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KÄLTEPERIODE Schlamm vor der Tür

aus DER SPIEGEL 7/1963

Zwei Tage lang pendelte die Temperatur um den Nullpunkt. In den Ostberliner Ministerbüros keimte Optimismus. Dann zog, Anfang vorletzter Woche, vom polnischen Posen das Tief »Graviola« heran.

Bei minus 15 Grad erstarrte die Zuversicht der Funktionäre zu Hoffnungslosigkeit. Der in vierzig Frosttagen immer langsamer gewordene Pulsschlag der Sowjetzonen-Wirtschaft drohte vollends zu stocken.

Kohle, Strom und Gas wurden knapp. In den Tagebauen der Leipziger und Senftenberger Braunkohlenreviere versagten die Abraumbagger den Dienst. Die eingefrorene Reichsbahn war außerstande, den vergrößerten Brennstoffbedarf der Städte zu decken.

In den Großkraftwerken »Friedensgrenze« und Vockerode fielen zeitweilig mehrere Turbinen aus, weil Eispanzer den Wasserzufluß blockierten. Die Binnenschiffe lagen fest und mit ihnen der größte Teil des zur Gaserzeugung benötigten Steinkohleimports. Trinkwasser wurde Mangelware.

Kein DDR-Bezirk blieb von den Frostfolgen verschont:

- Ostberlin hatte schon vor dem 4. Februar, dem Beginn der Winterferien, 80 Schulen, die Universität, Hallenbäder, mehrere Gaststätten, nahezu alle Kinos und Theater geschlossen. S- und U-Bahn schränkten den Verkehr ein. Den 1,1 Millionen Einwohnern Ostberlins stehen täglich nur noch 1500 Tonnen Hausbrandkohle zur Verfügung.

- Leipzig verfügte die Schließung aller Schulen und der Universität. Die meisten Kinos und Theater stellten den Betrieb ein. Lichtspieltheater, die noch geöffnet haben, dienen als öffentliche Wärmehallen.

- Magdeburg ließ den Unterricht an

sämtlichen Schulen und den Lehrbetrieb an der Technischen Hochschule ausfallen.

- Dresden schloß die Technische Universität. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, alle Kühlschränke abzuschalten und in den Haushalten 60-Watt-Glühlampen durch 25-Watt -Birnen zu ersetzen.

- Halle schloß ebenfalls seine Universität und rationierte wie mehrere

andere sowjetzonale Städte das Trinkwasser.

- In den Bezirken Schwerin, Erfurt, Chemnitz und Cottbus wurden Gassperrstunden verhängt. In den Landgemeinden dürfen die Geschäfte nur noch stundenweise offengehalten werden.

- Alle DDR-Bezirke verboten die Schaufensterbeleuchtung und verfügten, die Straßenbeleuchtung zu drosseln, teilweise sogar abzuschalten. Die Betriebe wurden angewiesen, verstärkt zur Nachtarbeit überzugehen, um die Energieversorgung bei Tage zu entlasten.

Die Sparmaßnahmen kamen eben noch rechtzeitig. So gelang es beispielsweise, den von 60 auf 80 Prozent der Erzeugung gestiegenen privaten und kommunalen Gasverbrauch erheblich zu drosseln. Dennoch reichte das Energieangebot nicht mehr aus, um alle Verbraucher zu beliefern. Die am 16. Januar gebildete Kälte-Kommission der Regierung sah sich zu drastischen Eingriffen genötigt.

Schon am 17. Januar befahl der zum Kommissionsvorsteher ernannte stellvertretende Ministerpräsident Paul Scholz der Reichsbahn, den Zugverkehr einzuschränken. Allein im Direktionsbezirk Magdeburg wurde die tägliche Zugfrequenz um 75 Reisezüge gekürzt. Im Bezirk Erfurt wurden 15 Prozent der Personenzüge und zwölf Prozent der Güterzüge eingestellt.

Der Effekt war gering. Da die Reichsbahn gegenwärtig nicht einmal genügend Steinkohle für die verbliebenen Züge besitzt, müssen die Lokomotiven mit Braunkohlenbriketts geheizt werden, die - ebenfalls Mangelware - wiederum anderen Wirtschaftszweigen entzogen werden. Der Brikett-Betrieb ist zudem wesentlich aufwendiger als der mit Steinkohle: Um den Heizwert von einer Tonne Steinkohle zu erzielen, sind 1,3 Tonnen Briketts erforderlich. Und für eine Tonne Briketts werden drei Tonnen Rohbraunkohle benötigt.

In der dritten Januar-Woche erwies sich, daß die ohnehin vom Eis behinderten Braunkohlengruben den steigenden Anforderungen nicht mehr gewachsen waren. Am 23. Januar entschloß sich Kälte-Kommissar Scholz, den öffentlichen Notstand auszurufen: Der Ministerrat verordnete vielen Betrieben einen künstlichen Winterschlaf, um den »dringendsten Bedarf der

lebensnotwendigen Industrie- und Wirtschaftszweige und der Bevölkerung an Braunkohlenbriketts und Gas« zu sichern.

Betriebe oder Betriebsteile der Industriezweige Schwarzmetallurgie, Baustoffe, Bauwesen, Textilien, Glas und Keramik mußten schließen. Die freigewordenen Arbeitskräfte und Brennstoffe wurden dem Bergbau, der Energiewirtschaft, dem Transportwesen und der Lebensmittelindustrie zugeteilt. Gleichzeitig erließ Ostberlin Order, zur Einsparung von Energie alle Schulungskurse abzubrechen und Ferienheime zu schließen. Die Lehrer stillgelegter Schulen wurden vom Volksbildungsministerium angehalten, den Schülern die Wartezeit »mit Wintersportveranstaltungen oder keinen Fußwanderungen« zu verkürzen.

Das Gesundheitsministerium veröffentlichte einen Katalog guter Ratschläge gegen Erfrierungen und instruierte die Bevölkerung in Erster Hilfe für Frostopfer: »Ein bewußtlos in der Kälte Aufgefundener wird vorsichtig, im Hinblick auf eventuell steifgefrorene Glieder, in einen kühlen Raum transportiert und dort... mit Schnee abgerieben.«

Als bekömmlich erwies sich die über Mitteldeutschland hereingebrochene Eiszeit lediglich für die Parteipropaganda: Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen proklamierten den vaterländischen Krieg gegen Väterchen Frost. Frontberichterstatter referierten in spaltenlangen Reportagen über »Heldentaten Tausender Arbeiter, die mit von Frost geschwollenen und geplatzten Händen in den Braunkohlenwerken, Reichsbahnausbesserungswerken und Reparaturbetrieben arbeiten«.

Als Kontrapunkt zum eigenen Heldentum lieferten die DDR-Publizisten breit ausgeschmückte Schilderungen westdeutscher Frostbeulen: Bevorzugt wurden Meldungen über steigende Brennstoffpreise und katastrophenträchtige Schlagzeilen wie »Nürnberg friert«.

Über die tieferen Gründe der eigenen Misere allerdings schwiegen die offiziellen Propagandisten. Sie hätten sonst die konstitutionelle Schwäche der DDR -Wirtschaft bloßgelegt: Walter Ulbrichts volkseigene Ökonomie verfügt über keinerlei Reserven, um witterungsbedingte Rückschläge ausgleichen zu können.

Nahezu 70 Prozent der sowjetzonalen Energieproduktion in Form von Brennstoffen, Elektroenergie und Gas basieren auf der im frostanfälligen Tagebau gewonnenen heizwertschwachen Braunkohle. 20 Prozent entfallen auf zum größten Teil importierte Steinkohle und der Rest auf Heizöl und Treibstoffe.

Trotz des gesteigerten Rohbraunkohle-Abbaus (von 200,6 Millionen Tonnen 1955 auf 243,5 Millionen Tonnen 1962) und der beträchtlichen Erweiterung der Kraftwerksleistungen (von 28 695 Millionen Kilowattstunden 1955 auf 44 900 Millionen Kilowattstunden 1962) blieb das Energieangebot immer noch unzureichend.

Schon vor der Kälteperiode traten im 220-Volt-Netz der DDR, vor allem in den Morgen- und Abendstunden, Spannungsminderungen bis auf 150 Volt ein, die in Großstädten wie Ostberlin, Leipzig und Dresden die Fernsehgeräte verlöschen ließen und die Verwendung elektrisch betriebener Haushaltsgeräte nahezu unmöglich machten. Die Spitzenbelastung der letzten Wochen aber brachte die Energieversorgung an den Rand des Zusammenbruchs.

Nur die radikale Sparkur des Regierungskommissars Scholz konnte das völlige Einfrieren der Ulbricht-Republik verhindern. Der Wirtschaftsplan für 1963 war aber auch auf diese Weise nicht mehr aufzutauen: Der Produktionsausfall ist in Anbetracht der schon unter normalen Bedingungen angespannten Wirtschaftslage nicht wettzumachen. Der bislang in der Zonenwirtschaft angerichtete Schaden wird auf 500 Millionen Mark geschätzt.

Planabstriche erzwingt die Kälte nicht nur bei der industriellen, sondern - was schwerer wiegt - auch bei der landwirtschaftlichen Erzeugung. In unzähligen Dörfern hat der Frost die eingemieteten Kartoffel- und Rübenbestände ungenießbar gemacht.

Mehrere landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften melden hohe Viehverluste, weil die Ställe nicht ausreichend geheizt werden können. Außerdem muß mit einer erheblichen Verzögerung der Frühjahrsbestellung gerechnet werden.

Angesichts solcher Hiobsbotschaften aus Industrie und Landwirtschaft haben die Wirtschaftsfunktionäre der DDR die Hoffnung begraben, in diesem Jahr endlich aus der permanenten Versorgungskrise herauszukommen. Auch Tauwetter-Prognosen ihrer Staatsmeteorologen vermögen sie nun nicht mehr zu erheitern, denn selbst das Ende der Frostperiode wird vorerst keine fühlbare Entlastung bringen.

Der Ostberliner »Morgen« prophezeite: »Mit dem Nachlassen des Frostes zeichnen sich neue Schwierigkeiten ab. Erfahrungsgemäß werden die Tagebaue bei Tauwetter mit Schlamm und Matsch ebenso zu kämpfen haben wie mit dem Frost.«

* Bei Sprengungen in der Braunkohlengrube »Jugend«, die zum Kraftwerk Lübbenau (bei Cottbus) gehört.

(Ost-)Berliner Zeitung

»Wenn ihr mir helfen wollt, ihn aufs Kreuz zu legen, spart mit Strom, Gas und Kohle!«

Kälte-Kommissar Scholz

Vaterländischer Krieg ...

... gegen Väterchen Frost: DDR-Pioniere im Kälte-Einsatz*

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