BUNDESPRÄSIDENT / KZ-PLÄNE Schön leserlich
Im April 1945 besetzten die Amerikaner das Kalibergwerk Neu-Staßfurt im Bezirk Magdeburg; im Juli gaben sie Grube und Gebiet für die nachrückenden Russen wieder frei. Da sah Bergmann Willi Parade Gelegenheit. seine Existenz aufzubessern.
Noch bevor die Sowjets einmarschierten, stieg Parade in den Schacht VI des Kalibergwerks, »um Holz, Papier und anderes in dieser Zeit wertvolles Material zu organisieren«. Er kannte sich aus: Im Laufe des Jahres 1944 war ein Teil der Neu-Staßfurter Stollen für die großdeutsche Flugzeugproduktion ausbetoniert worden -- von KZ-Häftlingen und Bergleuten. darunter auch Willi Parade.
Beim Organisieren kam dem Kali-Kumpel ein Bündel Zeichnungen in die Hände. Er verstaute die Papiere auf dem Dachboden seines Häuschens und vergaß sie zwei Jahrzehnte lang. Was dann geschah, schrieb Willi Parade in einem Brief nach München:
»Nach meiner Pensionierung im Oktober 1965, als ich Zeit hatte, besann ich mich eines Tages auf die auf dem Dachboden bewahrten Unterlagen und suchte sie heraus und stellte fest, daß die darunter befindlichen Baupläne des KZ Neu-Staßfurt und des Zwangsarbeiterlagers Wolmirsleben von Lübke unterschrieben oder abgezeichnet waren. Daraufhin habe ich die Zeichnungen zum Rat des Kreises nach Staßfurt gebracht, wo man sie weiterleiten wollte.«
So kam es, daß Bundespräsident Heinrich Lübke, Staatsoberhaupt seit 1959, erst im Jahre 1966 von der DDR bezichtigt wurde, er habe bei Planung und Bau von Konzentrationslagern mitgewirkt.
Der Fund vom Schacht VI besteht aus Architektenzeichnungen, die teils mit »L. V. Lübke«, teils mit »i. V. L« unterschrieben sind. Die Blaupausen zeigen Konzentrations- und Arbeitslager vom Gesamtplan bis zum detaillierten Grundriß einer Abortanlage »für 10 Sitze«.
Außer »Lübke«-Zeichen tragen die KZ-Papiere den Urheber-Vermerk »Ing. Büro Schlempp«. So hieß eine freischaffende Architekten-Firma, die den Ingenieur Heinrich Lübke eingestellt hatte. Kurz nach Kriegsausbruch war das Unternehmen vom »Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt«, dem späteren NS-Rüstungsminister Albert Speer, dienstverpflichtet worden. Im Mai 1944 wurde Chef Schlempp nach Prag befohlen, wo er zerstörte Fabriken wiederaufbauen sollte; die Leitung des Büros übernahm Heinrich Lübke.
Die von Parade entdeckten Zeichnungen mit den Kennmalen »Lübke« und »Schlempp« tragen das Datum vom 16. September 1944 -- aus Lübkes Chef-Zeit,
Zu Hunderten wurden Anfang letzten Jahres Photokopien der Parade-Stücke vom Ost-Berliner »Nationalrat der Nationalen Front« verteilt. Wer immer wollte, durfte die Originale einsehen und sich die Vervielfältigungen notariell beglaubigen lassen. Und diskret versicherte sich auch das Bonner Innenministerium einiger Kopie-Serien.
Aber acht Monate lang blieben die Vorwürfe gegen das Staatsoberhaupt in der westdeutschen öffentlichkeit nahezu Nebensache -- bis August 1966, als das Kabarett »Münchner Rationaltheater« seinen Schaukasten mit Parade-Papieren ausstaffierte. Die Kripo beschlagnahmte das Belastungsmaterial, und nun trieb das Thema bis in die Schlagzeilen auf.
Heinrich Lübkes Bundespräsidialamt verlautbarte damals: »Alles Quatsch.« Und: »Die Unterschrift des Bundespräsidenten ... ist eine Fälschung. Der Bundespräsident hat zu keiner Zeit an der Planung und am Bau von Konzentrationslagern mitgewirkt.«
Derlei Dementis erschienen einem Freund des Bundespräsidenten nicht ausreichend. Bundesinnenminister Lücke, der sich Heinrich Lübke seit langem verbunden fühlt, startete einen Entlastungsangriff.
Am 28. Oktober 1966 verbreitete ein Pressedienst des Bundesinnenministeriums ein Interview mit dem Bundesinnenminister. Paul Lücke über Willi Parades Dachboden-Depot: »Diese Kategorie ... besteht samt und sonders aus Fälschungen und Verfälschungen.« Das ihm unterstellte Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden habe die »Lübke«- und »L«-Signaturen entlarvt. Lücke lobend: »Obwohl nur Photokopien zur Verfügung standen.«
Das traf nicht zu. In Ost-Berlin lagen und liegen die Originalzeichnungen zur Einsicht für jedermann. Auf die Anregung des »Nationalrats«, die Photokopien mit den Originalen zu vergleichen, war zum Beispiel das »Münchner Rationaltheater« eingegangen, auch dieser und jener Journalist, nicht aber das Innenministerium.
Lückes Behörde verzichtete nicht nur auf den Anblick der Original-Signaturen; sie wählte unter den Parade-Photokopien zur Prüfung drei ganz bestimmte Pläne aus: »Wachbaracke«, »Arbeitslager Wolmirsleben«, »Unterkunftsbaracke« -- jeweils mit der Unterschrift »i. V. Lübke«. Und prompt lieferte das BKA laut Lücke, den »exakten kriminaltechnischen und analytischen Fälschungsnachweis": Die drei Photokopie-Paraphen seien deckungsgleich, woraus zu folgern sei, »daß die Unterschriften nach Vorlagen künstlich gefertigt wurden«.
Leichthin schloß Paul Lücke daraus: »Diese »Pannen' zeigen beispielhaft, mit welchen Methoden hier gearbeitet wurde.« Das Beispiel der drei »Lübke«-Pausen mußte für alle herhalten.
Die Papiere mit dem »L«-Zeichen zu diskreditieren, war nur noch Sache weniger Worte. Der Minister: »Der Bundespräsident ... signiert -- damals wie jetzt -- stets mit »Lü' und nicht mit einem »L'.«
Freilich: Die mitgereichten Beleg-Signaturen für »damals« stammten aus den Jahren 1947 bis 1951. »Relativ oberflächlich« nannte denn auch das Institut für Psychologie und Charakterologie an der Universität Freiburg vor wenigen Wochen Lückes BKA-Gutachten.
Einmal, so urteilte das Institut, sei es »nicht gerechtfertigt, von neun fraglichen Unterschriften willkürlich drei herauszugreifen und große Ähnlichkeit als »Deckungsgleichheit' hinzustellen« -- dafür seien die Photokopien »viel zu unsauber«. Und Formulierungen wie »exakter Fälschungsnachweis« seien fragwürdig, solange keiner der BKA-Gutachter die Originale eingesehen habe. Überdies habe die »L""Lü«-These »keinerlei Beweiskraft«, wenn das eine Zeichen 1944, das zweite Jahre später gesetzt sei.
Anders bewerteten die Freiburger einige »Lübke«- und »L«-Expertisen, die Ost-Berlin gern als Zugaben dreinliefert. An einer Schrift des Kriminaltechnischen Instituts der Deutschen Volkspolizei hob das westdeutsche Uni-Institut-Institut »saubere Darstellungen wissenschaftlich angestellter Vergleiche« hervor; dem Institut für Kriminalistik an der Ost-Berliner Humboldt-Universität wurde »eine sorgfältige Arbeit« bescheinigt; in einer Untersuchung des Warschauer Kriminalistik-Professors Pawel Horoszowski schließlich fanden die Freiburger »wohlbegründet klingende Aussagen«.
Alle drei Gutachten identifizieren den Bundespräsidenten als Schreiber der »Lübke« -- und »L« -Signaturen.
In die Mitte des Mysteriums gelangten die Freiburger Wissenschaftler allerdings nicht. Nach eigenem Bekunden war es ihnen »nicht möglich, über die Echtheit der Schriftzüge ... zu einem gut begründeten, endgültigen Urteil zu kommen« -- sie bewerteten lediglich Expertisen, nicht aber die Handschriften selber. Das hat in ganz Westeuropa bislang nur ein Fachmann versucht: Max Frei-Sulzer, Leiter des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich, dem der Rowohlt-Verlag für ein geplantes Buch eine entsprechende Arbeit auftrug. DDR-Anwalt Friedrich Kaul belieferte den Schweizer Anfang dieses Jahres nach und nach mit den Original-Dokumenten, doch plötzlich untersagten Frei-Sulzers Vorgesetzte dem Experten jedwede Lübke-Analyse.
Aber auch dann, wenn das angesehene Freiburger Universitätsinstitut sich die größte Mühe gegeben hätte, die Originale der von Lückes BKA als Falsifikate qualifizierten Pausen »Wachbaracke«, »Arbeitslager Wolmirsleben« und »Unterkunftsbaracke« zu besichtigen -- es wäre gescheitert.
Denn: Als Original existiert nur die »Wachbaracke«. »Arbeitslager Wolmirsleben« und »Unterkunftsbaracke« sind Photokopie-Montagen.
Aber: Die vom »Nationalrat« vertriebenen Photokopien dieser drei Zeichnungen tragen deutlich voneinander abweichende, keineswegs deckungsgleiche Lübke-Signaturen.
Oder anders: Nur auf den drei Photokopien, die den BKA-Gutachten zugrunde lagen, erscheinen die Lübke-Zeichen deckungsgleich und mithin gefälscht. Auf allen anderen Kopien der drei Architekten-Aufrisse jedoch sind die Lübke-Paraphen unterschiedlich. Des Rätsels Lösung:
Als das »Münchner Rationaltheater« seinen Schaukasten mit KZ-Pausen aus den Beständen des Ost-Berliner »Nationalrats« dekorierte und dank der Kripo-Aktion die bis dahin abstinente westdeutsche Presse an dem Thema Gefallen fand, überkam den »Nationalrat«-Vizepräsidenten Werner Kirchhoff das Verlangen, einen Beitrag zwecks Aufdeckung der Lübke-Vergangenheit zu leisten.
Kirchhoff, 41, hielt es für sinnvoll, die Aufmerksamkeit des bayrischen Ministerpräsidenten auf das »Rationaltheater« zu lenken. Was ihn zu diesem Schritt brachte, bleibt einstweilen unergründbar. Tatsache ist, daß der hohe Funktionär dem Parade-Paket drei »Lübke«-Pausen entnahm, um sie -- photokopiert -- Alfons Goppel in München zuzuschicken.
Doch als der Vizepräsident die erwählten Schriftstücke betrachtete, dünkte ihn der »Lübke«-Namenszug auf den Exemplaren »Arbeitslager Wolmirsleben« und »Unterkunftsbaracke« recht verschmiert und undeutlich. Und da kam Werner Kirchhoff ein naiver Gedanke: Er ließ die gut leserliche Paraphe unter der »Wachbaracke« auf die beiden anderen Photokopien übertragen, wo sie denn auch sehr schön wirkte.
Alfons Goppel war gerade in Urlaub, und so übergaben zwei unangemeldete Kirchhoff-Beauftragte die Sendung des Vizepräsidenten am 9. September 1966 im Vorzimmer des stellvertretenden Ministerpräsidenten Hundhammer. Bayerns berühmtesten Bartträger aber bekamen die DDR-Boten nicht zu Gesicht -- er weilte außer Hause. Nach seiner Rückkehr gebot Hundhammer, die Sendung ans Bundespräsidialamt weiterzuleiten. Von dort wurden die plump verschönten Kirchhoff-Papiere ins Bundesinnenministerium befördert. Endstation: Das Bundeskriminalamt, dem sogleich die Deckungsgleichheit der Signaturen auffiel.
So war es möglich, daß Innenminister Paul Lücke am 28. Oktober mit den Kirchhoff-Falsifikaten die Anti-Lübke-Kampagne der DDR entwerten konnte.
Person und Funktion des Vizepräsidenten ließ Paul Lücke beiseite. Vielmehr empörte sich der Minister ganz allgemein über die
SED-»Verleumdungsaktion«, und niemand konnte daran zweifeln, daß er über die vom »Nationalrat« ausgestreuten Materialien sprach -- dies um so mehr, als er mit den drei Photokopien ("beispielhaft") das komplette Parade-Paket ("besteht samt und sonders aus Fälschungen und Verfälschungen") disqualifizierte.
Lücke hätte es besser wissen können, denn in seinem Hause liegen genügend »Nationalrat«-Exemplare -- nicht verschönt, nicht deckungsgleich.
Das DDR-Regime ·aber mußte kuschen. Denn es hätte, um die Sache klarzustellen, seinen Rats-Vizepräsidenten als Fälscher preisgeben müssen. Nur widerwillig gestehen »Nationalrat«-Funktionäre Kirchhoffs Torheit ein.
Im Hause des Bonner Innenministers wird der Hergang schlicht erläutert: Via Hundhammer seien drei notariell beglaubigte* Photokopien aus Ost-Berlin eingetroffen; man habe sie ans BKA gereicht; der Abteilung Kriminal-Technik sei die Deckungsgleichheit aufgefallen; also handle es sich um Fälschungen, und diese propagandistisch auszuwerten sei doch legitim. Der BKA-Referent im Bonner Innenministerium Dr. Reuter auf die Frage, warum denn Minister Lücke erst nach Eintreffen der Kirchhoff-Papiere das Kriminalamt mit einem Gutachten beauftragt habe und nicht schon vorher die »Nationalrat«-Zeichnungen habe untersuchen lassen: »Damals war das doch wohl gerade aktuell wegen des Münchner Rationaltheaters.«
Reuter auf die Frage, warum denn ausschließlich die Photokopien Kirchhoffs und nicht die des »Nationalrats« ausgewertet worden seien: »Die kamen auf einem erkennbaren Wege, direkt aus Ost-Berlin von zwei Beauftragten des Vizepräsidenten ins Vorzimmer Hundhammers.«
Reuter auf die Frage, ob denn niemandem im Ministerium aufgefallen sei, daß die »Lübke«-Signaturen auf den Photokopien des »Nationalrats« keineswegs deckungsgleich sind, andererseits auf den Photokopien Kirchhoffs -- dank der sorglosen Montage -nicht exakt dort sitzen, wo sie auf den »Nationalrat«-Exemplaren erscheinen: »Das ist ganz einfach, es wurde kein Vergleich durchgeführt.«
Reuter auf die Frage, welche Unterlagen dem BKA für das Gutachten zur Verfügung gestellt worden seien: »Nur die drei Photokopien vom Herrn Kirchhoff.«
Reuter auf die Frage, wer denn verantwortlich dafür sei, daß im BKA nicht etwa das gesamte Material, sondern allein die Kirchhoff-Montage untersucht wurde: »Es war eine Anordnung des Herrn Ministers Lücke.«
* Auf den Rückseiten der drei Blätter befinden sich Beglaubigungsvermerke des Ost-Berliner »Staatlichen Notariats Mitte« vom 8. September 1968, Aktenzeichen 485-487/66.