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LEHRER / OPPOSITION Schlechte Noten

aus DER SPIEGEL 16/1968

Mit scharfer Bügelfalte und im sportlichen Sakko stellte sich Herbert Stubenrauch, 29, vor Unterrichtsbeginn am Portal der Frankfurter Ernst-Reuter-Schule auf. Den vorüberhastenden Schülern steckte er Handzettel zu, bedruckt mit einem selbstverfaßten Protest gegen den Vietnam-Krieg.

Als Stubenrauch tausend Exemplare verteilt hatte, folgte er dem Schülerstrom ins Innere des Gebäudes: Der Protestler ist Lehrer an dieser Schule, die 2600 Volks-, Mittel- und Oberschüler vereint und als fortschrittlichste Schule Hessens gilt.

In Bremen erteilte am ersten Osterferien-Tag -- Montag vorletzter Woche -- der Oberstudienrat Heinz die schlechte Noten. Die Schüler aber frohlockten: Die Zensuren galten Ides eigenen Kollegen.

»Wir hören mehr und mehr auf, zu selbständigem Denken zu erziehen« klagte ide, der am Bremer »Alten Gymnasium« Unterricht in Deutsch erteilt. »Unsere Schulen sind zu systemerhaltenden Lernfabriken degradiert.« Und: »Herrgott noch mal, jetzt wird es Zeit, daß sich die Lehrer, die links stehen, untereinander verständigen.«

Gemeinsam mit 28 anderen Bremer Pädagogen gründete Ide vorletzte Woche im Kapitelhaus der Bremer Domgemeinde eine »Aktionsgemeinschaft Demokratischer Lehrer« (ADL).

Und wie in der Hansestadt Bremen hat sich jüngst auch in Hessen die Lehrer-Linke organisiert: Handzettel-Verteiler Stubenrauch und 61 Kollegen gründeten bei Bier und Cola die erste Ortsgruppe eines »Sozialistischen Lehrerbundes« (SLB).

Hier SLB, dort ADL -- hier wie dort schließen sich die Gegner jenes Systems zusammen, das in ihren eigenen Schulen herrscht. Diese Lehrer fühlen sich -- so ein in Hessen verteiltes Flugblatt -- in die Rolle des »verbeamteten Hofhundes ... und Wächters über die Ausbildung systemgetreuer Kohorten« gedrängt.

In Hessen, wo die SPD ihre Linksaußen hat, sind auch die linken Lehrer schon am aktivsten. So zog eine halbe Hundertschaft mit Transparenten ("Schutz vor Schütz«, »Amis raus aus Vietnam") bei einer Demonstration des linksradikalen SDS mit.

Von Schülern und Studenten lernten die Lehrer ihre Texte: Ähnlich wie vorher aufsässige Schüler, verkündete nun auch der SLB-Sprecher Stubenrauch, sein Bund werde durch »gezielte Aktionen Mißstände offenbaren« und »an bestimmten Stellen hineinstechen in die Eiterbeulen des Erziehungssystems«.

Solche Beulen, die in Hessen erst noch gesucht und aufgestochen werden sollen, gibt es in Bremen schon -- jedenfalls nach Ansicht der Katheder-Revolutionäre. Es ist vor allem die »A«-Affäre, die hansestädtische Lehrer und Schüler beschäftigt.

Mitte vergangenen Monats hatten Jörg Streese, 21, und Michael Schultz, 18, Schüler des Wirtschaftsgymnasiums (WG), gemeinsam mit Christof Köhler, 17, die dritte Nummer der Schülerzeitung »A« herausgebracht, die sie vor Bremer Schulen verteilen ließen. Thema des Faltblatts: »Das faschistische Gesellschaftsbild des Bremer Polizeipräsidenten.«

Faschismus, so warf »A« dem adligen Präsidenten von Bock und Polach vor, habe er praktiziert, als er bei den Bremer Straßenbahnkrawallen »mittels Demagogie eine Pogromstimmung« hervorgerufen habe. Damals hatte Bock seinen Polizisten für den Umgang mit demonstrierenden Schülern empfohlen. »Draufhauen, draufhauen, nachsetzen.«

Zum Text stellten die Schülerredakteure »die lakedämonischen Botschafter« aus der Zeichenfeder des Engländers Aubrey Beardsley. Jugendstilist Beardsley (1872 bis 1898) hatte die drei bloßen Männer mit mächtigen Glied-Maßen bedacht. »A«-Erläuterung: »Demonstranten.«

Empfindliche Hanseaten reagierten darauf prüde: Sextaner-Eltern bezichtigten die »A«-Redakteure der Pornographie und erstatteten Anzeige. Besorgt um fremde Kinder, schloß sich der Asta-Vorsitzende der Ingenieur-Schule an. Die Bundeswehr weigerte sich, eine im selben Blatt erschienene Anzeige ("In jeder Einheit ... kann ein Mann beweisen, was in ihm steckt") zu bezahlen, und die Staatsanwaltschaft konfiszierte den Rest der Auflage. »A«, zunächst kostenlos verteilt, wird seitdem unter Bremer Schülern zu Schwarzmarktpreisen gehandelt -- zwei Mark das Stück,

»Falls Streese und Schultz nicht von der Anstalt verwiesen werden, heiße ich Meier oder Schmied«, verkündete -- laut Flugblatt des »Unabhängigen Schülerbundes« (USB) -- der Klassenlehrer von Schultz und Streese im Wirtschaftsgymnasium, Studienrat Friedhelm Schneider.

Schneider bleibt Schneider: WG-Direktor Stahl beurlaubte die beiden Aufsässigen zunächst für eine Woche, dann beschloß die Mehrheit des Lehrerkollegiums ihre fristlose Entlassung.

In der »Lila Eule« -- USB-Treffpunkt in Bremens Innenstadt -- riefen daraufhin die roten Schuljungen zum Streik auf. Mit Fahrradketten versperrten sie am letzten Schultag vor den Osterferien den Zugang zum Wirtschaftsgymnasium und zum (benachbarten) Alten Gymnasium: 300 Schüler blieben draußen vor der Tür.

Oberstudienrat Ide verhinderte schließlich eine weitere Eskalation, als er dem WG-Direktor Stahl empfahl: »Gehen wir doch in die Aula und diskutieren mit den jungen Leuten.«

In der Aula forderten die Schüler das WG-Kollegium auf, sich am ersten Schultag nach den Osterferien einer öffentlichen Aussprache zu stellen. Der Lehrkörper lehnte ab.

Schülerfreund Ide fand die Reaktion seiner Kollegen ("Autoritäre Fatzkes") »einfach zum Heulen«. Für ihn ist das Faltblatt mit der Beardsley-Zeichnung »das genaue Ergebnis einer autoritären Schule. Durch diese Schule sind die Schüler in ein inneres Spannungsverhältnis geraten«. Zudem sei »A«, »wenn man die Zeichnung im Kontext sieht, eine beachtliche redaktionelle Leistung«.

Ide, 57, will sich gemeinsam mit den Kollegen, die sich ebenfalls in der »Aktionsgemeinschaft« organisiert haben, auch bei künftigen Kontroversen auf die Seite der aufsässigen Schüler schlagen. Die meisten Mitglieder der »Aktionsgemeinschaft« sind etwa halb so alt wie er. Dazu Ide: »Mit meiner Generation ist es leider ziemlich hoffnungslos.«

In einem Programm haben Ide und Genossen ihre Zukunfts-Hoffnungen zusammengefaßt. Kernwünsche:

* grundlegende Änderung der hierarchischen Schulstruktur;

* Öffentlichkeit aller schulischen Entscheidungen;

* freie und unzensierte Schülerzeitungen;

* demokratische Kontrolle der Leistungseinschätzung;

* Anerkennung der Schülervertreter als Interessenvertreter;

* Beseitigung der veralteten Schulstrafordnung und obrigkeitsstaatlicher Praktiken;

* Revision der Bildungspläne und Schulbücher;

* Sexualaufklärung als Pflichtfach.

Auch der hessische Sozialistische Lehrerbund hat, obschon kaum gegründet, schon ein Programm. Besser noch als die Bremer »Aktionsgemeinschaft« paßten sich die »Bund«-Genossen dem Sprachgebrauch der linken Schüler und Studenten an. Textprobe: »Die Vermittlung einer kritischen Bildung, die zur Veränderung des bestehenden Systems und zur Herrschaft der Produzierenden über ihre Produkte beiträgt, ist Aufgabe eines jeden Erziehers.«

Notfalls durch Unterrichtsstreiks wollen die Protest-Pädagogen unter anderem die strikte Trennung von Kirche und Schule, die Herabsetzung der Klassenfrequenz auf 25 Schüler (zur Zeit in Hessen: 31 Schüler) und die Mitbestimmung der Schüler und Lehrer bei der Wahl der Rektoren und der Schulräte sichern.

Vorerst freilich sind die organisierten Aufsässigen ihren Kollegen kaum aufgefallen. In Frankfurt erwartet Volksschullehrer Erich Kuhaupt, 29, »Reaktionen erst dann, wenn wir mit gezielten Aktionen die Leute aufschrecken«. Dazu sollen unter Umständen auch Go-ins in Lehrerzimmer gehören.

Und in Bremen befürchtet Wortführer Ide den Widerstand der Kollegen: Er ist sicher, »daß man in uns natürlich die berüchtigte kleine radikale Minderheit sehen wird«.

Bremens Bildungssenator Moritz Thape (SPD) sieht es so: »Wenn die sich als Revolutionäre mit Pensionsberechtigung aufspielen, dann finde ich das etwas lächerlich.«

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