhaft, daß die Lehrerin den -- nun siebenjährigen -- Jungen dem Schulpsychologen Dr. Hans Kirchhoff vorstellte.

Kirchhoff entdeckte die Ursache für Anton Räschkes Schulabstieg in der häuslichen Ehemisere seiner Eltern: Nur ihren beiden Kindern zuliebe hielten sie die Ehe aufrecht. Ihren Unfrieden konnten sie zwar vor den Nachbarn, nicht aber vor ihren Kindern verbergen. Die Familie spaltete sich in zwei Parteien auf: Der Vater verwöhnte den Sohn, die Mutter zog die Tochter auf ihre Seite.

Versehen mit den Ratschlägen des Schulpsychologen Kirchhof f, suchte die Lehrerin die Eltern auf und brachte Vater und Mutter auf ihre Seite. Nun konnte sie den Jungen gemeinsam mit den Eltern zielbewußter erziehen. Die Leistungen stiegen, die krankhaften Störungen ließen nach. Die Kameraden erkannten ihn an. Nach acht Wochen zählte er zu den Klassenbesten.

Der aufgestiegene Hinterbänkler war einer der jährlich rund 1500 lern- und verhaltensgestörten Schüler, die von Dr. Kirchhoff und seinen acht Kollegen des »Schulpsychologischen Dienstes« in Hamburg betreut werden.

Noch ist der Beruf des Schulpsychologen in der Bundesrepublik weithin unbekannt. Wer ihn ausüben will, muß neben dem Pädagogik- auch ein Psychologie-Studium abschließen und mehrjährige Katheder-Praxis nachweisen.

Jetzt hat der Leiter des »Pädagogischen Zentrums Berlin«, Karlheinz Ingenkamp, die erste Bilanz der deutschen »Schulpsychologischen Dienste« gezogen. Sie ist negativ: Die Bundesrepublik ist auf diesem Gebiet noch immer ein »Entwicklungsland"***.

Es gibt bislang nur 106 beamtete oder angestellte Schulpsychologen. Jeder von ihnen hat im Bundesdurchschnitt 81 600 Schüler zu betreuen. während es nach international geltenden Maßstäben höchstens 6000 sein dürften. Noch am besten versorgt sind die Berliner Kinder (ein Psychologe für 19 000 Schüler), während in ganz Schleswig-Holstein (393 800 Schüler) nur ein einziger Schulpsychologe beschäftigt wird. In Rheinland-Pfalz und * Hei der Auswertung eines Spieltests in Hamburg.

** Der Name wurde von der Redaktion geändert.

*** Karlheinz Ingenkamp: »Die Schulpsychologischen Dienste in der Bundesrepublik Deutschland«. Verlag Julius Beltz, Weinheim und Berlin; 188 Seiten; zwölf Mark.

im Saarland sind überhaupt keine Schulpsychologen tätig.

Viel später als in anderen Ländern Europas wurde in der Bundesrepublik erkannt, daß die sogenannten Problemkinder nicht mehr Ausnahmen geblieben, sondern zum verbreiteten Problem geworden sind. Die Ursachen dieses Wandels reichen vom Schrumpfen gesellschaftlicher Tabus bis zum zunehmenden Größenwuchs der jungen Generation.

Viele deutsche Pädagogen wandelten sich nicht mit. Sie pflegten weiterhin den überlieferten Bildungs-Idealismus, der sich am Musterschüler orientiert. So entsteht, wie Ingenkamp feststellte, »ein erheblicher Teil der heutigen Schulkonflikte« aus den »ungenauen und subjektiven Beurteilungsmethoden in der Schule«.

Auch die Mannheimer Psychologie-Professorin Elfriede Höhn enthüllte unlängst in einer Untersuchung über das »Bild des Schulversagers«, daß »die Mehrzahl der Lehrer ihren Mißerfolg nach außen« projiziere: »Sie suchen die Schuld für das Versagen des schlechten Schülers bei diesem selbst, weil er faul, unaufmerksam, charakterlich schlecht ist ... Das Schulversagen wird zur moralischen Schuld.«

Dazu Dr. Helmut Wiese, Leiter der Hamburger Schulpsychologen: »Besonders schwierig wird es, wenn ... Lehrer sich auf Fehlinterpretationen festgebissen haben, wie etwa: »Er kann, aber er will nur nicht.«

Die Schulpsychologen behandeln in solchen Fällen sowohl den Lehrer (Wiese: »Er muß Ressentiments ablegen und sich Affektbeherrschung angewöhnen") als auch das scheinbar faule Kind. Oft leidet es unter häuslichen Konflikten oder hirnorganischen Störungen, die sich nur bei sorgfältiger Beobachtung erkennen lassen. In langjähriger Praxis haben Schulpsychologen sich um den Nachweis bemüht, daß eine Spezialbehandlung nicht nur bei den sogenannten Schulversagern nützlich ist, sondern auch bei Schülern, die

> Linkshänder sind oder waren;

> durch Gleichgültigkeit, Unruhe, Konzentrationsmangel, Geltungsbedürfnis oder Albernheit den Unterricht stören;

> Körperfehler, Neurosen oder Sprachstörungen aufweisen;

> Daumenlutscher oder Nagelkauer sind.

Dazu Wiese: »Sollten wir nicht selber helfen können, so wissen wir doch, welcher Facharzt oder welches Spezialheim zu empfehlen ist.

Doch selbst bei leichteren Fällen gelingt es den Schulpsychologen durchaus nicht immer an einem Tag, die Ursachen des kindlichen Fehlverhaltens zu ergründen. Die vom Klassenlehrer vorgestellten Schüler werden eingehend befragt und verschiedenen Tests unterzogen. Aus Gesprächen mit Eltern und Lehrern ergeben sich weitere Gesichtspunkte. Erst dann entwickelt der Schulpsychologe seinen individuellen Erziehungsplan zur Anleitung für den Klassenlehrer.

Vor allem um Kontakt zur Lehrerschaft sind die Schulpsychologen dauernd bemüht. »Denn«, sagt Wiese, »wir können letzten Endes nur helfen, wenn die Lehrer uns die Kinder bringen.«

Doch das tun die Lehrer nur an Orten, wo die »Schulpsychologischen Dienste« sich schon bewährt haben und halbwegs ausreichend besetzt sind -- wie zum Beispiel in Hamburg, das »Initiator der schulpsychologischen Aktivität« (Ingenkamp) war, und in Berlin.

Das Gros der Lehrer aber scheut noch immer den Weg zum Kollegen mit dem Psychologie-Diplom. Die häufig ohnehin gegen Kritik allergischen Pädagogen lassen sich ungern nachweisen, daß sie etwas falsch gemacht haben.

Daß Schulpsychologen trotz zögernder Lehrerschaft überhaupt an 60 Orten tätig sind, ist laut Ingenkamp »zu einem erheblichen Teil der Initiative und Aktivität der Schulpsychologen selber zu danken«.

Je nach dem Durchsetzungsvermögen der Psycho-Lobbyisten wurde ihr schulfremder Berufsstand akzeptiert. Die Folge ist ein buntes Durcheinander von Erlassen und Verordnungen, mit denen Länder und Städte die Aufgaben ihrer Schulpsychologen regeln. So werden in Bayern neben hauptamtlichen Psychologen auch nebenamtliche beschäftigt. In den meisten Ländern müssen die Schulpsychologen noch unterrichten, nur in Hainburg und Bremen brauchen sie nicht mehr hinter dem Katheder zu stehen.

Gemeinsam ist allen deutschen Schulpsychologen lediglich, daß sie »hoffnungslos überlastet« (Ingenkamp) sind.

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