AFFÄRE WEIGAND Schlägt's 13
Die viermotorige DC 6 N 6105 der Pan American World Airways, Charterflug Nr. 24, stand abflugbereit auf dem Rollfeld in Berlin-Tempelhof.
In einem Kleinbus wurde der Passagier herantransportiert, für den die Maschine gemietet worden war. Drei Polizisten machten ihn noch im Wagen flugfertig: Sie zwängten Handschellen um seine Gelenke, schlugen Knebelketten um seine Arme und hielten ihm den Mund zu, als er vor Schmerzen aufschrie.
Wenige Minuten später rollte die Maschine mit dem Gefesselten an Bord zum Start. Das war am 22. September dieses Jahres, zwölf Uhr mittags.
Für den Delinquenten freilich schlug es dreizehn: Der Diplom-Volkswirt Dr. Günter Weigand, 39, wurde von Berlin ins Strafgefängnis nach Münster und von dort in die Heilanstalt Eickelborn bei Soest geschafft.
Dort wird er seither verwahrt, hinter 28 verriegelten Türen.
Eine Woche nach der Gewaltszene urteilte der Regensburger Theologie-Professor Dr. Dr. Franz Klüber, der wie zahlreiche andere renommierte Persönlichkeiten spontan für Weigand eintrat, über den Eingeschlossenen von Eickelborn: »Ich kenne Herrn Dr. Weigand ... persönlich sehr gut. Er ist ein ungewöhnlich intelligenter Mann mit einem untrüglichen Sinn für Recht und Gerechtigkeit.«
Dieser - fast zu Kohlhaas-Format ausgebildete - Sinn für Gerechtigkeit war es, der Weigand zum Verhängnis wurde: Zwei Jahre lang hatte der »Sozialanwalt«, wie sich der Nichtjurist und Rechtsfanatiker Weigand verstand, nachzuweisen versucht, daß der Rechtsanwalt Paul Blomert aus Münster am 25. August 1961 nicht - so die amtlichen Versionen - einem Unglücksfall oder Selbstmord, sondern einem Mord zum Opfer gefallen sei.
Die Justizbehörden jedoch nahmen sich nicht den widernatürlichen Todesfall, sondern den »Sozialanwalt« Weigand vor. Dabei kam ihnen ein Gutachten zustatten, das Professor Dr. Helmut Selbach, Direktor der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Freien Universität Berlin, über den privaten Mordforscher Weigand abgab.
Der Mediziner, dem Weigand zur Untersuchung überstellt worden war, entschied, daß »Irreführung und Beunruhigung der Öffentlichkeit, Vertrauensgefährdung gegenüber der Rechtspflege, Störung der ordnungsgemäßen Verwaltungsarbeit von Behörden und schließlich auch Aufhetzen durch inhaltlich falsche und verleumderische Schriften ... das Maß der Gefährdung der Allgemeinheit durch Herrn Dr. W.« kennzeichneten.
Schlimmer noch: »Durch seine Angriffe ... überschreitet er ... die Gefahrenlinie, Stillegung der Rechtspflege zeigt schließlich die Erheblichkeit der Gefährdung in vollem Umfange.«
Dem Professor war klar, wohin sein Gutachten den Weigand bringen mußte: Die Erfahrung habe gelehrt, so dozierte Selbach, »daß man bei exzessiver Querulanz der Möglichkeit der Sicherungsverwahrung größere Beachtung schenken sollte«. Dazu der Stuttgarter Ordinarius für Philosophie und Pädagogik, Professor Dr. Robert Spaemann: »Haarsträubende Ideen.«
Tatsächlich kommt die Sicherungsverwahrung einem Gesellschaftstod des Betroffenen gleich. Deshalb darf diese Maßnahme laut Strafgesetzbuch auch nur auf »gefährliche Gewohnheitsverbrecher« angewendet werden, und das lediglich dann, »wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert«.
Dr. Günter Weigand aber war nicht vorbestraft. Er hatte Handzettel verteilt - mit allerdings aggressivem Inhalt. »Ohne die Konventionen der verfilzten Münsteraner Gesellschaft zu berücksichtigen«, wie die »Zeit« schrieb, bombardierte die »Geißel von Münster« seit November 1962 die Öffentlichkeit der westfälischen Bischofsstadt mit immer neuen Pamphleten, die er in Tausenden von Exemplaren ("Bitte lesen und weitergeben ...!") auf Straßen und Plätzen verteilte.
Von Mal zu Mal bissiger und bohrender stellte Weigand darin die Frage, »warum Paul Blomert sterben mußte«. Im Holzhacker-Stil forderte er die »verehrten Münsteraner Bürger« auf, dafür zu sorgen, daß der »staatlich verschleierte Mord an Blomert ohne Ansehen der in ihn verwickelten Personen endlich aufgeklärt« werde.
Nach Weigands Flugblatt-Erkenntnissen mußte der Anwalt Blomert sterben,
- »weil er das 5. Rad am holprigen
Wagen einer Vierecksbeziehung war«;
- »weil er als Sozius des hochangesehenen CDU-Kämpfers (und damaligen Oberbürgermeisters) Peus so unvorsichtig war, mehrfach zu drohen, er werde den ganzen schmutzigen Laden hochgehen lassen«;
- »weil seine treue (Ehefrau) Ulla ihre
Lage durch Scheidung nicht verschlechtern lassen wollte«.
Und: »Mit immer schlechteren, erbärmlicheren Lügen wollen kriminelle Beamte in Münster und Hamm auf Weisung des pflichtvergessenen CDU-Ministers Sträter in Düsseldorf den Durchbruch der Wahrheit aufhalten.«
Weigands Wahrheit: »An der Tatsache, daß Rechtsanwalt Blomert in den Mittagsstunden des 25. August 1961 in seiner Wohnung nach einem Kampf mit mehreren Mordbeteiligten heimtückisch ermordet und dieses Kapitalverbrechen fast perfekt verschleiert worden ist, kann kein vernünftiger Mensch mehr zweifeln.«
Paul Blomert, damals 43, war an jenem Freitagmittag kurz nach 13 Uhr im Schlafzimmer seiner Wohnung am Hindenburgplatz 22 mit zertrümmerter Schädeldecke sterbend zusammengebrochen. In den Händen soll er seine Schonzeitbüchse gehalten haben, Kaliber 5,6 Millimeter.
Keine Stunde später, um 13.55 Uhr, war der Anwalt tot. Ob er in der Wohnung, auf der Sanitätsbahre oder erst im Krankenwagen starb, blieb strittig. Ein Arzt, Dr. Theodor Tiwisina, kreuzte auf der Todesbescheinigung als Todesart »Unglücksfall«, als Todesursache »Herzstillstand«, »Kreislaufversagen« und »Atemlähmung« an.
Der »Schaden« - so der amtliche Totenschein - sei durch eine »offene Hirnverletzung durch direkte Gewalteinwirkung« entstanden. Als »Unfallkategorie« erkannte Dr. Tiwisina »priv. Unfall«.
Ehefrau Ursula Blomert, damals 37, war jedoch sogleich überzeugt, ihr Paul
habe Selbstmord begangen. Vor der Kriminalpolizei und dem Oberstaatsanwalt Duhme erläuterte sie auch den Grund: Die Karriere ihres Mannes sei durch eheliche Schwierigkeiten bedroht gewesen. Sein Sozius, Rechtsanwalt und Oberbürgermeister Busso Peus, habe Blomert vor die Alternative gestellt, sein Eheleben zu ordnen oder aus der gemeinsamen Praxis auszuscheiden.
Noch beim Mittagessen am Todestag, ergänzt Ulla Blomert heute, habe ihr Mann mit ihr darüber gesprochen, ein neues Leben anzufangen. Als sie ihm aber entgegengehalten habe, das gehe schließlich nicht von heute auf morgen, sei er aufgestanden mit den Worten »Lebewohl« und »Sorge du für die Kinder«. Unmittelbar darauf seien im Schlafzimmer drei Schüsse gefallen.
Ursula Blomert bemühte sich sofort um Hilfe. Nach einem vergeblichen Anruf bei ihrem Hausarzt telephonierte sie - nach eigenen Angaben - mit dem befreundeten Ehepaar Gustav und Helene Krabbe. Die Krabbes waren schnell zur Stelle und alarmierten den Dr. Tiwisina, einen Bekannten.
Blomerts Blutsverwandte - sein 81 Jahre alter Vater Franz und seine Brüder Clemens und Ludger - akzeptierten allerdings weder die Tiwisina-These vom »priv. Unfall« noch die Selbstmord-Darstellung der Ehefrau. Gegen die eine Version spreche, so wendete Bruder Clemens ein, daß Paul »ein erfahrener Jäger«, gegen die andere, daß er »äußerst lebensfroh« gewesen sei.
Noch etwas machte diese Angehörigen stutzig: Als sie kurz vor der Beerdigung in der Friedhofskapelle den Sarg öffneten, sahen sie zu ihrem Entsetzen, daß der Kopf des Verblichenen von vorn bis hinten mit Pflastern verklebt war.
Das schien ihnen dem Ergebnis der »Nachschau« zu widersprechen, die inzwischen im Institut für Gerichtliche Medizin der Universität Münster vorgenommen worden war. Danach hatte von den drei Kugeln - sie wurden in der Schlafzimmerdecke gefunden - nur eine »im Bereich des Gesichts« getroffen und den Kopf vom linken inneren Augenwinkel bis zum Schädeldach durchquert.
Die Blomerts dagegen sagten sich, daß, nach den Pflastern zu urteilen, mindestens zwei, wenn nicht alle drei Kugeln getroffen haben müßten. Und zwei auffällige Dellen in der Schädeldecke konnten nach ihrer Ansicht überhaupt nicht von einem Geschoß stammen.
Ihre Anträge, deshalb die Leiche exhumieren zu lassen, wurden von der Staatsanwaltschaft jedoch abgelehnt - zuletzt am 13. August 1962, knapp ein Jahr nach dem rätselhaften Todesfall. Zu dieser Zeit wurde dem Clemens Blomert empfohlen, sich doch einmal an Dr. Günter Weigand in Münster zu wenden, der - wie stadtbekannt - schon häufiger an der Justiz zweifelnden Mitbürgern geholfen hatte. Weigand: »Als letzte Hoffnung« und »weil ich unerschrocken, scharf und zäh sei«.
Volkswirt Weigand machte »nach einigem Zögern und Bedenken« von diesen Eigenschaften denn auch - honorarfrei - ausgiebigen Gebrauch. Zunächst erstattete er Mordanzeige bei der Staatsanwaltschaft. Sie wurde nach zwölf Tagen und »nach Aktenlage« nicht weiterverfolgt.
Nach Ansicht der Staatsanwälte schien für Selbstmord auch ein »präsuicidales Syndrom« - auf gut deutsch: Neigung zum Selbstmord - zu sprechen, das der Psychotherapeut Dr. Trappe eruiert hatte. Den Seelendoktor hatten Paul und Ursula Blomert auf Anraten des Jesuitenpaters Rigobert Vögele zwecks Heilung ihrer Ehe aufgesucht. Aber Paul war nach zwei Sitzungen davongelaufen, Frau Ursula hielt zehn durch - einige auch nach dem Tode ihres Mannes.
Privatdetektiv Weigand hingegen befragte ein Vierteljahr lang »an die 350 Personen aus dem Lebenskreise des Toten«. Resultat laut Weigand: »95 Prozent der Befragten ... glaubten nicht an den offiziösen 'Selbstmord-Unglücksfall'.«
Zugleich versandte Weigand ausladende Schriftsätze an Behörden und Gerichte. Schließlich ging er, da seine orthodoxen Kampfmethoden nichts fruchteten, zum Flugblatt-Freistil über, der ihm gut zwei Dutzend Anklagen - im wesentlichen wegen Beleidigung und übler Nachrede - und zwei Sacherfolge einbrachte: Blomert wurde doch noch exhumiert; der dafür zuständige Obduktionsrichter, Amtsgerichtsrat Eberhard Gall, beschloß, dem Todesfall Blomert doch noch von Amts wegen auf den Grund zu gehen.
Was Weigand vorgebracht hatte, schien auch dem Richter keineswegs abwegig:
- Polizei und Staatsanwaltschaft hatten ihre Tätigkeit von vornherein auf die unbewiesene These gegründet, es liege kein Mord vor.
- Die Leiche war längst abtransportiert, als die Kriminalbeamten Stiller und Neumann von der Mordkommission am Tatort eintrafen.
- Die Tatwaffe zeigte Fingerabdrücke
des Opfers Blomert, des Arztes Tiwisina und des Freundes Krabbe.
- Die telephonisch erreichbaren Anverwandten ihres Mannes ließ Frau Blomert ohne Nachricht. Sie erfuhren erst am Abend zufällig von dem Vorfall.
- Der blutgetränkte Läufer, auf dem Blomert angeblich gelegen hatte, wurde nicht sichergestellt. Freund Krabbe ließ ihn anderntags im Beerdigungsinstitut Michaelis verheizen.
- Blomerts Leichnam wurde entgegen
den bei unnatürlichen Todesfällen geltenden Regeln lediglich äußerlich, nicht aber beispielsweise auf Gifteinwirkung untersucht.
- Kein Schußexperte wurde zu der
Frage gehört, ob ein einziges Kleinkaliber-Geschoß die ganze Schädeldecke zertrümmern konnte.
Weigand entdeckte noch mehr. So war der Beerdigungstermin ursprünglich auf 5.30 Uhr morgens anberaumt worden, obschon die Friedhofsordnung Bestattungen erst ab acht Uhr erlaubt. Und mehr als ein halbes Jahr nach der Beisetzung, Ostern 1962, konnte Bruder Clemens bei einem Besuch am Grabe »die Reste eines Sandaushubs, etwa 3 qm flächig« feststellen. Die Friedhofverwaltung bestätigte die Veränderung, weiß bis heute allerdings nicht, wer dort geschürft hat.
Irgend etwas war aber am Blomert -Grab geschehen. Denn als es am 1. Dezember 1962 schließlich doch zur Exhumierung kam, lugte zwischen Sarg und Deckel ein Stück braunes Packpapier hervor. Und: Im Sarg lag die Geschäftskarte eines Beerdigungsinstituts, das die Bestattung gar nicht ausgeführt hatte. Clemens Blomert will zudem kurz vor der Obduktion den Kopf seines Bruders anders bepflastert gesehen haben als seinerzeit vor der Beerdigung. Während der medizinischen Prozedur selbst wurde er samt Rechtsanwalt von Professor Sachs vor die Tür expediert. Heute bedauert der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Sommer, daß sein Kollege Stricker damit einverstanden gewesen sei.
Als stärksten Trumpf jedoch präsentierte Weigand seine Behauptung, die drei Abschiedsbriefe des Rechtsanwalts Blomert an Vater, Frau und Sozius seien gefälscht. Zu dieser These steuerte Blomert-Bruder Clemens aus der Erinnerung eine frühere Bemerkung von Ehefrau Ursula bei: »Pauls Schrift kann ich leicht nachmachen.«
Zur graphologischen Begutachtung der Schriftstücke standen indes nur zwei der drei Abschiedsbriefe zur Verfügung. Den dritten an Sozius Peus hatte der erfahrene Advokat sogleich in den Papierkorb geworfen, »wie man es nun einmal mit solchen Briefen macht« (so die Zeitschrift »Pardon« spöttisch).
Dem holländischen Schriftkundler C. W. Zeemann genügten die beiden übriggebliebenen Briefe für die Feststellung, daß Paul Blomert nicht der Verfasser sein könne. Und der »öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Schriften« Bruno Klaassen aus Hildesheim bestätigte: »Ich muß ... die Erstellung der Abschiedsbriefe durch eine Fremdperson ansetzen.«
Der fast 88 Jahre alte Schriftsachverständige Professor Brüning aus Münster war allerdings anderer Ansicht; er hielt die Briefe für Blomert-Originale. Es war derselbe Brüning, der schon 1952 der Staatsanwaltschaft Arnsberg ein Schriftgutachten erstattet hatte, aufgrund dessen ein Unschuldiger fast verurteilt worden wäre, hätte der Angeklagte den wahren Täter nicht zufällig selbst ausfindig gemacht.
Weigand glaubte, nicht nur einen Mord, sondern auch Mordmotive entdeckt zu haben, nämlich die von ihm so genannte »Vierecksbeziehung« - mit Paul Blomert als fünftem Rad am Wagen - zwischen der ehemaligen münsterländischen »Rosenkönigin« Frau Blomert und Hausfreund Krabbe auf der einen sowie der Krabbe-Frau Helene und einem ehemaligen Zahnarzt Dr. Hans Freiberg auf der anderen Seite.
Ursula Blomert und Stahlkaufmann Gustav Krabbe, dem sie jetzt die Geschäfte führt, wie auch die beiden anderen bestreiten solche Beziehungen. Außerdem wendet sich Frau Blomert gegen die Behauptung Weigands, ihr Mann habe sich von ihr scheiden lassen wollen. Sie kann auf einen Brief des mit den einstigen Absichten ihres Mannes vertrauten Rechtsanwalts Dr. Hallermann an ihren Anwalt Dr. Lühn verweisen, in dem der Kollege dem Kollegen bestätigt, er habe »einen Auftrag, in irgendeiner Form anwaltlich tätig zu werden«, von dem verstorbenen Kollegen nicht erhalten. Sie hätten lediglich einige Male rein freundschaftlich über die Dinge gesprochen.
Nicht einmal mit der Lebensversicherungssumme von insgesamt 120 000 Mark habe sie rechnen können, beteuert Frau Blomert, denn es sei ihr nicht verborgen geblieben, daß ihr Mann die Verträge zugunsten der Kinder umgestellt habe.
Dennoch hakte auch Obduktionsrichter Gall an, den Punkten ein, die Dr. Weigand kritisiert hatte. Ausführlich ließ er sich von den Beteiligten berichten, was sie über Blomerts Tod noch wußten. Der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Sommer war von dieser Entwicklung wenig angetan. Er rief den mitten in der Vernehmung sitzenden Richter Gall an und beschwor ihn, die Sache ruhen zu lassen.
Gall ließ sich nicht beirren. Tatsächlich stieß er auf befremdliche Widersprüche. So teilte ihm der jetzige Sanitärkaufmann Dr. Freiberg mit, er habe sich am frühen Nachmittag des Tattages in die Blomert-Wohnung begeben und im Treppenhaus den Oberstaatsanwalt Duhme getroffen.
Ihm habe er berichtet, noch wenige Stunden zuvor mit seinem Aero-Clubfreund Blomert gesprochen zu haben: Paul Blomert habe in seiner Anwaltspraxis deprimiert und schlaff im Sessel gesessen und beklagt, daß seine Frau ihn betrüge und geäußert, er werde sich erschießen. Die Unterhaltung, erinnerte sich Freiberg, habe zwischen 11.20 Uhr und 12.20 Uhr stattgefunden. Diese Aussage überraschte Richter Gall. Nicht weniger als vier Rechtsanwälte bestätigten nämlich unabhängig voneinander, sie hätten just um die Zeit mit Blomert im Landgerichtsgebäude geplaudert und der Kollege habe dabei »einen gelösten Eindruck« gemacht. Erst gegen 12.50 Uhr sei Blomert nach Hause gegangen. Zu einer einstündigen Unterhaltung mit Freiberg war danach mithin keine Zeit mehr. Denn: Eine Stunde später war Blomert schon tot.
Die Unfall- und Selbstmordthese wurde immer fragwürdiger. Galls Verhöre erhärteten weitgehend, was Weigand stets behauptet hatte: so auch, daß Zeugen in Blomerts Anwaltsräumen ein Stockwerk unter der Wohnung nicht nur die drei Schüsse, sondern auch eilige Schritte, schleifende Geräusche und schließlich einen »Bums« wahrgenommen hätten - obwohl regelmäßig am Freitagvormittag »die Knochensäge der benachbarten Fleischerei« lärmte, wie es in einem anwaltlichen Schriftsatz heißt.
Wegen des dringenden Verdachts, an der Ermordung des RA Blomert beteiligt zu sein, erließ Amtsgerichtsrat Eberhard Gall am 21. Januar 1962 Haftbefehle gegen Ursula Blomert, Gustav Krabbe, Helene Krabbe und Dr. Hans Freiberg.
Am darauffolgenden Nachmittag aber waren die Verhafteten wieder frei. Noch bevor die Akten fertiggestellt, Galls Vernehmungsprotokolle aus dem Stenogramm in Langschrift übertragen waren, zitierte die 4. Große Strafkammer des Landgerichts Münster den untergeordneten Richterkollegen herbei, um ihn zu hören. Dann befand sie: »Diese Verdachtsmomente reichen nicht aus« und hob die Haftbefehle auf.
Gall mußte die Blomert-Akte der Staatsanwaltschaft zurückreichen. Sie stellte das Verfahren ein. Nicht genug damit: Der Amtsgerichtsrat wurde einem Verfahren wegen Amtspflichtverletzung ausgesetzt.
Auf dem Einstellungsbeschluß vermerkte Richter Gall - er ist bereit, seine Zweifel vor einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß darzulegen - handschriftlich: »Warum werden alle belastenden Umstände bagatellisiert oder gar ignoriert? Warum werden nur entlastende Möglichkeiten, auch ganz unwahrscheinliche, berücksichtigt? Warum schenkt man den Angaben der Beschuldigten bedingungslos Glauben und überprüft sie nicht auf ihre Richtigkeit? Warum werden keine Belastungszeugen vernommen...?«
Aber auch für den Dienstherrn der Münsteraner Staatsanwälte war die Sache Blomert geklärt: Anfang März dieses Jahres verlautbarte der Düsseldorfer Justizminister Sträter (CDU) nach sechs Stunden langer, vertraulicher Diskussion im Justizausschuß des nordrhein-westfälischen Landtags, Blomert habe »nicht durch fremde, sondern durch eigene Hand den Tod gefunden«. Was den Fall Blomert aufhellen konnte, schien den Justizbehörden auch für den Fall Weigand geeignet. War Blomert an der Seele, so mochte Weigand vielleicht am Geiste krank sein. Kaum hatte der Sozialanwalt in Münster seine ersten Flugblätter verteilt, da erschien bei ihm in richterlichem Auftrag auch schon der Landesmedizinalrat Dr. med. habil. Alfred Anton, um zu prüfen, ob der promovierte Diplom-Volkswirt mit den glänzenden Examina geistig auf der Höhe sei.
Zwar widersetzte sich Weigand einer Untersuchung, doch erkannte Dr. Anton auf Anhieb den »stechenden, paranoiden Blick« seines Gegenübers und - nach einer Viertelstunde - auch »eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit«. Bei eingehender stationärer Beobachtung, so prophezeite Anton, werde sich »mit überwiegender Wahrscheinlichkeit« ergeben, daß Weigand »als gemeingefährlicher Geisteskranker bis auf weiteres in einer Anstalt verwahrt werden muß«.
Bevor es dazu kam, ließ sich der Volkswirt - nunmehr freiwillig - von dem Kölner Professor Dr. Wolfgang de Boor in 20, jeweils mehrstündigen Sitzungen noch einmal untersuchen. Das Resultat: Dr. Weigand sei keinesfalls geisteskrank, sondern »vollverantwortlich« für alle seine Handlungen. Ferner: Sein Intelligenzniveau liege »im Bereich der oberen Grenzen der Norm«. Der Diagnose pflichteten die Professoren Dr. Scheid in Köln und Dr. Kehrer senior in Münster bei, jeder Ordinarius für Psychiatrie.
Staatsanwaltschaft und Amtsgericht in Münster orientierten sich nicht am Urteil dieser Kapazitäten, sondern hielten das 15-Minuten-Gutachten des Dr. Anton für maßgebend. Amtsgerichtsrat Müller erließ gegen Weigand einen Unterbringungsbeschluß nach Paragraph 126 a der Strafprozeßordnung, der bis zur Hauptverhandlung die unbefristete Einweisung in eine öffentliche Heil- und Pflegeanstalt zuläßt.
Damit kam Müller bei höheren Instanzen jedoch nicht durch und mußte sich letztlich mit einem Unterbringungsbeschluß nach Paragraph 81 der Strafprozeßordnung begnügen. Diese Vorschrift erlaubt die zwangsweise Einweisung in eine Pflegeanstalt nur bis zu sechs Wochen.
Diese Zeitspanne verbrachte Weigand, der nach einer vorsichtshalber vorgenommenen Absetzbewegung in Berlin verhaftet wurde, in der Klinik des Chefpsychiaters der Freien Universität, Professor Dr. Selbach. Hier durfte der Zwangspatient wenigstens wieder unbeschwerter korrespondieren. Als Untersuchungshäftling hatte er dagegen auf Beforderung und Lektüre von rund 60 beschlagnahmten Briefen verzichten müssen. Selbst der Gedankenaustausch mit nächsten Verwandten fiel der Kontrolle zum Opfer. Der Berliner Anwalt Dr. Müller-Voss hat deswegen Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Am 15. September dieses Jahres berichtete Selbach dem Leitenden Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Münster gutachtlich auf 242 Schreibmaschinenseiten. Auf den letzten Bögen resümierte der Professor:
- Für Weigands Straftaten »in momentaner Rebellion« bestehe »eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen völliger Zurechnungsunfähigkeit« gemäß Paragraph 51 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs.
- Für Weigands Straftaten, die »im allgemeinen« aus einer »expansiven Querulanz« entstanden seien, ließen sich dagegen »mit Sicherheit die Voraussetzungen einer erheblich verminderten Zurechnungsunfähigkeit« gemäß Paragraph 51 Absatz 2 nachweisen.
Der Sachbearbeiter in Münster, Amtsgerichtsrat Müller, war mit diesem Gutachten offenkundig unzufrieden. Nachdem er ein Wochenende lang über dem Selbach-Werk gebrütet hatte, rief Müller gleich am Montag - es war der 21. September - in Berlin an und bat um eine »Ergänzung«, weil sich Unklarheiten hinsichtlich des Paragraphen 51 eingeschlichen hätten.
Für die Ergänzung benötigte Selbach keinen ganzen Tag und nur eine Seite. Im Nachgang »bestätigte« der Wissenschaftler nun plötzlich, Weigand habe alle seine Straftaten durchweg im Zustand völliger Zurechnungsunfähigkeit (Paragraph 51 Absatz 1) begangen.
Das gibt dem Gericht theoretisch die Möglichkeit, den Rechtsfanatiker Weigand für immer ins Irrenhaus zu sperren. Denn bei Zuerkennung des Paragraphen 51/1 brauchen sich die Richter - in der noch nicht abzusehenden Hauptverhandlung - gar nicht mehr mit der Frage zu befassen, ob sich Weigand strafbar gemacht hat (selbständiges Sicherungsverfahren). Wenn die Staatsanwaltschaft es beantragt, haben sie nur noch zu entscheiden, ob er in die Heilanstalt eingewiesen werden soll oder nicht.
Die ursprüngliche Form des Selbach -Gutachtens hingegen würde das Gericht zwingen, in der Hauptverhandlung auch die Straftaten Weigands zu beurteilen - etwa die ihm zur Last gelegten üblen Nachreden. Dann aber hätte Weigand auch hinreichend Gelegenheit, den Wahrheitsbeweis für seine Behauptungen zu erbringen.
Gerade das hatte Weigand mit all seinen Aktionen stets, provozieren wollen. Die Chance dazu bekam er nie.
Amateur-Anwalt Weigand
Wurde ein Kapitalverbrechen
...perfekt verschleiert?: Weigand-Flugblatt
Rechtsanwalt Blomert
Nach einem Lebewohl ...
Ehefrau Ulla Blomert
... Schüsse im Schlafzimmer
Blutbefleckter Blomert-Läufer
Legal verheizt
Blomert-Sarg: Illegal geöffnet?
Richter Gall
Alle verhaftet
Staatsanwalt Sommer
Keiner belastet
Rechtsanwalt Müller-Voss
Einer verwahrt