SPD Schnabel gewetzt
Partei-Patriarch Herbert Wehner griff zum Telephon und wählte die deutsche Hauptstadt an. Es galt, die Rebellion im Keime zu ersticken.
Zum erstenmal hatten Genossen gewagt, offen den Kurs zu verketzern, auf den der Stellvertreter in der Bonner SPD-Baracke das Parteivolk eingeschworen hat.
In Berlin hob SPD-Landeschef Kurt Mattick den Hörer ab. Bereitwillig gab er den Rädelsführer des Aufstands wider die weiche Welle preis: Harry Ristock, 37, im linken Parteiflügel beheimateter Bezirksstadtrat und Lokal -Kontrahent des rechts orientierten Mattick.
Alt-»Falke« Ristock hatte den Schnabel an der Wahlkampfpolitik des Bonner SPD-Vorstands gewetzt und zusammen mit einigen Getreuen kritische »Thesen zum Wahlausgang 1965« entworfen (siehe Seite 50). Die Frondeure gifteten gegen den Rechtsruck ("kriechend und vor jedem Gespenst der bürgerlichen Ideologie katzbuckelnd") und die alternativ- und profillose Wahlkampfaussage« ihrer Partei.
In dem Rundschreiben postulierten die Linksabweichler außerdem:
- Ein Teil der »natürlichen Partner«
sei düpiert worden. So habe man das Verhältnis zu den Gewerkschaften in den lebenswichtigen Fragen der Nation (Wirtschaftspolitik, Notstandsgesetzgebung, atomare Mitbeteiligung) auf das stärkste strapaziert«;
- weder jene Vertreter der protestantischen Kirche, »die in vielen Fragen ehrliche Partner der deutschen Sozialdemokratie sind«, noch der »kleine, aber sehr lebendige progressive linke Flügel der katholischen Kirche« seien mobilisiert worden;
- die »studierende Jugend« werde »von einem Teil des Apparats als ein Störungsfaktor, als radikalistisch ... angesehen und entsprechend behandelt. Man wünscht sich den widerspruchslosen Kretin«.
Ausgenommen von der Exekution wurde lediglich Willy Brandt, der »als einziger im Spitzenteam der heutigen Partei den Mut hatte, neue alternierende Wege zu gehen«. Das Ristock -Peloton ermunterte den Parteichef: Es sei an der Zeit, daß er »nunmehr unbelastet von der schweren Bürde des Kanzlerkandidaten« die »Zügel fest in die Hand nimmt und wirklich Parteivorsitzender wird, eine Lösung, bei der die Stellvertreter eben nur wirklich Stellvertreter sein sollen«.
Für die im Parteivorstand überrepräsentierten »Genossen aus dem Südwestraum« aber, wie etwa SPD-Vize Fritz Erler (aus Pforzheim) und SPD-Professor Carlo Schmid (aus Mannheim), empfahlen die Thesen-Verkünder: Sie »sollten in ihre 'Heimat' zurückgesandt werden, um hier erst einmal eine Bewährungsprobe abzulegen«.
Die gebeutelten Genossen reagierten zunächst fernmündlich und fragten an, wer denn wohl diesen dicken Hund in Berlin losgelassen habe. Dann holte Mattick zum Gegenschlag aus.
In einer Sitzung des SPD-Landesvorstandes wurde Ristocks despektierliche Wahlanalyse von barackentreuen Berlinern als parteischädigend gebrandmarkt.
Zwar verteidigte die liberale Mittelfraktion in der Berliner SPD (repräsentiert von Brandt-Stellvertreter Heinrich Albertz und Passierschein-Verhandler Horst Korber) Ristocks Argumente: Darüber ließe sich diskutieren. Gleichzeitig aber zürnte die Mitte der Linken: Ihre unfeine und frühzeitige Attacke habe den Bonner Parteiregenten Gelegenheit verschafft, fortan jeden nüchternen Angriff auf ihre Politik in die Ristock-Ecke zu verweisen.
Aus welchen Kreszenzen die Baracke das Gegengift braut, lassen Bemerkungen aus dem Mattick-Kreis vermuten: Außenseiter der Partei hätten sich mißbrauchen lassen, denn die Thesen seien den Argumenten der Kommunisten verblüffend ähnlich.
Vergangenen Mittwoch präzisierte die SPD-Zeitung »Telegraf": »Es wird vermutet, daß an der Abfassung des Pamphlets, das am Montag vom SPD-Landesvorstand scharf verurteilt worden war, auch Personen mitgewirkt haben, die nicht der SPD angehören: diese Vermutungen stützen sich darauf, daß bereits Ende September im 'Spandauer Volksblatt' ein Artikel erschienen ist, der von einem Nichtsozialdemokraten stammt und die Thesen der Gruppe um Ristock teilweise vorwegnimmt.«
Das Blatt zielte auf den ehemaligen Vopo-Offizier Walter Barthel, der 1958 aus der Zone floh, sich als freier Mitarbeiter für das linksunabhängige »Spandauer Volksblatt« betätigt und jetzt als Inspirator für Rebell Ristock herhalten soll.
Der Scheiterhaufen für die Gegen -Reformatoren ist schon geschichtet. Der konservative »Tagesspiegel« berichtete von Überlegungen »in Kreisen des Berliner SPD-Vorstandes«, ob Ristock für die Partei noch tragbar sei.
Simplicissimus
»Ich bin schuld? Der!!'« Ich? Der!!« »"Ich? Der!!
Berliner SPD-Rebell Ristock
»Kriechend vor jedem Gespenst«