Zur Ausgabe
Artikel 31 / 93

Geiselnahme Schöne Geschichte

Bei der Geiselbefreiung aus einem Trierer Waffengeschäft bewährte sich zum erstenmal der Einsatz eines neutralen Vermittlers vom Roten Kreuz.
aus DER SPIEGEL 50/1972

Am Apparat 74814 waren die Erpresser, am Apparat 74694 der Medizinaldirektor Günther Hoffmann. Es ging um ein Code-Wort für weitere Telephonkontakte. Vorschlag an Hoffmann: »Sie sind der »Tod' und wir sagen, »Ganz egal, Tod' -- okay?«

Dabei blieb es. Die Täter -- Harald Ehrig, 22, und Alphonse Follscheid, 23

reagierten fortan nur noch auf »Tod« Hoffmann. Fast ebenso lange wie sie das Waffengeschäft Weber in Trier besetzt und eine Geisel in Gewalt hielten, 20 Stunden lang, war er für sie einziger Gesprächspartner in allem Wichtigen.

Als sich scherzende Bürger als »Sicherungsgruppe Bad Godesberg« bei den Geiselnehmern meldeten und Rundfunkstationen anriefen -- immer legte »Ganz egal, Tod« kommentarlos auf. Und als ein Reporter von der »Frankfurter Rundschau« in der Nacht doch ein paar Worte mit den beiden wechseln konnte. verstand er nicht den Zusammenhang. »Die Antwort auf alle Fragen«. schrieb er anderntags, »ist nur: »Wir wollen nur den Tod.«

Der, den sie wollten, pflegte vom Haus schräg gegenüber zu telephonieren, der Autoersatzteile-Großhandlung Stehle. Von ihm ließen sie sich alles sagen, und ihm sagten sie alles -- besorgt ("Stimmt es, daß der Weber schwer verletzt ist?"), bestimmt ("Quatschense nicht so dumm, kommense nicht mit Tricks"), voller Angst ("Werden wir jetzt sterben?").

Am Dienstag letzter Woche uni 15.33 Uhr stand der Medizinaldirektor mit dem Code-Namen »Tod«, eine Rot-Kreuz-Binde am Arm, winkend auf der Trierer Paulinstraße; seinen Telephonpartnern Ehrig und Follscheid, die miL einem ausbedungenen Leib-Mercedes 220 (TR -- LC 13) davonbrausten. rief er nach: »Ich wünsche Ihnen auf einem neuen Weg viel Glück.« Vor Gericht will er über die beiden Geiselnehmer »sehr viel Entlastendes sagen«.

Als Obervertrauensarzt der Landesversicherungsanstalt im Regierungsbezirk Trier hat Mediziner Hoffmann »laufend Umgang mit angeschlagenen Menschen«. Seine »Vorliebe bei den Patienten gilt den ganz Kleinen und den Gescheiterten«. Sünde ist für den gläubigen Katholiken »nicht gleich Sünder, Tat nicht gleich Täter. Er war, gewissermaßen. prädestiniert für einen Job, den es bei Geiselnahmen bis dahin kaum gegeben hatte: neutraler Vermittler zwischen Polizei und »Geiselgangstern« ("Bild").

Geplant war das nicht gewesen. Es ergab sich vielmehr. als Triers Oberbürgermeister Josef Harnisch -- vier Stunden nach dem Überfall auf das Waffengeschäft Weber -- den nebenberuflichen Rot-Kreuz-Arzt zur Seite nahm: »Wir kommen an die Kerle nicht heran. wir wissen nicht einmal, was sie wollen, versuchen Sie es doch mal.«

Hoffmann nahm den Hörer -- und von nun an ließ er die Kerle nicht mehr los. Er redete, redete und redete. Er las aus dem Strafgesetzbuch vor und brachte die Täter vom Code-Wort »Wassermann« ab ("Das ist so ein Ausdruck bei einer Geschlechtskrankheit"). Er warnte vor »falschen Nachrichten über eure Situation im Radio« und handelte eine Lösegeldforderung von 500 000 auf 40000 Mark herunter. »Ich bin euer Kumpel und Anwalt«. sagte er und bot den Erpressern ein

Mit Geisel Reber.

Date an: »Wollt Ihr nicht sehen, wer ich bin?«

Hoffmann, der »Tod«, schickte einen Boten mit Verpflegung und Zigaretten zum Eingang: »Jetzt werdet Ihr an der Ecke die Hand sehen.« Hoffmann dankte mal, »für die phantastische Zusammenarbeit«, lobte mal: »Hat das nicht prima geklappt?« Zwischendurch Fluchen ("Das krieg ich nicht durch -- Scheiß-Polizei") oder Jesus-Zitat ("Ich bin bei euch").

Der Arzt mit DRK-Binde, der von sich meint: »Wenn ich Auto-Vertreter wäre. würde ich täglich drei Wagen verkaufen«, hatte es in Trier nicht mit geistesverwirrten Tätern zu tun, wie die Polizei am Wochenende zuvor in Frankfurt, auch nicht mit einem zu allem entschlossenen Todeskommando« wie die Polizei in München beim Überfall auf die israelische Mannschaft.

Die Geiselnehmer an der Mosel waren nach den Eindrücken des Krisenstabs vielmehr Nachahmungstäter ohne Plan und Ziel, »die es toll fanden, mal eine ganze Stadt zu beherrschen« (Hoffmann). Vermutlich eskalierte die Situation in Trier erst durch das Groß-Aufgebot der Polizei: Die Täter sahen sich in eine Verteidigungsposition gedrängt; sie hatten offenbar die Konfrontation mit Präzisionsschützen und Panzerwagen nicht einkalkuliert.

Erst seit Sonnabend zuvor war der blonde Anführer des Erpresserduos, Harald Ehrig, wieder in der Gegend. Nach einem versuchten Bankraub war er in Lübeck zu zweieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt worden, hatte Bewährungsauflagen nicht befolgt und sich erneutem Strafantritt durch die Flucht in den Süden entzogen. Von mehrmonatigem Besuch in Spanien zurück, machte der DDR-Flüchtling (1969) im Luxemburger Hauptbahnhof die Bekanntschaft von Alphonse Follscheid aus Röttgen (Luxemburg), der gelegentlich schon mal im kleinen Grenzverkehr in Trierer Bars Bier trinken ging.

Am Montag letzter Woche lösten die beiden Fahrkarten nach Trier, verstauten ihr Gepäck in einem Trierer Schließfach und berieten den Plan einer »gemeinsamen Straftat in einer anderen Stadt« (so Follscheid nach der Festnahme laut Polizeiprotokoll). Bei Büchsenmacher Hermann Weber in der Paulinstraße an der Porta Nigra wollten sie »die dazu nötigen zwei Pistolen besorgen« (Ehrig).

Statt kurz vor Geschäftsschluß, wie Follscheid geraten hatte, betraten sie bereits kurz nach 16 Uhr das Geschäft. Als Büchsenmacher Hermann Weber verschiedene Waffen vorführte, griff Ehrig plötzlich zu einem Gewehr, holte blitzschnell eine Kleinkaliberpatrone aus der Tasche, schob sie in die Waffe, lud durch und feuerte -- warum, war in den ersten Vernehmungen nicht zu klären; die Kugel traf den Kaufmann in den linken Unterarm. Weber lief schreiend durch den Hinterausgang auf die Straße und zog Tochter Katharina. 8, mit hinaus.

Weber-Ehefrau Käthe, 36, Mutter von fünf Kindern und schwanger, mußte als Geisel im Laden bleiben -- womöglich nur deshalb, weil die nicht motorisierten Täter nach dem Schuß auf Weber keine Fluchtchance mehr sahen: Schon nach drei Minuten traf, von Nachbarn alarmiert, die Funkstreife ein.

Von nun an schossen die beiden auf ziemlich alles, was sie sahen -- auf Straßen- und Blaulicht-Lampen, Reklameschilder und Polizisten in Deckung. Fast jeden Schuß kündigten sie »Tod« am Telephon an. und der war von nun an dabei -- gegenüber bei Stehle im Büro, Nachricht über den heißen Draht: »Frau Weber macht uns Tee.«

Vom Hochbauamt ließ der Krisenstab derweil die Baupläne des besetzten Hauses kommen, um alle Möglichkeiten durchgehen zu können. Hoffmann blieb am Apparat -- »Wir mußten stundenlang miteinander warm werden«, sagte er später.

Nur 20 Minuten lang war, am frühen Vormittag, die Strippe stumm: Als Ehrig und Follscheid das Telephon vom Tisch fiel, brach zwischen »Tod« und »Ganz egal. Tod« die Verbindung ab, bis die Post den Schaden -- im Fernmeldeamt -- beheben konnte. Nun klappte es wieder wie zuvor:

Als, abends, die Erpresser Panzerwesten und Stahlhelme verlangten, ging »Tod« an der Strippe scheinbar auf die Forderungen ein -- zog die Verhandlungen jedoch so lange hin, bis nicht mehr davon die Rede war. Als, frühmorgens, die Chance kam, die erschöpfte Geisel Käthe Weber -- etwa gegen junge Polizei-Freiwillige -- auszutauschen, machte Hoffmann dem Krisenstab klar: »Die Kerle wollen Publizität -- da ist ein Mann von einem Boulevardblatt genau der Richtige.«

Um 6.52 Uhr in der Früh durfte Käthe Weber herausgehen, »Bild«-Reporter Horst Reber, 28, stieg ein in die »schöne Geschichte« (so später in einem Telephonat mit seiner Freundin). Reber nannte die Täter bald »Peter« und »Paul«, rauchte Gauloises und Roth-Händle mit ihnen und erzählte »vom Fußballspielen, von netten Mädchen« (Reber). Follscheid ("Mein Bruder ist ein Gangster, und ich bin jetzt auch einer geworden") hängte sich zwei Revolver an die Hüften, Ehrig schoß dem Reporter zur Warnung zwischen die Beine.

Um 15.45 Uhr ließ sich der rheinland-pfälzische Innenminister Heinz Schwarz als Einsatzleiter mit dem Mainzer Regierungschef Kohl verbinden: »Helmut, der Geisel ist frei. Die Täter sind mit dem Auto weg, aber wir haben die Nummer und alles.«

Daß Schwarzens November am Fuße der Porta Nigra schließlich noch ein glimpfliches Ende nahm, ist -- darin waren sich Polizisten und Beobachter einig -- vor allem dem Verhandlungsgeschick des DRK-Arztes Hoffmann zu danken. Schwarz: »Wir haben den richtigen Mann gefunden, auch für künftige Fälle.« Die Erkenntnis des Arztes, der, »wenn es sein müßte, wieder mitmachen würde": »Die Verhandlungen mit Geiselnehmern dürfen nicht von der »feindlichen« Polizei geführt werden.«

Dem DRK-Mann, der »unter allen Umständen ein unblutiges Ende« erreichen wollte, war von Anfang an klar: »Ich mache nicht den Lockvogel für eine Scharfschützen-Aktion.« Exakt dies aber war am Dienstag gegen 14 Uhr im Krisenstab, der in der Großhandlung Stehle residierte' erwogen worden: Schießbefehl als Alternative zur »sanften Lösung« (Schwarz). Die Dicke des Schaufensterglases war ermittelt, mögliche Zielfehler durch optische Täuschung waren einkalkuliert. Die ringsum postierten Präzisionsschützen, bis dahin ohne rechtes Schußlicht, machten den Krisenstablern klar: »Wenn, dann jetzt gleich, sonst ist die Sonne weg.«

Voraussetzung für die gezielten Schüsse auf die Erpresser war, daß beide zugleich im Visier hätten sein müssen, Reporter Reber hingegen außer Gefahr. Mehrmals hatte »Tod« die Geisel am Telephon ermahnt: »Sie behalten den hellen Mantel an, lassen sich fallen, lassen sich fallen, ist das klar?«

Es war der Zeitpunkt, da »Peter« und »Paul« noch »freies Geleit unter Mitnahme der Geisel« und »keine Verfolgung innerhalb einer Stunde« verlangten. Sie wollten »lediglich eine Pistole« mitnehmen, Reber »nach einer Wegstrecke von ca. 100 km« freilassen und ihm dann sogar die Waffe aushändigen. Die Polizei indessen beharrte auf der »Freilassung der Geisel am Tatort«, gab freilich die »Zusicherung vom freien Geleit«.

Die Wende kam um 14.15 Uhr, als »Peter« und »Paul«. weichgeklopft von »Tod«. klein beigaben. Einzige zusätzliche Forderung an Schwarz (die »akzeptiert« wurde): Er solle den Vorsprung von einer Stunde, die »Nicht- Verfolgung durch die Polizei von Rheinland-Pfalz«, schriftlich zusichern und »öffentlich verkündigen« lassen,

Obwohl die Polizei offiziell untätig blieb (Schwarz: »Ein Minister hält sein Wort"), machten bewaffnete Trupps des Landesfahndungskommandos ihre Fahrzeuge klar, die mit gelben Plastikstreifen auf den Karosseriedächern gekennzeichnet waren. Fünf Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes flogen im Moselstadion auf.

»Peter« und »Paul« bestiegen den Leihwagen, kamen wieder heraus, stiegen wieder ein. Ein Schäferhund bellte programmwidrig in die Stille, ein Martinshorn heulte entgegen allen Absprachen auf -- Hoffmann beruhigte durchs Megaphon: »Ein Unfall, ein Unfall.« Ehrig, der Blonde, äugte mit einem Fernglas die Fenster ab, grinste, als erwarte er Schlußapplaus. Follscheid, ganz in weinrotem Leder, sprang ans Steuer. Im Abfahren zählte Ehrig das Geld, Geisel Reber war frei.

Gut eine Stunde später erfuhr der in die »Pils-Stube« des Hotels »Porta Nigra« umgezogene Krisenstab, daß beide Erpresser gefaßt seien -- Follscheid verletzt (durch einen Oherschenkelschuß) am Steuer, Ehrig unverletzt in einer Kiesgrube. Schwarz ("Wie im Bilderbuch") verriet seinen Trick mit dem Ehrenwort: »Das haben nicht wir, sondern der Bundesgrenzschutz gemacht.«

Kriminairat Egon Weber vom Landesfahndungskommando, der einen der Helikopter dirigiert hatte, vergaß indessen die Sprachregelung und schwadronierte am Biertisch: »Wir haben ein Hufeisen gebildet, da ließ der liebe Gott die Schranke runter -- und die Falle war zu.«

Hoffmann, der Idealist: »Der Trick hinterher. das paßt mir gar nicht.«

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 31 / 93
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Playlist
Speichern Sie Audioinhalte in Ihrer Playlist, um sie später zu hören oder offline abzuspielen. Zusätzlich können Sie Ihre Playlist über alle Geräte mit der SPIEGEL-App synchronisieren, auf denen Sie mit Ihrem Konto angemeldet sind.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren