NATO Schlacht von gestern
Der Kanzler war befremdet, den Außenminister plagten düstere Gedanken.
Das war Ende April. Der SPIEGEL (17 und 18/1989) hatte zum Entsetzen der Militärs enthüllt, daß die Nato bei der Stabsübung »Wintex-Cimex 89« zum erstenmal dem Ersteinsatz (first use) von Atomwaffen gleich einen zweiten Atomschlag (follow on use) folgen ließ und damit alles zerstörte, was eigentlich verteidigt werden soll.
Die im Nato-Drehbuch vorgesehenen 45 atomaren Bomben, Raketensprengköpfe und Artilleriegeschosse hätten im Ernstfall nicht nur, wie wissenschaftliche Berechnungen ergaben, weite Teile der Bundesrepublik und der DDR durch Feuerstürme und radioaktive Niederschläge verwüstet, sondern auch Millionen Menschen getötet. In Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn wären ganze Landstriche für Jahrzehnte unbewohnbar gewesen.
»Das ist ein Szenario, das für uns Deutsche völlig unakzeptabel ist«, erregte sich Helmut Kohl vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. »Ich habe einen Eid geleistet, Schaden vom deutschen Volk zu wenden«, versicherte Hans-Dietrich Genscher. Er mochte auch die Entschuldigung des Verteidigungsministeriums nicht gelten lassen, die Amerikaner hätten nur Militärs und Technokraten entscheiden lassen, denen »die nötige Sensibilität gefehlt« habe.
So ehrlich die Empörung auch gewesen sein mag: Kohl und Genscher hätten wissen können, was die Generale und ihre Stäbe ausgeheckt hatten.
Der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, US-General John Galvin, hatte seine Pläne, wie Sitzungsprotokolle ausweisen, in den zwei Jahren vor Beginn der Kriegsspiele neunmal dem Ständigen Nato-Rat und dem Nato-Militärausschuß vorgelegt und sogar mündlich erläutert. Im Nato-Rat in Brüssel sitzt ein Botschafter des Bonner Auswärtigen Amtes, den Vorsitz führt seit 1988 ein Deutscher: Nato-Generalsekretär Manfred Wörner. Im Nato-Militärausschuß in Brüssel sitzt ein Generalleutnant des Bonner Verteidigungsministeriums, auch hier führt den Vorsitz ein Deutscher: General Wolfgang Altenburg.
Weder im Nato-Rat noch im Nato-Militärausschuß wurden die mit den höchsten Geheimstempeln »Nato Cosmic« und »Atomal« versehenen Schreckenspläne des US-Generals beanstandet.
Nachdem auch die Generalstabschefs der Nato-Länder - die Deutschen waren durch ihren Generalinspekteur Dieter Wellershoff vertreten - in einer Sitzung im Dezember vergangenen Jahres ihre Zustimmung gegeben hatten, sandte Galvin, wie die Vorschrift es befiehlt, 45 Tage vor Übungsbeginn seine Drehbücher an die Verbündeten; in Bonn erhielten das Kanzleramt, das Auswärtige Amt, das Verteidigungs- und das Innenministerium je ein Exemplar. Auch von ihnen kamen keine Einwände, das Spiel lief ab. Erst danach gaben sich die Politiker sehr »befremdet« (Innenminister Wolfgang Schäuble), doch die Verärgerung dauerte nicht lange.
Die Militärs arbeiten, unbeeindruckt von den markigen Protesten in Bonn und den erfolgversprechenden Abrüstungsverhandlungen in Wien, schon seit vier Wochen an Plänen für das nächste große Atomkriegsspiel.
Der Führungsstab der Streitkräfte schrieb unter dem Aktenzeichen 34-01-16 Mitte Juni an hohe Offiziere und Beamte im Verteidigungsministerium und in den Nato-Behörden eine »Weisung für die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung« von »Wintex-Cimex 91«. Das Papier unterscheidet sich kaum von früheren; lediglich das Wort »Kriegsphase« wurde ersetzt. Die Militärs sprechen jetzt von »Verteidigungsphase«.
Die neue Übung soll vom 22. Februar bis 7. März 1991 stattfinden. Um die »Funktions- und Handlungsfähigkeit zu erhalten und verbessern«, will die Nato laut Weisung
die »gültigen Operationspläne und Verfahren der Streitkräfte zur Vorneverteidigung« und
die »Führungsfähigkeit bei eingeschränkten Fernmeldeverbindungen« überprüfen;
bündnisweit das »Aufrechterhalten der See- und Luftverbindungslinien« sowie
die »nuklearen Konsultationsverfahren« erproben.
Der letzte Punkt macht deutlich, daß für 1991 wie eh und je der Einsatz von Atomwaffen geplant wird. Die 1986 verabschiedeten »Allgemeinen Politischen Richtlinien« für den Einsatz von Atomwaffen schreiben vor, daß der US-Präsident vor Freigabe der ersten Bomben und Sprengköpfe die Verbündeten konsultiert - »wenn Zeit und Umstände« es erlauben.
»Der Generalsekretär der Nato«, heißt es im Schreiben des Führungsstabes, »wird wiederum die Schirmherrschaft (,Sponsorship') für diese Übung« übernehmen, der Nato-Oberbefehlshaber Europa die »Vorbereitung und Durchführung« koordinieren; in Bonn sei das Verteidigungsministerium »federführend«.
US-General John Galvin und sein Stab, die schon »Wintex 89« zu verantworten hatten, haben inzwischen die ersten Entwürfe für das neue Kriegsspiel fertiggestellt. »Wintex-Cimex 91« soll nach dem 1969 eingeführten Schema ablaufen.
Krise irgendwo in der Welt, Mobilmachung im Osten, Mobilmachung im Westen. Die Sowjet-Union verlegt Verbände an die Westgrenze der DDR und der CSSR, die USA fliegen Soldaten nach Europa und verschiffen Waffen und schweres Gerät. Die Sowjets greifen mit konventionellen Waffen an, die Nato muß - wider alle militärische Logik - schon nach wenigen Tagen Atomwaffen einsetzen, weil der Angriff aus dem Osten anders nicht zu stoppen ist. Versuche, die brenzlige Lage zu entspannen, werden nicht gemacht.
Schon Kohl-Vorgänger Helmut Schmidt hatte kritisiert, daß die Nato-Drehbücher »keine wirkliche Flexibilität« böten und von einer viel zu schnellen Eskalation in den Atomkrieg ausgingen. Schmidt: »Als ich 1969 Verteidigungsminister wurde, war mit klar, daß diese Strategie innerhalb weniger Tage zu millionenfacher Vernichtung menschlichen Lebens in beiden Teilen Deutschlands führen könnte.«
Schmidt versuchte die Nato-Militärs zu realistischen Planspielen zu überreden, ohne Erfolg. Als Bundeskanzler immer wieder mit den Nato-Manövern konfrontiert, nahm er Ende der siebziger Jahre seinen Generalinspekteur Jürgen Brandt beiseite und erklärte kategorisch: »Ich denke, wir sind uns einig: Nach der ersten Atomexplosion in Deutschland befehle ich die Einstellung der Kampfhandlungen.«
Dennoch konnten die Nato-Militärs bisher nicht dazu gebracht werden, ihre Kriegsszenarien zu ändern. Für sie ist und bleibt Europa der Kriegsschauplatz, auf dem sie die Schlachten von gestern mit den Waffen von heute schlagen.
Die Amerikaner wollen, wenn es denn zu einem Ost-West-Konflikt kommen sollte, nicht sofort den großen Atomschlag gegen die Sowjet-Union und damit ihre eigene Existenz riskieren. Sie proben den auf Europa begrenzten Krieg.
Mit der Starrheit alter Esel lassen der Nato-Oberbefehlshaber Europa und sein Stabschef, beide stets Amerikaner, alle zwei Jahre von ihren Obristen die alten Drehbücher neu auflegen. In Ereignis-Listen und Alarmkalendern wird minutiös festgehalten, was wann zu geschehen hat - von der Mobilmachung über die Ausgabe von Lebensmittelkarten, die Beschlagnahme von Kraftfahrzeugen und die Evakuierung der Bevölkerung bis hin zum Ausrücken der Truppen und dem Einsatz von Atomwaffen. Die Politiker hoffen, daß die Öffentlichkeit nicht erfährt, was da gedacht, geprobt und für den Ernstfall vorbereitet wird.
Im Regierungsbunker an der Ahr lassen sich der Kanzler, Minister und Abgeordnete durch Beamte vertreten, denen wichtige Informationen vorenthalten werden und die daher kaum Entscheidungsmöglichkeiten haben - zivile Statisten auf einer militärischen Bühne, die von Generalen und Obristen beherrscht wird.
Die deutschen Interessen bei der Vorbereitung von »Wintex-Cimex 91« soll jetzt ein Oberst vertreten. Er hat, wie unter Punkt 5.1 der Bonner Weisung zu lesen, »bei Ausgestaltung der Szenarien die nationalen Standpunkte gegenüber Nato-Dienststellen« vorzutragen.
Der brave Oberst wird, wie die Erfahrungen im Nato-Hauptquartier in Mons/Belgien zeigen, nicht einmal bis zum Stabschef des amerikanischen Oberbefehlshabers vordringen.
Als US-General Galvin am 12. Juni kurz vor der Ankunft Michail Gorbatschows in Bonn eine Nato-Alarmübung befahl, wagten auch die ranghöchsten deutschen Gehilfen in Mons keinen Widerspruch: General Eberhard Eimler ist stellvertretender Oberbefehlshaber, Generalleutnant Wolfgang Malecha stellvertretender Chef des Stabes. Kurz vor dem Ausrücken der Truppe intervenierte Dieter Wellershoff, der Generalinspekteur der Bundeswehr, der sich gerade für den Empfang des sowjetischen Staatschefs feinmachte.