NAHER OSTEN Schmutziges Rinnsal
»Wenn wir nicht bald Wasser bekommen«, klagt Abu Raschid, »müssen wir sterben.« Wo sich einst die Wassermassen des Euphrat wälzten, tröpfelt nur noch ein schmutzig-gelbes Rinnsal. Auf ausgetrocknetem Flußboden spielen Kinder Fußball.
Die Hälfte der früher 900 Einwohner hat das Dorf al-Ramla schon verlassen. Das Wasser reicht nicht mehr, die Felder zu bewässern und das Vieh zu tränken. »Im Oktober werden wir nicht mehr säen können«, glaubt ein Ingenieur.
Was für den Irak eine Katastrophe ist, bringt den benachbarten Syrern Segen. Der Euphrat-Damm bei Tabka ermöglicht ihnen, 640 000 Hektar Wüstenboden urbar zu machen, den Irakern gräbt er buchstäblich das Wasser ab: Statt bisher 29 Millionen Kubikmeter jährlich fließen jetzt nur noch 5 Millionen Kubikmeter in ihr Land. Saddam Hussein, der starke Mann in Iraks regierender Baath-Partei. schimpft auf die in Damaskus herrschenden Baath-Brüder: »Immer wollen sie uns schwächen.« Syrien sperrte für irakische Flugzeuge den Luftraum. und beide Länder sollen sogar Truppen an die Grenzen verlegt haben.
Der Streit um das lebenswichtige Wasser des 2700 Kilometer langen Euphrat hatte 1962 begonnen. Damals beschlossen das Quell-Land Türkei und das Durchflußland Syrien den Bau von Staudämmen. Der Irak, in dem der Fluß schließlich, mit dem Tigris vereinigt, in den Persischen Golf mündet. fürchtete um seinen Wasseranteil.
Jahrelange Verhandlungen über die Verteilung des Wassers führten erst 1973 zu einem Ergebnis, das freilich auf dem Papier blieb. Die Türkei sollte pro Jahr 6 Millionen Kubikmeter, Syrien 2,5 Millionen Kubikmeter und der Irak den Rest von über 10 Millionen Kubikmetern erhalten.
Denn der mit sowjetischer Hilfe entstandene »Damm der Freundschaft« bei Tabka, der in diesem Jahr endgültig fertig wird, staut gewaltige Mengen in Syrien. Seit dem vorigen Jahr produzieren die ersten drei 100-Megawatt-Turbogeneratoren Strom. Wenn die restlichen fünf Aggregate arbeiten, wird das Damm-Kraftwerk jährlich zwei Milliarden Kilowatt abgeben, mehr als das Vierfache der gegenwärtig in ganz Syrien erzeugten Elektroenergie.
Auf dem durch den Staudamm bewässerten Gebiet von 640 000 Hektar wollen die Syrer 500 000 Bauern ansiedeln. Im Musterdorf El-Andalus -- genannt nach dem spanischen Andalusien, das einmal eine Provinz des islamischen Großreichs war -- lebten im letzten Jahr freilich noch keine Neusiedler, sondern Arbeiter. die an dem Bewässerungssystem bauen. Kanäle von insgesamt 1550 Kilometern Länge sind geplant und zum großen Teil schon angelegt. Auf der Farm Nadsch, etwa 20 Kilometer vom Damm entfernt, wurden mit Zuckerrüben und Tabak Rekordergebnisse erzielt.
Die Syrer arbeiteten mit den rund 900 sowjetischen Helfern am Staudamm gut zusammen. Inzwischen freilich bereitet das Prestige-Projekt den Russen Kopfschmerzen. Denn Syrer und Iraker sind Moskaus beste Freunde in der arabischen Welt. Die neuerdings verfeindeten Nachbarn wurden beide fast völlig mit sowjetischen Waffen ausgerüstet. Politiker beider Länder beschwerten sich in Moskau und drangen auf Parteinahme für ihre Seite.
Nachdem aber schon Vermittlungsversuche der Arabischen Liga, Ägyptens und des saudiarabischen Ölministers Jamani gescheitert sind, drohte Sowjet-Partner Irak, das sowjetisch-syrische Jahrhundertbauwerk, den Euphrat-Damm, zu bombardieren.