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PREISBINDUNG Schnapsidee

aus DER SPIEGEL 9/1963

Von ihren Schnapsfabrikanten erhofft sich Westdeutschlands Markenartikelbranche Aufschluß darüber, wie dem drohenden Verfall der Preisbindung Einhalt geboten werden kann. Gerichtsurteile zu Lasten der Hersteller von Markenspirituosen haben in den letzten Wochen das System der vorgeschriebenen Festpreise schwer angeschlagen.

Seit Dezember vergangenen Jahres pflegt beispielsweise das Landgericht Wiesbaden, das sich bis dahin stets auf die Seite der Markenproduzenten gestellt hatte, alle Anträge auf Erlaß Einstweiliger Verfügungen gegen preisbrechende Händler abzuweisen. Ursache des Meinungsumschwungs ist ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 2. August 1962, in dem eine vom Landgericht Wiesbaden ausgesprochene Einstweilige Verfügung der Firmen Doornkaat AG und Weinbrennerei Scharlachberg aufgehoben wurde.

Obwohl der Kartellsenat des Oberlandesgerichts in letzter Instanz lediglich darüber zu urteilen hatte, ob gegen schriftliche Preis-Vereinbarungen verstoßen worden war, nutzte er die Gelegenheit zu einem rechtspolitischen Exkurs:

Wird in einem Streit um die Lückenlosigkeit einer Preisbindung »durch Fachzeitschriften, in den Wirtschaftsteilen bedeutender Zeitungen, durch Auskünfte von Industrie- und Handelskammern, von Fachverbänden oder in anderer Weise nachgewiesen, daß begründeter Anhalt für die Annahme vorliegt, daß in einer Branche ein nicht unerheblicher Grauer Markt vorhanden ist ... dann kann sich der Preisbinder den ihm obliegenden Beweis für die praktische Lückenlosigkeit seines Preisbindungssystems nicht mehr durch den Nachweis der theoretischen Lückenlosigkeit ersparen. Ihm obliegt dann der volle Beweis für die praktische Lückenlosigkeit.«

Zu deutsch: Ein Hersteller, der feste Endverkaufspreise für seine Ware vorschreibt und gegen einen Preisbrecher mit einer Einstweiligen Verfügung vorgehen will, muß dem Gericht in solchem Fall exakt nachweisen, daß alle anderen Endverkäufer seines Produkts die Preisbindung einhalten.

Da dieser Nachweis bei der großen Zahl von Einzelhändlern praktisch nicht zu führen ist, versetzte der Spruch des Kartellsenats die gesamte Markenartikelindustrie in Aufregung, das Berliner Bundeskartellamt hingegen in freudige Erwartung:

Das Amt des eingeschworenen Marktwirtschaftlers Dr. Eberhard Günther darf erstmals auf einen Zusammenbruch des Preisbindungs-Systems hoffen, das es in seiner fünfjährigen Tätigkeit ebenso sendungsbewußt wie erfolglos bekämpft hat.

Das Bundeskartellamt, zu dessen Aufgaben die Eindämmung der Preisbindung gehören sollte, war schon deshalb zur Erfolglosigkeit verdammt, weil die Gerichte den Preisbindern Hilfestellung leisteten. Sie riefen Ausbrecher mit Einstweiligen Verfügungen bereitwillig zur Ordnung.

Die Richter stützten sich dabei auf die Rechtsprechung des ehemaligen Reichsgerichts. Deutschlands höchste Richter hatten die Unterbietung vorgeschriebener Marktpreise stets als unlauteren Wettbewerb geahndet, wenn sich nachweislich alle Abnehmer zur Einhaltung der Festpreise verpflichtet hatten - und die Lieferanten - glaubhaft machten, daß jeder Unterbieter sofort an die Kandare genommen wurde.

Zwar war damit keineswegs erwiesen, daß die Nähte des Preiskorsetts an allen Stellen schlossen. Die »theoretische Lückenlosigkeit« aber hatte das Reichsgericht zum Anlaß genommen, die »praktische Lückenlosigkeit zu vermuten«.

Auch das Landgericht Wiesbaden verfuhr bis Mitte Dezember vergangenen Jahres nach dieser Rezeptur. Dorthin dirigierte die bundesdeutsche Spirituosenbranche das Gros ihrer zahlreichen Verfügungsanträge.

Die mittlerweile routinierte Kammer für Handelssachen bewältigte allein 1960 insgesamt 1200 Verfahren. Seither ist der jährliche Urteilsumsatz noch beachtlich gestiegen. Dennoch verschlossen sich die Richter hartnäckig der Erkenntnis, daß bei einem solchen Ausmaß der Preisverstöße die theoretische

mit der praktischen Lückenlosigkeit unmöglich noch übereinstimmen könne.

Erst der zuständigen Berufungsinstanz, dem Oberlandesgericht Frankfurt, kamen Zweifel am geübten Brauchtum. Am 30. Juli 1962 fragte der Kartellsenat des Gerichts bei Eberhard Günthers Berliner Kartellbehörde an, »ob nach den dortigen ... Ermittlungen ein Anhalt dafür besteht, daß diese Preisbindungen seit längerer Zeit ... in beträchtlichem Umfang nicht mehr beachtet werden«.

Freudig benutzte das Bundeskartellamt die schon nicht mehr erwartete Gelegenheit, seine generellen Bedenken gegen die Preisbindung gutachtlich darzutun. Am 12. September meldeten die Berliner nach Frankfurt, sie hätten schon im Frühjahr 1961 gegen 21 renommierte Marken-Destillateure Verfahren eingeleitet: Ein »umfangreicher Grauer Markt« lasse auf überhöhte Verbraucherpreise schließen und schädige überdies die vertragstreuen Abnehmer in ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

Die Existenz des Grauen Marktes, so erläuterte das Amt, sei auch dadurch belegt, »daß fast jeder wirtschaftlich vernünftig denkende und handelnde Verbraucher, der nicht nur gelegentlich einmal eine Flasche Spirituosen kauft, eine oder mehrere Einkaufsquellen kennt, bei denen er preisgebundene Markenspirituosen zu erheblich niedrigeren als den gebundenen Preisen bezieht«.

Die Wettbewerbshüter verbanden ihren aus der Anschauung gewonnenen Erfahrungsbericht mit der Klage, jene Gerichte, die den Preisbindern anstandslos Einstweilige Verfügungen gegen ungetreue Händler ausstellten, fielen dem Kartellamt ständig in den Rücken. Wenn jene den Lieferanten immer wieder die Lückenlosigkeit ihres Zwangssystems bescheinigten, müsse das Amt - was so gut wie unmöglich sei - die Existenz jeder einzelnen Grauware nachweisen.

Als das Sprit-Epos in Frankfurt ankam, saß der Kartellsenat als Berufungsinstanz gerade über zwei Einstweiligen Verfügungen, die Doornkaat und Scharlachberg beim Landgericht Wiesbaden gegen einen Bochumer Großhändler erwirkt hatten. Sogleich nahmen die Oberlandesrichter Passagen des Günther -Gutachtens in ihre Urteilsbegründung auf.

Eberhard Günther kann mit seinem Einbruch in die herkömmliche Rechtsprechung zufrieden sein. Wenn nämlich die Frankfurter Thesen auf die Gerichte der anderen Bundesländer übergreifen, braucht er sich nicht länger um den beschwerlichen Nachweis von Preisbrüchen zu bemühen. Vielmehr müssen die Preisbinder ihrerseits die praktische Lückenlosigkeit ihres Preissystems nachweisen.

Das für ein bundesweites und generelles Verbot der Preisbindung notwendige Material, so hofft die Behörde, werden künftig Westdeutschlands Richter in Form von Beschlüssen liefern, mit denen sie Verfügungsanträge der Markenfirmen zurückweisen. Sollten die Hersteller-Firmen aber den Klageweg meiden und zu disziplinarischen Liefersperren übergehen, werden sie nach Günthers Ansicht viele Abnehmer an Konkurrenten ohne Preisbindungssystem verlieren.

Diese Aussicht trieb die Markenfirmen zu juristischen Gegenaktionen. In einer Verfassungsbeschwerde monierten Doornkaat und Scharlachberg, das Frankfurter Oberlandesgericht habe gegen Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes verstoßen ("Anspruch auf rechtliches Gehör"), weil ihnen die Stellungnahme des Kartellamts erst aus der Begründung des Urteils bekanntgeworden sei.

Um das Unheil aufzuhalten, verlangten sie beim Verfassungsgericht in Karlsruhe überdies in einem Antrag auf Einstweilige Anordnung, den Frankfurter Urteilsspruch bis zur endgültigen Karlsruher Entscheidung auszusetzen. Da eine solche Anordnung nur ergehen kann, wenn das Gemeinwohl gefährdet erscheint, kamen Doornkaat und Scharlachberg auf eine Schnapsidee: Die Gesetzesväter hätten, so meinten sie den Begriff »Gemeinwohl« nicht ausreichend definiert; er könne sich deshalb in diesem Falle auch auf die Schnapsbrenner beziehen. Und dieses Wohl sei in der Tat gefährdet:

»Es ist ... noch gar nicht abzusehen, welcher weitere Schaden dadurch entsteht, daß möglicherweise das Urteil des Oberlandesgerichts in Frankfurt/ Main in der Fach- und in der interessierten Tagespresse zum Abdruck gelangt.« Die Folgen bedürften keiner »Ausmalung«.

Kartellamts-Chef Günther

Es wächst der Graue Markt

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