Seltsame Überheblichkeiten zirkulieren
in den Köpfen mancher CDU-Leute, die nicht in der Regierung sitzen; seltsame Ungereimtheiten, seltsame Vorstellungen vom modernen Krieg. Seltsame Ansichten auch über die Vereinigten Staaten und über Frankreich, die seltsamsten wohl über de Gaulle.
Den Bundestagspräsidenten Gerstenmaier mit seinen handgemalten Ellipsen am Fernsehschirm hantieren zu sehen, das könnte rührend sein - »ein Brennpunkt Washington, der andere vermutlich Paris« -, wenn er uns nicht seine Ansichten über die Verteidigung der Bundesrepublik mitgeliefert hätte, die sich in »Bild« also lesen:
BILD: Was geschieht, wenn die USA eines Tages in anderen Teilen der Welt so engagiert sind, daß sie Ihren Atomschutz für Europa vernachlässigen müssen? Ist das nicht gerade die Befürchtung de Gaulles?
GERSTENMAIER: Ich glaube nicht, daß die Amerikaner uns den Atomschutz jemals verweigern würden. Aber eins ist sicher richtig: Bei der heutigen technischen Entwicklung muß man sich die Frage stellen: Werden die Amerikaner rechtzeitig genug den Einsatzbefehl geben können? De Gaulle, daran habe ich keinen Zweifel, würde, wenn wir angegriffen werden, sofort schießen. Mit allem, was er hat.
Es verlohnt sich, die Situation ins Auge zu fassen. Die Russen, so sei die Annahme, greifen die Bundesrepublik an, entweder konventionell oder mit einem mittleren Atomschlag. Was könnte die Amerikaner hindern, einen atomaren Einsatzbefehl zu geben? Bei einem konventionellen Angriff offensichtlich die Erwartung, ihnen konventionell hinhaltenden Widerstand entgegensetzen zu können (nebenbei die einzige Strategie, die Deutschland teilweise am Leben ließe). Griffen die Sowjets aber atomar an, so könnte den Deutschen gleichgültig sein, wer sich mit welchen Mitteln zu ihrem Schutz bereit fände. Die Mehrheit wäre tot.
Es könnte ihnen gleichgültig sein - aber sollen wir annehmen, im Falle solch eines atomaren Schlages, der sechs amerikanische Divisionen zerschmetterte, würde Präsident Johnson den Einsatzbefehl nicht rechtzeitig genug geben können? Gerstenmaier mutet uns das zu. Es gibt aber keine technische Entwicklung, die einen frühzeitigen Einsatzbefehl verhindern könnte; wohl gibt es ausreichende und unstörbare technische Mittel, die einen rechtzeitigen Einsatzbefehl sicherstellen.
Solch ein Einsatzbefehl bedeutet »finis germaniae«. Sollen wir tatsächlich darauf dringen, daß wir komplett, und nicht nur zu vier Fünfteln ausgelöscht würden? Der Bundestagspräsident mutet uns das zu. Er will uns bestimmen zu glauben, daß de Gaulle »sofort schießen« würde - welch altväterlich liebenswerte Ausdrucksweise -, und zwar »mit allem, was er hat«.
Unfair, so höre ich den Bundestagspräsidenten rufen, es kommt ja nur darauf an, daß die Sowjets sich bei den Amerikanern eine Chance ausrechnen können, ohne atomare Vergeltung anzugreifen, bei de Gaulle aber nicht. Die beste Garantie für Deutschlands Sicherheit, so hat Georg Picht in Paris von Jacques Baumel, dem Generalsekretär der Gaullisten, erfahren, »liege noch immer in dem Charakter von General de Gaulle«.
Nun kann niemand bestreiten, daß de Gaulie ein charakterstarker Mann ist. Es fragt sich nur, für welche Ziele er seine Charakterstärke einsetzt. Es fragt sich auch, wie lange er noch leben und regieren wird. Mir scheint unwiderlegbar, daß ein Angriff der Sowjets - immer unterstellt, sie wollten angreifen - von der Spekulation ermutigt werden könnte, es atomar nur mit den Franzosen, nicht aber mit den USA zu tun zu haben (oder, später, nur mit den Franzosen und nicht mehr mit de Gaulle).
Das »unkalkulierbare Risiko«, dem die Sowjets konfrontiert sind, muß weiter in der Unsicherheit liegen, ob und wann die USA atomar zurückschlagen. Sollten die Sowjets jemals im Falle einer konventionellen Verwicklung atomare Gegenaktionen nur seitens der Franzosen in Rechnung stellen müssen, so läge die Versuchung nahe, die wenigen französischen Startplätze mittels eines vorbeugenden Atomschlags, eines preemptive strike, auszuschalten.
Die Entfremdung zwischen dem europäischen Kontinent und den USA erst macht das Risiko, das die Sowjets laufen würden, kalkulierbarer, zumindest akzeptabler. Aber de Gaulle und seine deutschen Parteigänger treiben genau in diese Richtung.
Den Übelstand, den Gerstenmaier zu fürchten angibt, würde die Politik, die er vorschlägt, mit Sicherheit herbeizwingen. Man bilde sich nicht ein, die Amerikaner in Mitteleuropa weiterhin engagieren zu können, wenn man ihnen, wie Gerstenmaier, stetiges Mißtrauen bezeigt und ihnen sogar das Recht streitig macht, ihren Einsatz selbst zu bestimmen. Will Europa, was immer man unter Europa verstehen mag, sich instand setzen, die USA in einen Atomkrieg zu verwickeln, so werden die Amerikaner Europa verlassen.
Bekanntlich gipfelt die französische Souveränitätsvorstellung in dem erhebenden Gedanken, aus eigener Entscheidung Selbstmord begehen und Sowjetrußland dabei »einen Arm abreißen« zu können. Aber bis 1975 werden die Franzosen zu diesem Notwehrakt noch nicht fähig sein. Wohl aber könnten sie, kämen ihre deutschen Hilfstruppen zum Zuge, bis dahin erreicht haben, die Amerikaner aus Mitteleuropa hinauszuengagieren.
Entweder man nimmt die sowjetische Bedrohung so wenig ernst wie de Gaulle selbst: Dann genügt sein Schutz freilich, wenn auch sicher nicht für West -Berlin. Oder aber Krone, Guttenberg, Strauß, Hassel malen das Gespenst des unersättlichen, derzeit sich verschnaufenden Weltkommunismus mit Grund an die Wand: Dann ist es teutonischer Untergangstrieb, die USA zu brüskieren und den Franzosen statt dessen ihre angeblich europäische Bombe zu finanzieren, wie Gerstenmaier, laut »Bild« »vieldeutig«, gezwinkert hat ("Ich hoffe, Sie verstehen mich").
Es ist offizielle französische Doktrin, daß die französische Bombe nur eingesetzt wird, wenn französische Lebensinteressen auf dem Spiel stehen. Laut der von General Gallois entworfenen offiziellen Theorie soll der französische Atomschlag »mechanisch wie von einem Uhrwerk« ausgelöst werden, ohne Zustimmung des französischen Volkes, von dem man nicht wohl verlangen könne, daß es seiner eigenen Vernichtung zustimme.
An lateinischer Klarheit läßt dies Denken nichts zu wünschen übrig. Die Schlußfolgerung für die Deutschen ist weniger erhaben, dennoch zwingend: Zur Verteidigung des Territoriums der Bundesrepublik (von West-Berlin nicht zu reden) würde diese »mechanische Vergeltung« nicht in Gang gesetzt werden. Würde de Gaulle sie uns versprechen, so wäre das eine jener wohltätigen Lügen, die zu glauben er selbst nicht der Mann und die bei anderen zu verzeihen er stets geneigt wäre.
Angenommen also, die Sowjets griffen die Bundesrepublik nur mit konventionellen Waffen an, durch die amerikanische Strategie der »atomaren Schwelle« ermutigt, wie unsere deutschen Gaullisten befürchten: Was wäre die französische Reaktion, wenn die amerikanischen Truppen keinen Befehl erhielten, die atomaren Zünder freizugeben?
Zweierlei Möglichkeiten. Die wahrscheinlichere: Auch Frankreich würde nicht atomar losschlagen (was übrigens dann wohl auch kein Deutscher mehr wünschen würde). Sollte es aber Atomwaffen einsetzen, so würde es nicht etwa versuchen, Rußland den berühmten einen Arm abzureißen. Seine Mittel werden nach menschlicher Berechnung kaum jemals dazu ausreichen*.
Vielmehr wäre es dann versucht, wie der französische Generalstabschef Ailleret in dankenswerter Offenheit dargelegt hat, das Gebiet des deutschen Bundesgenossen und das Aufmarschgebiet DDR als »Demonstrationsraum nuklearer Abschreckung« zu benutzen. So reduziert sich der Nutzen der französischen ,Force de frappe« auf die Fähigkeit, bei einem konventionellen Angriff auf die Bundesrepublik den Atomkrieg nach Deutschland zu tragen, und vielleicht, sehr vielleicht, den weltweiten Atomkrieg ohne Rücksicht auf die USA zu initiieren.
Diese Fähigkeit aber bleibt abstrakt, unausdenkbar. Sie scheint wenig geeignet, die Sowjets von einem Angriff auf Deutschland, wenn sie ihn denn schon für unausweichlich hielten, abzuschrekken. Vielmehr könnten sie beträchtlichen Nutzen aus dem Übelstand ziehen, daß die USA im Falle von konventionellen Verwicklungen den Verbündeten Frankreich ähnlich mißtrauisch beäugen müßten wie den russischen Gegner. Andererseits kann man sich wenig Gutes von der Erwägung versprechen, die Sowjets müßten den französischen Staatspräsidenten für so unberechenbar halten, daß er auch zu einem Wahnsinnsakt wie der einzelgängerischen Auslöschung Frankreichs imstande sei.
»Es gibt keine Allianzen mehr«, das ist de Gaulles Kredo. In Wahrheit gibt es keine Möglichkeit mehr, ein Gebiet von der Größe respektive Kleinheit Westeuropas atomar und ohne weltweite Strukturen zu verteidigen.
Unterstützen wir die französische Atomrüstung, in der Hoffnung, eines Tages von Frankreich Atomwaffen käuflich zu erwerben, so verlieren wir mit Sicherheit den Schutz der USA, deren Präsidenten nicht glauben, daß Allianzen sinnlos geworden sind.
Weiter machen wir uns, mit Hilfe von »Bild«, CSU und etlichen Revanche -Journalisten, verdächtig, die Verknotung in Mitteleuropa nicht durch geduldige Politik aufweichen, sondern durch Kriegsdruck und bei Gelegenheit zerhauen zu wollen - der Gestank der Gewalttätigkeit ist in der Bundesrepublik sofort wieder aus den alten Töpfen gekrochen, kaum daß China sich mit den Sowjets zerrauft zu haben schien.
Wieder empfehlen deutsche Politiker, zu denen diesmal auch der reichlich ahnungslose Bundestagspräsident gehört, einen Weg, der nicht so sehr auf Krieg wie auf einen von vornherein verlorenen Krieg hinführt. Wieder begeben sie sich sehenden Auges und besten Willens ans Schlittern, den Mund noch voller Rechtfertigungen für die überheblichen und vernagelten Narren von 1914. Ist denn gelogen, daß Offiziere des Verteidigungsministeriums sich zu Amtszeiten des Ministers Strauß mit Studien beschäftigt haben, ob man gegnerischen Angriffsabsichten - wie erkennt man die? - mit einem vorbeugenden Atomschlag, einem preemptive strike, zuvorkommen könne?
* Georg Picht gibt in der neuesten, der 200.
Nummer des »Merkur« aufschlußreiche Daten:
- Von 90 Flugzeugen »Mirage IV« würden schätzungsweise fünf bis sechs ihre Ziele, Städte In Rußland, erreichen, wo sie A-Bomben von der dreifachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe abwerfen würden.
- Frühestens 1973 werden drei atomgetriebene U-Boote mit Polarisraketen und Wasserstoffsprengkäpfen bereitliegen, jeweils eins einsatzbereit und zwei zur Überholung im Dock.
- Die USA stellen fünfzehnmal mehr Gelder für die atomare Rüstung bereit als Frankreich.
Hamburger Abendblatt
Gerstenmaier