»Schnell den Arm in Gips«
Als Mario Schult, 21, die Gewichtheberhalle von Seoul betrat, hatte er eine Medaille schon vor Augen. In wenigen Stunden, so hatte es sich der stämmige Schnauzbart ausgerechnet, würde er bei den Olympischen Spielen in Südkorea wenigstens Silber im Mittelschwergewicht gewonnen haben.
Der Modellathlet aus Stralsund hatte in den vergangenen sechs Monaten seine Leistung im Zweikampf um 42,5 Kilogramm gesteigert. Zudem waren die starken bulgarischen Gewichtheber geschlossen abgereist, nachdem zwei von ihnen des Dopings überführt worden waren. Schult wähnte sich kurz vor dem Gipfelpunkt seiner Karriere.
Da erschien wenige Minuten vor Wettkampfbeginn aufgeregt DDR-Verbandstrainer Werner Baumeister im Aufwärmraum hinter der Bühne. Schult, der zur Vorbereitung gerade noch zentnerschwere Hanteln hochgehievt hatte, wurde mit hektischen Gebärden aus der Trainingshalle und in einen bereitstehenden Wagen gedrängt. Mit hohem Tempo raste das Auto ins Olympische Dorf, stoppte vor dem Hochhaus, in dem die Mediziner der DDR-Mannschaft ihr Behandlungszimmer eingerichtet hatten.
8500 Kilometer entfernt berichtete der Moderator des DDR-Fernsehens den Zuschauern in der Heimat vom unglaublichen Pech des Mario Schult. Wegen einer akuten Ellbogen-Verletzung könne der starke Mann nicht am Wettkampf teilnehmen. In diesem Augenblick gipste der Arzt im Olympischen Dorf den Arm des verdutzten Hebers gerade ohne jede Untersuchung vom Handgelenk bis zur Schulter ein.
So endete am 25. September 1988 in Seoul der Olympiatraum des Mario Schult.
Alles hatte er für das Erreichen seines Ziels getan, sogar noch schnell seine Freundin Kerstin geheiratet. Denn nur Ehefrauen, so hatten die DDR-Funktionäre beschlossen, durften an der Schiffsreise durchs Mittelmeer teilnehmen, die allen Medaillengewinnern versprochen worden war. Er sei »völlig fertig« gewesen, sagt Schult: »Du spürst das ganze Fluidum von Olympia und wirst urplötzlich ausgeschlossen.«
Der Gipsverband, den der Gewichtheber drei Tage lang tragen mußte, war nur Tarnung. Er sollte eine Panne im ausgeklügelten Doping-System der DDR kaschieren.
Am Vorabend des Wettkampfes, Schult war gerade erst zusammen mit seinen Kollegen Michael Schubert und Ronny Weller aus Ost-Berlin in Seoul angekommen, hatte Verbandstrainer Baumeister mit den Athleten letzte Vorbereitungen besprochen. Da stieß wie zufällig Obermedizinalrat Dr. Dietrich Hannemann dazu. Nach kurzem Small talk erklärte der Direktor des Sportmedizinischen Dienstes der DDR, daß die drei Gewichtheber gemäß »ihrer Konzeption« noch eine »Überbrückungstablette« schlucken müßten. Der oberste Sportarzt der DDR zog sofort ein Röhrchen aus seiner Jackentasche und hielt den Hebern die Pillen entgegen.
Die Sportler zögerten nur kurz. Als obrigkeitshörige Kader griffen sie zu, obwohl der mit ihnen in der Heimat abgestimmte Doping-Plan gar keine Pillen-Einnahme mehr vorsah.
Baumeister kam über die abendliche Sonderbehandlung durch Hannemann - zu dem, so ein Gewichtheber-Funktionär, »alle aufschauten wie zu einem Doping-Guru« - erst am nächsten Tag ins Grübeln. Heimlich traf er sich unmittelbar vor Schults Wettkampf mit DDR-Verbandsarzt Dr. Hans-Henning Lathan. Der mußte als Mitglied der Medizinischen Kommission des internationalen Verbandes an diesem Tag als Kontrolleur agieren, ihm war nach den Statuten ein Kontakt zu Athleten und Funktionären seines Landes verboten.
Als Lathan von dem chemischen Betthupferl hörte, erkannte er sofort, daß eine Doping-Probe des Gewichthebers positiv sein würde. Er befahl, Schult auf der Stelle verschwinden zu lassen. Die Vertuschungs-Idee ("Schnell den Arm in Gips") lieferte der alerte Doktor gleich mit.
So wurde im letzten Augenblick verhindert, daß die alltägliche Doping-Praxis der DDR auffiel. Denn ähnlich wie es der ehemalige DDR-Trainer Michael Regner vom Schwimmen berichtete (SPIEGEL 11/1990), wurden auch die Gewichtheber mit allerlei leistungsfördernden Medikamenten systematisch in die Weltklasse begleitet.
Den Startschuß für die pharmakologische Vorbereitung auf die olympischen Wettkämpfe in Korea hatte Horst Gülle, Generalsekretär des Gewichtheber-Verbandes der DDR, am 6. Januar 1988 in Ost-Berlin gegeben. Auf der monatlich stattfindenden Dienstberatung teilte er den Trainern und Funktionären mit, daß »allen Olympia-Kadern« vom 15. Februar an »UM«, die DDR-übliche Abkürzung für »Unterstützende Mittel«, zu verabreichen seien.
Für Andreas Behm, damals 25, aus Stralsund, Joachim Kunz, 29, den späteren Olympiasieger im Leichtgewicht aus Karl-Marx-Stadt, und Ronny Weller (18, Frankfurt/Oder), der in Seoul die Bronzemedaille im 2. Schwergewicht gewann, war es das Signal zur gezielten Anabolika-Manipulation.
Wenig später wurden von der zentralen Leitstelle, dem »Steuer-Aktiv« des Verbandes, auch für Michael Schubert (22, Ost-Berlin), Ingo Steinhöfel (20, Karl-Marx-Stadt) und Mario Schult detaillierte Doping-Fahrpläne ausgearbeitet.
Behm, der einen »Goldauftrag« des Verbandes zu erfüllen hatte, und Schult bekamen bei der BSG Motor Stralsund jeden Montag während der Sprechstunde von Dr. Horst Grieser ihre Pillen-Ration. Orthopäde Grieser drückte ihnen jeweils ein Dreierpack mit gelben Tabletten des Anabolikums Vistimon in die Hand.
Der von Verbandsarzt Lathan aufgestellte »Generalplan Olympia« sah zusätzlich in Phasen der Höchstbelastung Turinabol-Spritzen vor. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag setzten sich die beiden Gewichtheber nach Training und Abendessen in Behms roten Skoda 105 L und fuhren die fünf Kilometer in die Dr.-Wilhelm-Külz-Straße 7a. Dort ließen die Athleten in Griesers staatlicher Praxis die Hosen runter, wenig später waren die Starkmacher in der Blutbahn.
Der Griff zur Spritze war von ganz oben legitimiert. Heinz Lange, der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung in Rostock, hatte den Athleten für Seoul die »härteste Klassen-Schlacht« prophezeit, die »der DDR-Sport je geschlagen hat«. Gewichtheber-Boß Gülle hatte ihnen klargemacht, wie der olympische Ersatzkrieg zu gewinnen sei: »Arbeiten, Leistung produzieren, Schnauze halten.«
Zudem konnten sich die Sportler blind auf die Mediziner verlassen. Alle vier bis acht Wochen kam per Post die Aufforderung zur Urinprobe. Die Athleten füllten ein Röhrchen, der Urin kam in den Kühlschrank des Trainingszentrums, und am nächsten Tag ging er per Zentralen Kurier-Dienst ins Doping-Labor nach Kreischa bei Dresden.
Für den sogenannten E-Fall, den Ernstfall, gab es in Stralsund außerdem einen Notplan. Wären unangemeldet Kontrolleure des internationalen Verbandes aufgetaucht, wären die Athleten heimlich aus dem Raum geschmuggelt worden, um sie so ungewollten Tests zu entziehen. Die Anabolika-Sünder waren sich ihrer Sache aber sehr sicher: In Lathan hatten sie einen vorzüglichen Spion im internationalen Verband, der, so Behm, zudem »außerordentlich großzügig« kontrollierte.
Auch für Seoul gab es genaue Pläne. In einem Leistungsdiagramm hatte Trainer Uwe Ihde Dosierung und Lasten exakt vorherbestimmt: Beim Wettkampf in Korea sollte danach beispielsweise Behm 357,5 Kilo zur Hochstrecke bringen, zehn Tage vorher sogar 362,5 Kilo - siebeneinhalb Kilo mehr als der gültige Weltrekord.
Doch Behms Körper rebellierte vorzeitig gegen die gewaltigen Belastungen, die durch Anabolika möglich gemacht wurden. Beim letzten Test riß beim dreimaligen Weltrekordler, der seine Schmerzen zuvor bereits mit bis zu 15 Tabletten der Marke Revodina täglich betäubt hatte, die Sehne im Knie. Behm blieb zu Hause, ärgerte sich über »die da oben«, die mit ihren Plänen auf seine Kosten versucht hätten, die »Medaillen durchzudrücken«.
Für Mario Schult war ein »Makro-Zyklus« errechnet worden, dessen UM-Phase bis zum 4. August ging. Nach drei Tagen Pillen-Pause begann am 8. August die »Überbrückungs-Phase«. Sechs Wochen lang, bis sechs Tage vor dem Wettkampf, wurden Tabletten mit leichter anaboler Wirkung verabreicht, die der Körper schneller abbaut. Alles lief perfekt - bis Hannemann, pikanterweise auch Vorsitzender der Anti-Doping-Kommission des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR (DTSB), aus Versehen einmal zuviel sein Pillenröhrchen zückte.
Für Schubert und Weller, deren Wettkämpfe erst Tage später anstanden, blieb die Pille ohne Folgen. Doch Schult wäre mit Sicherheit bei der Kontrolle erwischt worden - er mußte deshalb ausgebootet werden.
Jochen Grünwald, der als Leiter der Abteilung Sommersport im Bundesvorstand des DTSB eine Art Manager der Olympia-Mannschaft war, übernahm die Aufgabe, den ob seines unverschuldeten Karriereknicks frustrierten Schwerathleten noch im Olympiadorf mundtot zu machen. Mit Versprechungen und leidenschaftlichen Appellen an die sozialistische Solidarität besänftigte der Spitzenfunktionär, der gerade erst vor zwei Wochen zum Generalsekretär des »erneuerten« DTSB gewählt wurde, den aufgebrachten Schult.
Im allgemeinen Medaillen-Rausch war Doping-Opfer Schult dann schnell vergessen. »Du kommst dir vor wie der letzte Arsch«, erinnert sich der Heber an seinen Abgang von Olympia, »ich bin in der allerletzten Maschine aus Seoul weggeflogen, saß ganz hinten in der letzten Reihe, während vorne die Gold-Kader feierten.«
Grünwalds Zusagen von Seoul wurden nicht eingehalten. Schult durfte die Kreuzfahrt nicht mitmachen. Und als die Funktionäre zum »Olympia-Ball« nach Ost-Berlin baten, erhielt Behm, der »nach Seoul immer darauf gewartet hat, * Die Abkürzungen bedeuten: MAZ = Makrozyklus, NfD = Nur für den Dienstgebrauch, ZK = Zweikampf, UM = Unterstützende Mittel, Überbr. = Überbrückungstabletten. Abgezeichnet ist der Plan von Axel Hein, dem Stützpunktleiter der BSG Motor Stralsund, und Trainer Uwe Ihde. daß irgendeine Belohnung kommt«, nicht einmal eine Einladung. Schult protestierte vergebens beim DTSB-Kreisvorstand gegen den Fest-Ausschluß seines Freundes Behm. Aus Verärgerung erschien der sonst so brave Nachwuchsheber im Palast der Republik als einziger Sportler nur in Hemd und Pullover. Den silbergrauen Anzug mit DDR-Emblem aus der Olympia-Konfektion hatte er in Stralsund gelassen.
Am kalten Buffet traf Schult den Verbandsarzt Lathan. »Baumeister, Hannemann - alle Leute, die schuld sind, daß ich nicht starten durfte, kriegen hier Prämien«, beschwerte sich der nach einigen Cognacs mutig gewordene Sportler lautstark. Nur mit ihm habe noch keiner gesprochen. Als Schult auch noch ankündigte, aus der SED austreten zu wollen, bekam Lathan Angst um das sorgsam gehütete Doping-Geheimnis. Er verdonnerte den Gewichtheber, »nicht mehr so viel Alkohol zu trinken und endlich den Mund zu halten«.
Wenig später war Schults Aufbegehren wichtigstes Thema bei der Dienstberatung des Gewichtheber-Verbandes in Ost-Berlin. Der aufmüpfige Heber wurde zur »Bürositzung« nach Berlin zitiert und unter anderem von Generalsekretär Gülle, Chef-Verbandstrainer Harry Roewer und von Baumeister wieder auf Kurs gebracht. So behauptet er heute wieder: »Ich war wirklich verletzt.«
»Die Herren haben Druckmittel, die an die Existenz gehen«, sagt Schult. Hätte er nicht weitergemacht, hätte der gelernte Schlosser vom nächsten Tag an in der VEB Volkswerft Stralsund für monatlich 854 Mark netto arbeiten müssen - ohne Aussicht auf lukrative Prämien.
Nachträglich zum »Verdienten Meister des Sports« gekürt, trainiert Schult inzwischen wieder wie bisher. Die Vergangenheit holt ihn aber immer dann wieder ein, wenn in der Sportschule auf einer Tafel die Doping-Kontrollen ("Vorsicht Falle") angekündigt werden.
Generalsekretär Gülle, inzwischen zum Chef der Kaderabteilung im DTSB delegiert, verlangte nämlich nach Seoul, daß die Athleten »kein Gramm mehr einnehmen als im Plan vorgesehen«. *HINWEIS: Im nächsten Heft So wird in der Bundesrepublik gedopt - Die zweifelhafte Rolle der westlichen Sportmediziner