»Schneller, Genossen, schließen Sie auf!«
Die Menschen auf dem Marktplatz von Frunse, der Hauptstadt Kirgisiens, merkten nicht einmal auf, als die Trauerbotschaft aus dem Lautsprecher kam. Sie handelten weiter mit rotem Pfeffer und Granatäpfeln, als ob sie den Bericht über irgendeine Planerfüllung an der Erntefront vernommen hätten und nicht den Tod des Generalsekretärs der KPdSU.
Alltag, Routine auch in Moskau. Nur 24 Stunden nach dem langen Sterben von Konstantin Tschernenko tranken chinesische Abgesandte Tee im Kreml, verließ eine Delegation des Obersten Sowjet sogar den Ort der Trauer in Richtung Brasilien.
Der Schmerz hatte geschäftige Züge, der Tod eines Generalsekretärs erschüttert die Sowjetmenschen schon lange nicht mehr. Bei Tschernenkos Vorgänger und Mentor Leonid Breschnew war das noch ganz anders gewesen. Tausende von Polizisten riegelten das Stadtzentrum drei Tage lang ab. Hochzeiter, die auf den Lenin-Hügeln mit Blick auf die Stadt ein Gläschen Champagner trinken wollten, mußten die bunten Bänder von ihren Autos entfernen. Dies störe die Pietät, erklärte die Verkehrspolizei.
Moskaus City war damals zur Gespensterstadt geworden, die Gegend um den Kreml menschenleer. Über die breiten Ausfallstraßen ratterten Militärkolonnen, als ob ein Staatsstreich zu erwarten stehe.
Ausnahmezustand auch noch beim Tode des Breschnew-Nachfolgers Jurij Andropow. Militärstreifen patrouillierten über leere Bürgersteige.
Bewohner der abgeriegelten Häuserblocks mußten sich mit barschen Polizisten streiten, die sie nicht zu ihren Wohnungen durchlassen wollten, Restaurants im Sperrbezirk schlossen, weil keine Gäste kommen konnten.
Den Tod des dritten Ersten in zwei Jahren nahmen die Moskowiter gelassener auf. Nun war es wohl zur Gewohnheit geworden, die Fahnen mit dem Trauerflor herauszuhängen. Die Absperrgitter standen diesmal näher am Gewerkschaftshaus, der Zugang zu den Nachbarhäusern war leichter. Die Straßen erfüllte nicht mehr das Brummen endloser Militärkolonnen, die Staatstrauer währte statt vier (wie bei Breschnew und Andropow) nur zweieinhalb Tage.
Es schien so, als kämen die Oberen damit der Stimmung im Volk entgegen. Beim Ableben Breschnews war die Betroffenheit groß gewesen: Der Generalsekretär gehörte nach 18 Jahren Amtszeit zum Alltag. Was nun werden solle, fragte sich da mancher Genosse.
Bei Andropows Tod waren gleichfalls viele bestürzt. Trotz seiner KGB-Vergangenheit hatte er sich Ansehen verschafft. Korrupte Beamte wurden gemaßregelt, korrekte Beamte saßen plötzlich nicht mehr desinteressiert hinter dem Schalter, die Geschäfte hatten länger geöffnet, die Eisenbahn fuhr pünktlicher.
Als Tschernenko vorige Woche starb, blieben die Bürger gelassen, fast gleichgültig, Sympathien hatte der Mann aus Sibirien nicht errungen, artikuliert hatte er sich wenig.
Es gab weniger Sicherheitsvorkehrungen, nicht mehr so streng wie früher, der Verkehr floß weiter durch das Moskauer Zentrum, direkt am Gewerkschaftshaus vorbei.
In der Nähe des Zentralkomitees versuchten Zigeunerinnen, Kunden zu gewinnen: »Mann, wie wär's mit einem Blick in die Zukunft?« Noch in den Trauertagen vor einem Jahr hätten mit Sicherheit Polizisten sie verscheucht.
Im Totenhaus hatte sich das Defilee Tausender in Bussen herangefahrener Trauergäste eingespielt. KGB-Soldaten mit dunkelblauen Kragenspiegeln scherzten untereinander - es durfte gelacht werden. Beamte des Außenministeriums genehmigten westlichen Journalisten mehrere Minuten, die Leiche Tschernenkos zu betrachten. Für Photographen ließen sie extra Scheinwerfer einschalten.
Auf dem Platz der Revolution sammelte sich das bestellte Publikum aus den Moskauer Betrieben, Tschernenko-Konterfeis in den Händen. Ein Polizeioffizier mahnte pietätlos per Lautsprecher zur Eile: »Schneller, Genossen, schließen Sie auf.«
Schon wenige Stunden später waren die Trauerfahnen verschwunden und das Tschernenko-Porträt in der Gorkistraße war abmontiert.