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HERBSTMANÖVER Schnitzel an die Front

aus DER SPIEGEL 47/1963

Die Roten kamen über Nacht. Vollmotorisiert und mit abwurfbereiten Atomprojektilen überschritten sie die Elbe. Zwischen Lauenburg und Hitzacker drangen sie ins Stammland der Welfen ein.

Die Blauen, die niedersächsische Heimatscholle gegen die rot gekennzeichneten Aggressoren zu verteidigen hatten, sollten die Angreifer in der Lüneburger Heide, in ihren Sümpfen und Mooren, auffangen und - notfalls mit Hilfe von Atomwaffen - bis an den Unterlauf der Elbe zurückwerfen. Das jedenfalls war ihre Aufgabe beim bisher größten Manöver der Bundeswehr, das in der vergangenen Woche unter dem Decknamen »Widder« ablief.

Der Kommandierende General des ins Manöver gezogenen 1. Korps, Generalmajor Wilhelm Meyer-Detring, erläuterte: »Die Übung ... ist auf eine atomare Ausgangslage abgestellt. Beide Partner kämpfen mit Atomwaffen.«

Es war jedoch nicht Zweck des Manövers, die Wirkung von Atomwaffen zu testen. Vielmehr sollte die überaus schwierige Versorgung der Front mit Munition und Verpflegung unter den Bedingungen eines atomaren Abwehrkampfes geübt werden.

Dabei mußten erstmals in einem Bundeswehrmanöver die Fronttruppen mit eigenen Fahrzeugen und eigenen Leuten ihre Verpflegung vom Korps-Versorgungspunkt abholen. Bomben der Angreifer auf die Nachschubwege der Blauen machten die Selbstbedienung erforderlich.

Erschwert wurde die Versorgung durch den Umstand, daß die blauen Verteidiger wegen der Atombombengefahr weit auseinandergezogen kämpfen mußten. So gab es beim »Widder«-Manöver keine Truppenmassierungen: Schlachtenbummler sahen weder Marschkolonnen noch Panzerrudel. Nur nachts rollten quicke Wagen mit Futterage und Treibstoff vom Bataillon zur Hauptkampflinie.

Allein zur Sicherstellung des täglichen Brotes mußten Brücken gebaut, Notfähren montiert und in Betrieb gehalten werden, denn die Roten hatten - mit Atomgeschossen - alle Brücken über Weser, Aller und Leine zerstört.

Am Abend des ersten Übungstages war die Versorgungslage bereits ernst. Feindliche Jagdbomber störten auch den notdürftig installierten Fährbetrieb über die Weser. Es war unklar, wie es mit der Versorgung der Blauen an der Front bestellt sei.

Überdies setzten die Angreifer - die erste rote Gardearmee unter Brigadegeneral Ernst Philipp - zwischen Verden und Bremen über die Weser und formierten sich bei Bassum zum Stoß gegen das Verpflegungszentrum Sulingen.

Konsequenz: Die Versorgung des blauen Korps war gefährdet. Die in Sulingen stationierte Troßkompanie mit Schlachtern, Bäckern und Wäschern geriet ins Angriffsfeuer der Roten. Ihre Aufgabe, in drei Tagen 21 650 Kilogramm Roggenmehl zu 24 000 Broten und 136 Schweine und Rinder zu Schnitzeln und Wurst zu verarbeiten, war nicht mehr zu erfüllen. In der Nacht zum zweiten Übungstag platzte auch noch eine Zwei-Kilotonnen-Atombombe in das blaue Abwehrzentrum zwischen Celle und Soltau.

Anderntags revanchierten sich die Blauen für die Störung bei der Mahlzeit: Sie placierten je eine Atombombe von zehn und 20 Kilotonnen unmittelbar hinter den Angriffswellen der Roten. Ergebnis: Auch die Roten hatten nun nichts mehr zu essen; prompt blieb ihr Angriff stecken. Die Blauen hatten die roten Atombomben mit stärkerem Kaliber beantwortet. Die Atomspirale begann.

Psychologische Tricks - ein sächselnder Oberst der Roten lud die an der Front hungernden Blauen per Lautsprecher ein, an roten Tischen gemächlich zu vespern - hatten keinen Erfolg. Die Verteidiger robbten tapfer durch Heidesand und Moor, kampierten unter Kiefern und zogen bei aller Entkräftung noch im Morast steckengebliebene Panzer heraus.

Am Abend des zweiten Übungstages kamen dann Benzin und Essen. Die Futterage-Kompanie in Sulingen war durch den blauen Gegenschlag vom roten Druck befreit und funktionierte. Gemäß einer Ausnahmebestimmung der Nato brachten zum Teil Reservetruppen den Nachschub zur blauen Hauptkampflinie. Die Ausnahmebestimmung kann angewandt werden, wenn der Fuhrpark der Fronttruppen dezimiert worden ist.

Nach der Mahlzeit ergriffen die Verteidiger gestärkt die Gegenoffensive. Angriff prallte auf Angriff. Denn die Roten hatten sich mittlerweile vom atomaren Gegenschlag der Blauen erholt. Die Manöverleitung vermutete, daß die Roten aus einem Brückenkopf an der Örtze heraus zum Angriff auf ein Höhengelände westlich von Bergen antreten würde, um zur Aller durchzustoßen.

Die Roten stießen in eine Falle. Verstärkte Flügel der Blauen schlossen sich hinter den Angriffsspitzen der Roten und kesselten sie ein. Atombomben auf das Zentrum des Kessels taten ihr Werk. Schon zu Beginn der »Widder« -Übung hatte Generalmajor von Tempelhoff, Kommandeur der 3. Panzerdivision und Manöverchef, die Parole ausgegeben: »Der Feind soll hereinkommen, geschwächt und eingeengt werden. Das atomare Feuer hat hier ein wichtiges Wort mitzureden.«

Die Vernichtung durch Atombomben war von der Nato befohlen worden. Weil die Roten tief ins Land der Blauen eingedrungen waren und die Versorgungszentren der Verteidiger bedrohten, sah sie keine andere Möglichkeit.

Offen blieb, warum Rot auf die Vernichtung seiner Angriffstruppen nicht mit dem großen Atomschlag antwortete. Dieser Schlag hätte allerdings die Trägerraketen der mit Blau Verbündeten in Marsch gesetzt - und die Folge, der atomare globale Krieg, stand nicht im Manöverprogramm.

Blau siegte in der Lüneburger Heide. Die Versorgung der Fronttruppen wurde als gewährleistet betrachtet, der Feind vernichtet oder verscheucht.

Der blaue Sieg kam erwartet. In Bundeswehr-Manövern haben die Roten noch nie gewinnen dürfen.

Verpflegung für Manövertruppen

Die Blauen mußten hungern

Manövertruppen im Angriff: Die Roten luden zum Vespern ein

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