STRAFVOLLZUG Schlimmster Teil
Am 6. Juni 1791 brachten die Richter des Kammergerichts Berlin »die Geschichte sehr vieler Verbrecher« zu Papier. In einem Schreiben an den Großkanzler der Preußischen Staatsregierung schilderten sie, wie ein »Inquisit nach ausgestandener Strafe mit zerfleischtem Rücken, arm und abgerissen aus dem Zuchthaus entlassen wurde«.
»Von der Obrigkeit«, schilderten Juristen den Fall, »erhielt er ... keine Unterstützung, keine Anweisung für die Zukunft.« Resultat: »Er brach ein, stahl und ward methodisch von neuem ein Dieb.«
Zwar sind zerfleischte Rücken in bundesdeutschen Haftanstalten nicht mehr zu finden. Doch knapp zwei Jahrhunderte nach der preußischen Fallstudie zeigt das System der Wiedereingliederung Straffälliger noch Symptome von Anno dazumal: In den Kittchen der Republik sind keine Zimmer frei, denn die Rückfallquote von Strafgefangenen liegt bei 80 Prozent.
Warum das so ist, belegt eine Studie des Frankfurter Strafvollzugswissenschaftlers Bernd Maelicke. In einer Untersuchung über »Entlassung und Resozialisierung« weist er nach, daß Rückfälle allein schon aus wirtschaftlichen Gründen geradezu programmiert sind. Denn »die Schuldenberge«, formuliert etwa Häftling Hans Josef Elz aus der hessischen Justizvollzugsanstalt in Kassel-Wehlheiden die nun auch wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, »zerdrücken uns und geben uns dadurch keine Chance, in der Gesellschaft wieder richtig Fuß zu fassen«.
Daß die wirtschaftliche Misere von Strafgefangenen der »Kern der Rückfälligkeit« sei, ist Kriminologen seit langem geläufig. Daß Haft-Entlassene jedoch oft mit immensen Schulden in die Freiheit starten, belegt jetzt Maelickes Untersuchung: 143 von dem Wissenschaftler befragte Insassen der Justizvollzugsanstalt Freiburg standen mit Summen bis zu zwei Millionen Mark in der Kreide. Bei einem Entlassungsgeld von rund 300 Mark brachten es die Häftlinge auf einen Schuldenschnitt von fast 50 000 Mark.
Die auf 213 Seiten niedergeschriebenen Ergebnisse der Freiburger Gefangenenbefragung* erhellen -- trotz mancher Verbesserungen bei der Resozialisierung -- einen entscheidenden Mangel: »Mit der Entlassung«, urteilt Maelicke, »beginnt vielfach der schlimmste Teil der Strafe.«
Gläubiger, deren Forderungen während der Haftzeit nicht erfüllt worden sind, lassen oft schon den ersten in Freiheit verdienten Lohn pfänden. Und das führt zuweilen dazu, daß der Arbeitsplatz gleich wieder verlorengeht.
Die hohe Verschuldung hat vor allem zwei Ursachen:
* Mit der Verurteilung entstehen zugleich oder in der Folge Kosten für Gericht, Rechtsanwalt, Schadenswiedergutmachung, Unterhalt und Scheidung.
* Diese Summen können in der Praxis während der Haftzeit nie getilgt werden, weil die Verurteilten kein reguläres Einkommen haben. Denn bis zur Strafvollzugsreform verdienten bundesdeutsche Häftlinge kaum mehr als vier Mark täglich, seit dem 1. Januar vergangenen Jahres erhalten sie fünf Prozent vom Lohn ihrer Kollegen in Freiheit: maximal zehn Mark pro Tag. Daß die rückfallträchtige Verschuldung verringert werden könnte, steht für Kriminologen außer Frage: Im Ausland ist die wirtschaftliche Wieder-
* Bernd Maelicke: Entlassung und Resozialisierung, C. F. Müller Verlag, Heidelberg: 68 Mark.
eingliederung von Strafgefangenen längst gelungen.
Häftlinge in Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei, Spanien, Finnland und Schweden erhalten beispielsweise für gleiche Arbeit den gleichen Lohn wie ihre Kollegen in Freiheit. In der schwedischen Vollzugsanstalt Tillberga etwa kassierten Arbeiter 1972 netto rund 1300 Kronen (knapp 800 Mark) monatlich -- ebensoviel wie ein Industriearbeiter nach Hause brachte.
In der Bundesrepublik hingegen müssen die Schuldner nicht nur auf angemessene Bezahlung während der Haft, sondern meist auch auf staatliche Hilfestellung nach der Entlassung verzichten. Lediglich Fürsorgevereine und Stiftungen, etwa in Hamburg, Hannover und Stuttgart, unterstützen entlassene Strafgefangene bei der Regulierung ihrer Schulden.
Einen ersten Anlauf, den gewichtigen Rückfallfaktor zu bekämpfen, unternimmt nun Berlins Justizsenator Jürgen Baumann, FDP. Mit Spenden, Geldern der Deutschen Klassenlotterie und zinsgünstigen Darlehen der West-Berliner Sparkasse will der Rechtspolitiker Strafgefangene jetzt beim Abstottern ihrer Schulden unterstützen.
Baumanns Modell bringt womöglich neben Sozialem auch volkswirtschaftlichen Gewinn: Verhinderte Wiederholungstaten verursachen keine finanziellen Schäden, die Kosten für den Gefängnisplatz des Rückfalltäters (18 000 Mark pro Jahr) werden eingespart. Freut sich Baumann: »Da machen wir sogar noch ein gutes Geschäft.«