NORWEGEN / OSTGRENZEN Schnaps von elf bis elf
Die Wache im nordnorwegischen Grenzort Kirkenes zog den Schlagbaum hoch. Durch den Eisernen Vorhang Sowjetrußlands nahten schwankende Gestalten und taumelten auf norwegischen Boden.
Alle waren Norske, alle waren betrunken, und alle kamen vom selben Ort
- aus der Bar von Boris Gleb.
Das Russendorf Boris Gleb ist ein Rummelplatz für Skandinavier, seit die Sowjet-Union am 27. Juni dieses Jahres am Eismeer einen kleinen Grenzverkehr eröffnet hat. Denn dort gibt es billig und unbegrenzt, was der Norweger oder Schwede nur teuer und - mangels Kneipen - begrenzt hat: Schnaps.
Ohne Visum, aber nur mit Devisen, darf jeder Skandinavier nach Boris Gleb. Er muß sechs norwegische Kronen (3,50 Mark) Eintritt in die Sowjet-Union zahlen und seinen Paß hinterlegen. Dafür aber gibt es täglich von elf bis elf in der abseits vom Dorf gelegenen, wohlsortierten Boris-Bar harte Getränke gegen harte Devisen. Ein Intourist-Funktionär steht hinter der Theke - zu der Russen keinen Zutritt haben.
Eine große Flasche Wodka ist mit 12,50 Mark halb so teuer wie in Norwegen, ebenso Wein und Kognak. Das zog. Schon am ersten Tag mußten die Sowjets nach wenigen Stunden die Grenze schließen - denn die Bar von Boris Gleb war leergetrunken. Vor allem Jugendliche packten Wodka in den Tank. Denn in Boris Gleb gibt es Alkohol schon für Sechzehnjährige, in Norwegen erst ab 21. Für 24 Mark können Wankel-Brüder in der Intourist-Herberge von Boris Gleb ausnüchtern.
Was die Welt und das Außenministerium in Oslo zunächst als erstaunliche Grenz-Liberalisierung der Sowjets freudig begrüßt hatten, erwies sich bald als einseitiger Coup des Kreml:
- Kein Russe darf nach Norwegen; - kein Norweger kommt mit den 200
russischen Einwohnern von Boris Gleb in Kontakt, die Genossen leben amtlich isoliert;
- die Norweger vertrinken täglich
mindestens 5600 Mark in Boris Gleb. Die Behörden von Kirkenes müssen 560 000 Mark jährlich zusätzlich für Zoll- und Paßbeamte aufwenden. Bevor sich das Spundloch im Eisernen Vorhang öffnete, stellte Kirkenes 100 Pässe pro Jahr aus, jetzt sind es über 1000 im Monat. Und das Gefängnis der Kleinstadt (4000 Einwohner) ist allnächtlich mit Zechern zum Brechen voll.
Norwegens Militärs aber haben Anlaß zu noch ernsteren Sorgen. Sie sind überzeugt, daß die Sowjets von den Trinkern nicht nur Devisen wollen.
Denn in Nordnorwegen liegen wichtige Nato-Stützpunkte; voran die Luftbasis Bodö, auf der im Mai 1960 U-2-Pilot Powers nach seinem Spionageflug über der Sowjet-Union gelandet wäre - hätten ihn die Russen nicht abgeschossen.
Schließen können die Norweger aber die Wodka-Straße nach Boris Gleb nicht. Denn das norwegisch - sowjetische Grenzabkommen aus dem Jahre 1949 bestimmt, daß Wünsche eines Vertragspartners nur alle fünf Jahre behandelt werden können. Nächster Termin: 1969.
Sowjet-Bar Boris Gleb
Spundloch im Eisernen Vorhang