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Schöne Beine aus Titan

Global Village: Ein Orthopäde verhilft einem brasilianischen Model zur Karriere auf dem Laufsteg.
aus DER SPIEGEL 13/2007

Im Flur probt Thayse de Souza, 19, die ersten Schritte für ihren Auftritt in Deutschland. Sie setzt vorsichtig ein Bein vors andere, wirft den Kopf zurück und lächelt strahlend wie Gisele Bündchen. Das Schminken hat etwas länger gedauert, den Hüftschwung muss sie noch besser üben. Dafür kommt sie einmal im Monat in die Klinik Conforpés in Sorocaba, einer Stadt nahe São Paulo.

Nelson Nolé, 63, überprüft die Lithiumbatterie und die Mikrosensoren, die ihre Hände steuern, er checkt die Mikroprozessoren in den Kniegelenken aus Titan und die wohlgeformten Beine aus ultraleichten Kohlenstofffasern. Denn das bildschöne brasilianische Fotomodell ist an Armen und Beinen amputiert.

»Normalerweise wäre sie ein Fall für den Rollstuhl«, sagt Nolé, der Orthopäde. Mit einem monatelangen Trainingsprogramm hat er das Mädchen auf den Laufsteg vorbereitet. Wie ein Derwisch fegt er durch die Flure, unermüdlich treibt er seine Patientin zu physiotherapeutischen Übungen an. Thayse kann wieder schreiben und zeichnen, auch den Lippenstift zieht sie allein nach. »Mein Motto ist: Bloß kein Mitleid«, sagt Nolé. »Bei uns lernen die Behinderten, dass ihr Schicksal nicht einmalig ist. Sie lernen, wieder aufzustehen, aus eigener Kraft.«

Vor 40 Jahren eröffnete er seine erste kleine Werkstatt in Brasilien, in Deutschland verfeinerte er sein Handwerk, die Orthopädie-Technik. Bei der Behandlung von Minenopfern in Angola lernte er, mit wenig Geld Prothesen herzustellen. Serienweise fertigte Nolé künstliche Gliedmaßen aus Schrott und Abfallmaterial. In Brasilien gilt er heute als Fachmann für aussichtslose Fälle.

Thayse war mit 13 an Hirnhautentzündung erkrankt. Die Ärzte in ihrem Heimatort Maceió im brasilianischen Nordosten behandelten sie falsch. Tagelang schwebte sie zwischen Leben und Tod. Ihre Arme und Beine starben ab, mussten amputiert werden. In einem Krankenhaus in Brasília verpassten ihr die Ärzte Beinprothesen aus Stahl, viel zu schwer für das zierliche Mädchen. Sein Traum von einer Karriere als Fotomodell schien zerstört. Bis seine Eltern sich an Nelson Nolé wandten. Der Orthopäde passte dem Mädchen leichte Spezialprothesen an, die er selbst entwickelt. Im vergangenen Jahr posierte Thayse in hautengen Hosen für eine Jeansmarke, diese Woche will sie für 14 Tage zu Modeaufnahmen nach Deutschland fliegen. Die Agentur Visable in Hannover, auf behinderte Models spezialisiert, hat sie zu Aufnahmen für ihren Katalog eingeladen. In Frankfurt am Main soll sie für einen Modedesigner posieren.

Nelson Nolé ist oft die letzte Hoffnung für Verkrüppelte aus der ganzen Welt. Er versorgt Kriegsopfer aus Angola, versehrte Studenten aus Namibia, verstümmelte Waisen aus Uganda. Wer arm ist, erhält die künstlichen Gliedmaßen stark verbilligt, etwa ein Drittel seiner Prothesen gibt Nolé gratis ab. »Ich finanziere sie mit dem Geld, das ich mit Hightech-Prothesen für wohlhabende Patienten verdiene.«

Auf drei Stockwerken im Zentrum der Industriestadt Sorocaba werkeln 27 Angestellte, auch seine drei Söhne gehen dem Vater zur Hand. Prominente Unfallopfer aus ganz Brasilien lassen bei Nolé artifizielle Gliedmaßen anfertigen. Dante Rodrigues, der südamerikanische Meister im Dressurreiten, trägt zwei Beinprothesen, um seinen Sport weiterhin auszuüben. Der Künstler Celso Mascarenhas malt seine Bilder mit einer Kunsthand von Nolé. Alcino Neto, ein einbeiniger Wellenreiter, gewann mit einer Prothese schon mehrere Preise bei Wettkämpfen.

Vor allem aber hilft das Orthopädie-Genie den »Versehrten unseres urbanen Kriegs«, wie er die Unfallopfer aus den Elendsvierteln nennt, Jugendliche wie den 18-jährigen Ciro Luis dos Santos: Beim Surfen auf einem Vorortzug war der Junge gestürzt und 20 Meter mitgeschleift worden, er verlor ein Bein. Zweieinhalb Jahre schlug er sich als Bettler auf der Straße durch. Heute spielt er mit seiner Prothese wieder Fußball.

Einem vierjährigen Kind aus einer Favela, das von einem Bus überfahren worden war, verpasste Nolé einen künstlichen Fuß - seine verzweifelte Mutter hatte dem Kleinen eine Blechdose als Prothese angebunden. Der bislang schwierigste Fall aber war ein Mann aus einem Wanderzirkus, den ein Löwe halb zerfleischt hatte. Nolé setzte ihm einen künstlichen Arm an und entwickelte eine Mundprothese, die Raubkatze hatte auch das Gesicht zerfetzt.

Nolés Prothesen sind um mindestens 20 Prozent günstiger als vergleichbare Gliedmaßen aus Europa oder den USA: 30 000 Real, etwa 11 000 Euro, kostet ein künstliches Bein. Er verwendet recyceltes Aluminium und Titan. Nur die Technologie für die Gelenke ist importiert: Die Kunsthände der schönen jungen Thayse stammen aus Deutschland, die Mechanik ihrer Knie aus Frankreich. Dank eines künstlichen Gelenks kann sie die Füße in vier Richtungen bewegen.

Monatelang hat das brünette Model das Gehen trainiert. Anfangs fiel Thayse oft um, weil sie nicht das Gleichgewicht zu halten verstand: »Ich hatte kein Gefühl für den Boden«, sagt sie. Sie musste erst gehen lernen, ohne den Untergrund zu spüren.

Jetzt hofft sie, dass sie ihren Lebensunterhalt als Fotomodell bestreiten kann. Nach ihrer Rückkehr aus Deutschland will das Modelabel BR363 die neue Kollektion mit ihr fotografieren. Außerdem soll sie eine neue Jeansmarke vorführen. Der Name des Labels passt zu dem Mädchen, weil Thayse trotz alledem vor Lebensfreude sprüht: »Joy«. JENS GLÜSING

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