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PARTEIEN / SEW Schick und klug

aus DER SPIEGEL 53/1970

Es gab Zeiten«, erinnert sich Gerhard Danelius, 57, silberhaariger Vorsitzender der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW), »da haben wir über einen Jugendlichen in unseren Reihen gejubelt wie ultralinke Studenten, wenn sie einen Arbeiter hatten.«

Diese Zeiten sind vorüber: Die einstmals überalterte Partei, der jährlich etwa 200 Altsozialisten wegsterben, nahm allein seit dem 1. Januar 1970 rund tausend neue Mitglieder auf, davon 800 zwischen 18 und 30 Jahren. Die meisten der neuen Genossen kamen aus der Arbeiterschaft und der Intelligenz; darunter viele »schicke und vor allem kluge Mädels« (Danelius). Axel Springers »Berliner Morgenpost« notierte kürzlich nach einer SEW-Veranstaltung: »Von einem Seniorentreffen konnte keine Rede sein.

In West-Berlin hält sich angesichts dieser Verjüngung denn auch seit dem Sommer das Gerücht, Umfragen des Senats hätten ergeben, daß die SEW (Stimmenanteil 1967: zwei Prozent) bei den Wahlen im März 1971 mehr als fünf Prozent erhalten werde -- genug, um ins Abgeordnetenhaus einzuziehen.

Anhaltspunkte für ein solches Abschneiden der SEW bieten der verstärkte Mitglieder-Zulauf (seit 1968 fast 3000 Parteineulinge; heute Insgesamt weit über 7000 Mitglieder) sowie die Entwicklung der drei West-Berliner SEW-Hochschulgruppen, denen derzeit 320 Kommilitonen angehören. Danelius: »Vor drei Jahren hatten wir nur einen einzigen Studenten.«

Daß sich die »Tochter der SED« ("Frankfurter Rundschau") so rasch verjüngen konnte, hat vor allem drei Ursachen:

* Mit der Gewöhnung an die nun fast zehn Jahre alte Berliner Mauer und dem Aufkommen der zunehmend militanten Apo verlagerte sich der militant-antikommunistische Vorbehalt der Halbstädter von den Partei-Kommunisten weg auf die radikalen Studenten;

* zugleich brachte sich die SEW durch partielle Unterstützung linker Massenaktionen als funktionsfähige politische Organisation ins Apo-Bewußtsein und profitierte mithin von den immer wieder neuen, sich letztlich in internen Richtungs-Kämpfen erschöpfenden Spaltungs-Prozessen der neo-sozialistischen Bewegung;

* West-Berlins Sozialdemokratie schließlich, die sich über 15 Regierungsjahre hinweg und in ständiger Konfrontation mit dem DDR--Kommunismus zu einer unprofilierten Massenorganisation, zur »CSU der Gesamtpartei« (Ex-Schulsenator Carl-Heinz Evers), wandelte, bietet für die von der Apo »anpolitisierten« (Apo-Jargon) Jung-Berliner schon längst keine Alternative mehr zum gesellschaftlichen Status quo.

Resultat: Wer heute das Parteiorgan »Die Wahrheit« verteilt, kriegt, anders als einst, »keinen mehr auf den Kopp« (Danelius). In West-Berliner Betrieben, selbst bei Besuchen des Regierenden Bürgermeisters Klaus Schütz, stehen Arbeiter auf und geben sich offen als SEW-Mitglieder zu erkennen, ohne daß ihre Kollegen murren. Unaufdringlich und unermüdlich arbeiten die meisten SEW-Genossen In den unteren Gewerkschaftsrängen mit.

Der Andrang zu den Kursen der traditionellen »Marxistischen Abendschule« (MASCH) der Partei ist neuerdings so stark, daß die Schulungsabende aus dem Charlottenburger Parteibüro in den »Großen Saal« des SEW-Büros Wedding verlegt werden mußten, der allerdings für die 500 Kursanten noch immer nicht groß genug ist. An einer Unterschriften-Aktion zur Unterstützung der SEW-Vorschläge zur Abgeordnetenhaus-Wahl beteiligten sich über 20 000 West-Berliner -- sie lieferten ein Vielfaches der 4400 Unterschriften, die jede im Parlament nicht vertretene Partei vorlegen muß, um zur Wahl zugelassen zu werden.

Und in den Universitäten findet die SEW Zuspruch, obwohl SEW-Mitgliedern persönliche Nachteile drohen: Die Partei-Kommunisten haben noch immer keine Chance, Beamte oder auch nur Hochschul-Tutoren zu werden -- im Gegensatz zu den Mitgliedern der kommunistischen »Roten Zellen«.

Wahlchancen hat die Danelius-Partei auch bei jenen Linken, die lauthals über die »Revisionisten« in der SEW schimpfen und eigene marxistische Kaderparteien »von oben nach unten« (so ein Papier der maoistischen KPD! ML) aufzubauen versuchen: Mancher Anhänger der »nichtrevisionistischen Gruppen« (Eigenbezeichnung der ultralinken Splitterfraktionen) der eine Mitgliedschaft in der SEW ablehnt, hat gleichwohl seinen Wohnsitz von Westdeutschland nach West-Berlin verlegt, um am 14. März 1971 das für Ihn vorerst geringste Übel, die SEW, wählen zu können.

Und auch rechts von der SEW, In SPD- und FDP-Kreisen, kommt es vereinzelt zu Sympathie-Erklärungen. Der FDP-nahe Liberale Studentenbund West-Berlin (LSW) rief zur Wahlhilfe für die SEW auf, und 29 Sozialdemokraten rieten auf Flugblättern zur Aktionseinheit mit Danelius und Genossen.

Zwar hat die SPD Ende vorletzter Woche 25 der SEW-Förderer ausgeschlossen. In der Öffentlichkeit aber übt die Partei, um den Trend nach linksaußen nicht noch zu verstärken, Zurückhaltung. »An gezielten Gegenmaßnahmen«, tadelte Springers »Berliner Morgenpost« die Rathaus-SPD, »fehlt es bisher.«

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