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GUTACHTER Schnaps serviert

aus DER SPIEGEL 16/1965

Noch ist die nach dem Fall Weigand entbrannte Debatte um Nützlichkeit oder Fragwürdigkeit psychiatrischer Gutachten nicht beendet, da sieht sich der Münsteraner Weigand-Psychiater Dr. Alfred Anton (SPIEGEL 47/1964) schon neuen Vorwürfen ausgesetzt.

Landesmedizinalrat Anton, der seinerzeit ein umstrittenes Schnellgutachten über den »Sozialanwalt« Weigand angefertigt hatte, soll bei psychiatrischen Versuchen während seiner Tätigkeit in Ost-Berlin unzulässige Methoden angewandt haben.

Der Arzt - bis zu seiner Flucht im Jahr 1959 Dozent an der Ost-Berliner Humboldt-Universität - war in den fünfziger Jahren wiederholt von DDR -Gerichten als psychiatrischer Gutachter für Untersuchungs-Häftlinge bestellt worden, die unter Alkoholeinwirkung Straftaten begangen hatten. Anton nahm seine Untersuchungen in der Ost -Berliner Charité vor.

Während es sonst Aufgabe der Gerichts-Psychiater ist, den Grad der Zurechnungsfähigkeit der Delinquenten zu ermitteln, sah der Seelendoktor Anton - wie er heute sagt - das Ziel seiner Bemühungen darin, »die Strafbarkeit der Täter zu ermitteln«. Zu diesem Zweck setzte er die ihm anvertrauten Häftlinge unter Alkohol.

Methode und Ergebnis von 38 derartigen Untersuchungen beschrieb der Landesmedizinalrat in seinem Buch »Die klinische und forensisch-psychiatrische Beurteilung pathologischer Rauschzustände«, das 1958 im volkseigenen Carl-Marhold-Verlag, Halle (Saale), erschien.

Untersuchungs-Objekte waren zum Beispiel Häftlinge, die einer im Rausch begangenen »Provokation« beschuldigt wurden oder nach einigen Schnäpsen Mut zum Widerstand gegen die DDR -Staatsgewalt gefaßt haben sollen. Sie wurden von Dr. Anton auf ihre »Alkoholtoleranz« selbst dann untersucht, »wenn nach Aktenlage nur ein leichter Rausch angenommen werden« konnte.

Anton ließ die Delinquenten »in einem ruhigen, nett eingerichteten Untersuchungszimmer in der Klinik in Abwesenheit der Bewachungsmannschaften« Schnaps trinken. Zu Beginn der Prozedur erklärte der Wissenschaftler jedem Beschuldigten, es solle lediglich festgestellt werden, »ob er den Alkohol genauso rasch verbrenne wie andere Menschen«. Damit seien die Untersuchten, so Anton heute, selbstverständlich einverstanden gewesen.

Die Begründung aber war, wie der Psychiater in seinem Buch bekennt, nur ein Vorwand. Anton: »Damit sollte vermieden werden, daß der Häftling auf den Gedanken kommt, daß er in seinem Verhalten beobachtet wird.«

Um derartige Gedanken vollends auszuschließen, führte Anton mit seinen Patienten bei zunehmender Trunkenheit »eine ablenkende Unterhaltung«, wechselte »unauffällig das Gesprächsthema« und prüfte »unauffällig« ihre Reaktionen, »um bei dem zu Untersuchenden nicht das Gefühl zu erwecken, daß er 'getestet' werden sollte«.

Während die Versuchstrinker ahnungslos ihren Alkohol verbrannten, stellte der Mediziner dann weniger die Psychiatrie denn die Justiz interessierende Fragen. Anton: »Je stärker nun die Alkoholeuphorie wurde, um so mehr gingen wir dazu über, die Tatsituation durchzusprechen und dem Angeklagten auch Widersprüche seiner Tatdarstellung mit den Zeugenaussagen vorzuhalten.« Und: »Auf der Höhe der Alkoholwirkung wurden in Hinsicht auf die Tatverübung bewußt provozierende Fragen gestellt.« Die Ergebnisse seiner Tests gab Anton an die Gerichte weiter.

Auch heute noch hält der Psychiater die Methode, Rauschtäter unter Vorspiegelung eines nicht beabsichtigten Zwecks zu berauschen, für einwandfrei. Juristen sehen darin allerdings wenn nicht eine Straftat, so zumindest die Verletzung einschlägigen Strafprozeßrechts. Der angesehene Strafrechtler Dr. Heinrich Ackermann: »Eine glatte Verletzung des Paragraphen 136a der Strafprozeßordnung«, nach dem kein Beschuldigter »durch Verabreichung von Mitteln« oder »Täuschung« in der »Freiheit seiner Willensentschließung und der Willensbetätigung« beeinträchtigt werden darf.

Der Berliner Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen bestätigt zudem, daß nicht einmal im DDR-Prozeßrecht eine Vorschrift existiert, die Antons Untersuchungsmethode deckt.

Der Landesmedizinalrat hingegen: »Die Alkoholproben sind völlig korrekt.«

Psychiater Anton

Häftlinge berauscht

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