TV-PROGRAMM Schnuller für die Augen
Wenn Katja Hofem-Best von ihrer Arbeit erzählt, dann spricht ein guter Mensch. Der sagt dann Sätze wie: »Wir schaufeln den Weg frei, den die Menschen selber nicht mehr freigeschaufelt kriegen.« Oder: »Wenn wir nur einer einzigen Familie einen Neuanfang ermöglichen, dann hat es sich gelohnt.«
Frau Hofem-Best arbeitet nicht für die Heilsarmee. Sie betreut auch kein Entwicklungshilfeprojekte in Afrika. Die 35-Jährige ist Programmchefin von RTL II. Der Sender, der seit nunmehr sechs Jahren Menschen in »Big Brother«-Containern observiert, schwingt sich neuerdings zum Retter in fast allen Lebenslagen auf.
»Glück-Wunsch! Vera macht Träume wahr« heißt das neueste Reality-Format, das die Beglückungswelle im deutschen Fernsehen seit Januar dienstagabends auf die Bildschirme spült. Dabei sucht ein Kamerateam Menschen heim, die »unschuldig in Not geraten sind« und organisiert Sachspenden und nachbarschaftliche Arbeitseinsätze.
Einer verschuldeten Reitlehrerin wurden bereits die Pferdeställe renoviert, einer sechsfachen Mutter die Kosten für die Führerscheinprüfung spendiert. RTL II bescheren diese Aktionen langersehnte Marktanteile von bis zu zehn Prozent.
Lebenshilfe-Formate sind im deutschen Fernsehen inzwischen solide Quotenbringer. »Das Fernsehen ist der Schnuller für die Augen«, sagt der Berliner Medienforscher Klaus Goldhammer. »Statt goldener Showtreppe bietet es heute Beistand bei Alltagsproblemen.«
Reality-TV, einst als Kuriositätenkabinett von Jugendlichen in Ausnahmesituationen gestartet, scheint dort angekommen zu sein, wo es hingehört: in der Realität seiner Zuschauer.
Mit durchschnittlich vier Millionen Zuschauern hat es die »Super Nanny« als Erziehungsberaterin und Speerspitze der Bewegung bei RTL längst in die beste abendliche Sendezeit geschafft. Mittlerweile betreut sie auch schwangere 16-Jährige, denen die Mutter »auf den Sack geht«, bringt jugendliche Neonazis vom allzu rechten Weg ab und schafft es nebenher mit Erziehungstipps in die Buch-Bestsellerlisten.
Bei RTL II sind neben »Supermamas«, auch »Superfrauchen« und »Superhausfrauen« im Einsatz, um wahlweise Haustiere, Herd oder wenigstens Nachwuchs in den Griff zu bekommen. »Die Kochprofis«
analysieren kulinarische Brennpunkte, »Die Autoschrauber« verwandeln »viel Rost, wenig Auto« in »richtig fette Schlitten«. Beim »Einsatz in 4 Wänden« peppt Tine Wittler auf RTL fünfmal die Woche verranzte »Problemzimmer« mit bunter Wandfarbe auf und entrümpelt beim »Spezial«-Einsatz komplette Einfamilienhäuser, deren Bewohner nicht mehr gegen das Wohnchaos ankommen.
Das bundesdeutsche Leben der Große-Koalitions-Ära scheint kompliziert genug, um sich vor allem von den TV-Schirm-Herren Abhilfe versprechen zu können. Motto: Pimp my Alltag!
Im Fall von Tine Wittlers innenarchitektonischer Stadt-Guerilla steht dann plötzlich eine blonde Lach-Praline vor der Tür, die jede Wohntristesse innerhalb von Stunden und Tagen in wilde Bonbon-Alpträume zu verwandeln vermag. Am Ende, wenn sie ihre Wohnungen nicht mehr wiedererkennen, weinen alle. Angeblich vor Glück.
Dass Tipps und Tricks im Fernsehen funktionieren, beweisen Kochsendungen und öffentlich-rechtliche Ratgeber-Formate zwar seit Jahren. Mit den neuen Coaching-Sendungen gehen die Sender aber nun auch gezielt auf Menschen in finanziellen Notlagen zu und marschieren als Wohltäter mit Kameras in Kinderzimmer und Schlafgemächer ein.
Mit dem Versprechen »Hilfe zur Selbsthilfe« verschafft RTL II seinen Zuschauern zum Beispiel Einblick in das Elend von verschuldeten Müttern mit kranken Kindern - und spart zudem Produktionskosten. »Die Formate sind billig produzierbar, dazu braucht man nur eine verzweifelte Familie oder ein Haus, das einfach grauenhaft aussieht, und einen Experten, der da reingeht«, sagt Medienforscher Goldhammer.
Die Produktionsfirma Blue Eyes, die »Glück-Wunsch« für RTL II produziert, rühmt sich der eigenen Sparsamkeit. Bei bislang sechs produzierten Folgen habe man erst rund tausend Euro für Material ausgegeben. Sachspenden von Tankgutscheinen über Kinderspielzeug bis zu einem alten Traktor sammelt der Sender dann bei hilfsbereiten Nachbarn und Firmen im Umkreis der notleidenden Familien ein.
Auch RTL lässt sich bei den Renovierungsarbeiten bei »Einsatz in 4 Wänden« helfen: Im Abspann dankt der Sender unter anderem Ikea und »'Schöner Wohnen'-Farbe« für die »freundliche Unterstützung«.
Geeignetes Bildmaterial von uringetränkten Kinderbettmatratzen über Schimmelpilzecken und Haarknäuel im Badezimmer finden sich im »archaischen Wohnchaos« der Kandidaten. Das nötige emotionale Drama liefern die Laiendarsteller gleich mit. Wenn 20 Jahre alte Schrankwände aus dem Fenster fliegen, fließen schon mal Tränen. Und dem Ehebett, das in der Müllpresse zermalmt wird, ruft die Hausfrau sehnsuchtsvoll nach: »Darin wurden die Kinder gezeugt.«
Bei der »Super Nanny« prügeln sich derweil Kinder zu Heavy-Metal-Beats, Hausschlangen fressen Hausratten, ein Vater erzählt, wie er selbst als Kind mit der Hundekette verprügelt wurde, und Ober-Erzieherin Saalfrank sagt: »Ich bin ganz arg erschrocken über die Weise, wie ihr miteinander umgeht.«
Unter Rekrutierungsschwierigkeiten beim Reality-Personal leiden die Sender nicht. Bei RTL II gehen nach jeder »Glück-Wunsch«-Sendung rund hundert neue Anfragen ein. »Offensichtlich gibt es Hilfsbedarf. Das Fernsehen schließt diese Lücke«, sagt Medienpädagoge Stefan Aufenanger von der Universität Mainz.
Statt sich auf Wartezeiten und monatelange Sitzungen beim Therapeuten einzulassen, so Aufenanger, schalten viele Familien offenbar lieber den Fernseher ein oder öffnen gleich den TV-Experten die Wohnungstür. Öffentliche Beratungsstellen seien mit dem Ruch sozialen Elends behaftet. »Wie erzähle ich das im Bekanntenkreis? 'Ich gehe zur Beratung'? Nein, da sage ich doch lieber: 'Ich mache im Fernsehen mit'«, vermutet der Medienpädagoge.
Es geht noch schlichter: Sozialämter haben kein Gesicht. RTL II hat Vera Int-Veen.
Als »Vera am Mittag« verhandelte das Talkshow-Schwergewicht auf Sat.1 zehn Jahre lang Themen von »Verbotene Liebe - Ehe mit einem Teenager« bis zu »Terror total! Du treibst mich in den Wahnsinn!« Heute organisiert sie friedvolle Nachbarschaftshilfe für RTL II. Menschen, die sich auf dem Arbeitsamt als bloße Nummer behandelt fühlen, nennen sie ihre »letzte Chance«.
Das Reizvolle ist auch: Es gibt immer ein irgendwie glückliches Ende. Im Beratungs-TV liefern resolute Expertinnen tatkräftige Unterstützung, klare Ansagen und Freudentränen zum Finale. Einrichtungs-Profi
Tine Wittler beseitigt alle Stil-Unklarheiten. »Schluss mit lustig. Alles muss raus«, heißt es bei »Einsatz in 4 Wänden«, wenn »gruselige« Bärchensammlungen in Umzugskartons verschwinden und »klinisch« weiße Wände mit knallgelber Farbe übertüncht werden.
Die Super Nanny vereinbart mit Eltern und Kindern »Wir gehen freundlich miteinander um« oder »Wir klären Konflikte«. Und wenn die Kinder nach 25 Fernsehminuten in der Lage sind, unfallfrei von einem Teller zu essen, scheinen einige Probleme bereits gelöst. Bei »Glück-Wunsch« erscheint in den entscheidenden magischen Momenten, in denen Hilftrupps anrücken, sogar eine Comic-Fee, die mit ihrem Zauberstab »pling« macht.
»In den Sendungen werden Menschen zu ohnmächtigen Objekten degradiert«, kritisiert Klaus Ritter, Psychologe und Sachverständiger bei Familiengerichten. Den Zuschauern werde vorgegaukelt, Probleme ließen sich im Hauruckverfahren lösen. In Ritters Praxis in Kassel kommen inzwischen Menschen, die vom Psychologen nur noch klarformulierte »Super Nanny«-Regeln hören wollen, statt sich in Gesprächen allmählich zu öffnen.
»Mit starren Regeln werden allenfalls Symptome beseitigt, tieferliegende Ursachen für Probleme bleiben bestehen«, so Ritter. Doch Zuschauer und Senderverantwortliche stören solche Bedenken wenig.
Bei der »Super Nanny« schalten zur Hauptsendezeit rund vier Millionen Menschen ein. Die Fan-Gemeinde von Wittlers »Spezial«-Einsätzen ist mittlerweile ebenso groß. Für echte Fans ist die Deko-Dompteuse eine wahre Autorität.
In ihrer Bar »Parallelwelt« im Hamburger Stadtteil Ottensen trifft man junge Menschen, die samt Schwiegereltern sogar aus Düsseldorf angereist kommen, um bei einem Drink zu untersuchen, wie »Tine« ihre Kneipe mit Farbfolie auf Leuchtstoffröhren in warmes Licht taucht. Auch beim Berufswunsch lässt sich mancher Wittler-Bewunderer offenbar inspirieren: Die junge Barbesucherin möchte eine Ausbildung bei Ikea beginnen.
»Lebenshilfe-Formate bieten Orientierung und Lösungen für den Frieden in den eigenen vier Wänden«, glaubt Medienpädagoge Aufenanger. Zuschauer sehen, dass sie mit ihren tobenden Kindern und der abgeschabten Couchgarnitur nicht allein sind. Oder sie erkennen, dass bei anderen Leuten alles noch viel schlimmer aussieht. Motto: Es gibt immer jemanden mit noch frecheren Kindern oder blöderen Haustieren.
Die »Katharsis-Funktion des Fernsehens« nennt RTL-II-Programmchefin Hofem-Best das und verspricht ihren Zuschauern noch viel mehr Fernsehen mit »Happy-End-Garantie«.
Bei »Zuhause im Glück« dichten ab dieser Woche RTL- II-Experten zugige Fenster ab und verlegen Fliesen - allerdings nur bei Leuten, denen das Leben besonders übel mitgespielt hat. Selbstmord, Darmkrebs, Brustkrebs - und das alles in einer Familie. So qualifiziert man sich bei RTL II für die Hauptsendezeit.
An der medialen Sozialarbeit arbeitet auch die Konkurrenz. Vox schickte am vorigen Samstag eine »Spar-Nanny« los, um Kontoauszüge zu prüfen. RTL begleitet mittwochs Familien bei der Wohnungssuche. Und auch die Sender der ProSiebenSat.1-Gruppe entdecken ihre wohltätige Ader.
In Berlin sucht Sat.1 derzeit »interessante Menschen oder Paare, die ab März 2006 einen größeren Umzug zu bewältigen haben«. Der Sender will die Familien beim Aus-, Um- und Einzug begleiten und dabei auch die psychologischen Aspekte behandeln, die so ein Ortswechsel mit sich bringt.
Die Casting-Aufrufe von ProSieben lassen ebenfalls seelsorgerische Ambitionen erkennen. Für das Format »Lebe dein Leben« sucht der Sender Pechvögel jedweder Couleur: »Ihr Sohn hat sich von Ihnen abgewendet und lebt auf der Straße. Wir bauen Brücken - bis zum Wiedersehen?«, »Schwulsein und die Angst vorm Outing. Wir helfen auf dem Weg zum Coming- out!« Auch bei »Liebeskummer, Depressionen und Untergangsstimmung« wollen die Fernsehleute helfen. Die größten Chancen auf eine kleine TV-Karriere hätten zurzeit wohl schwule Söhne, die sich wegen Liebeskummer mit ihren Eltern verkrachten und nun auf der Straße leben.
Für jede Krise steht offenbar eine Kamera bereit. RTL-II-Programmchefin Hofem-Best ist sich jedenfalls sicher: »Der Trend hält an, außer wir kriegen eine Meldung, dass Deutschland 20 Prozent Wirtschaftswachstum hat und nur noch 100 000 Arbeitslose.« JULIA BONSTEIN