OLYMPISCHE SPIELE / GESAMTDEUTSCHE MANSCHAFT Schöner Götterfunke
Am Berg Isel in Innsbruck, wo einst Sachsen und Bayern dem Kaiser der Franzosen im Kampf gegen Tiroler Bauern halfen, marschierte am Mittwoch letzter Woche abermals eine gemischte Truppe deutscher Nation auf, in der die unverkennbaren Laute bayrischer und mitteldeutscher Zunge den Ton angaben. Es war das dritte Mal, daß Sportler der Bundesrepublik und der DDR in einer gesamtdeutschen Mannschaft zur feierlichen Eröffnung Olympischer Winterspiele anrückten - und höchstwahrscheinlich das letzte Mal.
»Ich bin fest davon überzeugt, daß es bei kommenden Olympischen Spielen (nach den Winterspielen von Innsbruck und den Sommerspielen von Tokio) keine gesamtdeutsche Mannschaft mehr geben wird«, verkündete in Innsbruck Dr. Heinz Schöbel, Präsident des »Nationalen Olympischen Komitees« (NOK) der DDR.
Zu der gleichen Erkenntnis sind auch Schöbeis westdeutsche Funktionärskollegen gelangt: »Ich habe mich schon vor längerer Zeit für getrennte Olympiamannschaften ausgesprochen«, sagte Bundesdeutschlands Skisportpräses Dr. Adolf Heine, oberster Chef (Titel: »Chef de Mission") der gesamtdeutschen olympischen Streitmacht. »Hier in Innsbruck sehe ich immer mehr ein, daß alles doch nur eine Farce ist und ich recht hatte.«
Der gesamtdeutsche Einmarsch zur Eröffnungsfeier im Berg-Isel-Skistadion dokumentierte in der Tat einen dubiosen Zustand, der in der bisherigen Olympiageschichte ohne Beispiel ist: Zur selben Zeit, da
- jeglicher Sportvereins- und Wettkampfsverkehr zwischen DDR und Bundesrepublik auf Beschluß der westdeutschen Sportführung unterbunden ist (Grund: der Berliner Mauerbau vom 13. August 1961) und
- DDR-Sportler bei offiziellen internationalen Meisterschafts-Wettkämpfen in Nato-Ländern aus demselben Grund keine Einreisevisa erhalten,
müssen deutsche Winter-Olympioniken entweder auf die Teilnahme an den Winterspielen verzichten oder sich in die gemeinsame Olympia-Riege einreihen lassen.
Sie marschieren gemeinsam, und sie hausen gemeinsam (nach Geschlechtern getrennt) unter einem Dach im olympischen Hochhäuser-Dorf*. Sie tragen kapitalistische Mäntel und Anoraks (produziert in der Bundesrepublik) und volkseigene Hosen, Mützen, Socken und Handschuhe (gefertigt in der DDR).
Sie starten - im Gegensatz zu allen anderen Teilnehmern - unter einer Fahne und einem Mannschafts-Emblem, die ihren tatsächlichen Farben (siehe Titelbild) nur ähnlich sind. Es sind die gleichen schwarzrotgoldenen Farben mit weißen Olympiaringen in der Mitte, die schon im Jahre 1959 bei einem der unzähligen innerdeutschen vorolympischen Zwiste vor den Spielen von Squaw Valley den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer derart erbost hatten, daß er seine Sportler zum Verzicht auf die olympische Teilnahme zu nötigen versuchte.
Und »um peinliche Pannen zu vermeiden« (so Dr. Heine), begaben sich der oberste Gesamtdeutsche und sein DDR -Stellvertreter Manfred Ewald, Präses des »Deutschen Turn- und Sportbundes« (DDR), in Innsbruck beizeiten zum olympischen Tonmeister, der die Tonbänder mit den für die Siegerehrungen vorgesehenen Melodien verwahrt. Gemeinsam lauschten sie Beethovens »Freude, schöner Götterfunken«. Sie wollten sicherstellen, daß für einen siegreichen Gesamtdeutschen nicht etwa aus Versehen die Nationalhymne Walter Ulbrichts oder das bundesdeutsche »Einigkeit und Recht und Freiheit« gespielt würde.
Was jedoch den inneren Zusammenhalt der west-östlichen Olympiamannschaft betrifft, so hat Ulbrichts »Neues Deutschland« ihr kaum zu Unrecht »dürftig angeschnallte Stelzen« bescheinigt, auf denen sie im Gleichschritt den Berg Isel erklomm.
»Wir wahren den Schein, wissen aber alle, daß nichts mehr dahintersteckt«, sagte DDR-Schöbel in Innsbruck. »Die gesamtdeutsche Mannschaft ist vorhanden, aber in Wirklichkeit reine Fiktion. Wir machen der Welt hier etwas vor.«
Intendant des gesamtdeutschen Olympia-Theaters in Innsbruck ist der greise Amerikaner Avery Brundage, Präsident des »Internationalen Olympischen Komitees« (IOC), das die Aufsicht über die Olympischen Spiele führt und die Einhaltung ihrer Spielregeln überwacht. Brundage: »Die gesamtdeutsche Mannschaft ist mein größter olympischer Erfolg.«
Im Dezember 1962 waren die feindlichen deutschen Sportbrüder auf Vorschlag des IOC-Kanzlers Otto Mayer bereits zu dem vernünftigen Beschluß gekommen, künftig olympische Anstrengungen getrennt - wenngleich unter einer Fahne - zu machen. Damals erklärte Willi Daume, bundesdeutscher Sportbund- und NOK-Präsident: »Das ist die beste Lösung.«
Doch Brundage wollte den Deutschen nicht zugestehen, was er den Nord- und Südkoreanern zubilligte. Er verfügte, auch für die Spiele in Innsbruck (und Tokio) sei eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft in Ausscheidungswettkämpfen zu rekrutieren.
Das NOK der Sowjetzone, das seit dem Jahre 1955 vom internationalen Olympiakomitee provisorisch anerkannt ist, unterliegt der Bestimmung, daß Sportler der DDR nur in gesamtdeutschen Mannschaften am Olympia teilnehmen dürfen. Die deutschen Mannschaften aus Ost und West wurden damit vom IOC quasi zu siamesischen Zwillingen verschmolzen: Entzöge sich ein Mannschaftsteil der geforderten Gemeinschaft, bliebe das olympische Startrecht dem gemeinschaftswilligen Partner allein überlassen.
Brundage über die Deutschen: »Die Sportler beider Länder kommen gut miteinander aus. Die Sportfunktionäre kommen miteinander aus, wenn ich dabei bin.«
Daß aber der gesamtdeutsche »Götterfunke« nicht mehr sprüht, wurde in Innsbruck schon bald deutlich. Missions -Chef Heine über das dort herrschende gesamtdeutsche Betriebsklima: »Sportler untereinander werden schon das eine oder andere Wort miteinander sprechen, aber von Kontakten kann wohl kaum die Rede sein.«
So unerquicklich die erzwungene Gemeinschaft der kontaktunwilligen Olympia-Deutschen im Hinblick auf eine ersprießliche Mannschaftstaktik auch sein mag - sie hat den Deutschen bereits vor Beginn des ersten Wettkampfes einen olympischen Rekord eingetragen: Die gesamtdeutsche Mannschaft ist nach Kopfzahl stärker als jede andere jemals bei einem Winter-Olympia gestartete Nationalmannschaft.
In Innsbruck haben sich die Deutschen aus Ost und West selbst übertroffen. Schon bei den Spielen von Squaw Valley im Jahre 1960 boten sie mit insgesamt 85 Damen und Herren die größte Mannschaft aller teilnehmenden Nationen auf. In Innsbruck steigerten sie sich auf 117 Teilnehmer.
Zu dieser Rekordstärke schwoll die Mannschaft an, weil sie in Wahrheit aus zwei Mannschaften besteht, die miteinander schärfer rivalisieren als etwa die französischen alpinen Skiläufer mit ihren österreichischen Gegnern. Und es hätte nicht erst der unmißverständlichen Parole von Ulbrichts »Sportminister« Manfred Ewald ("Für uns gibt es kein Deutschland mehr, für uns gibt es nur noch Siege der DDR") bedurft, um zu erkennen, daß die gesamtdeutsche Mannschaft beim Olympia nach dem Willen ihrer Führer in erster Linie einen gesamtdeutschen Wettbewerb untereinander austragen muß.
Bei diesem innerdeutschen Olympia ist die DDR unverkennbar auf dem Vormarsch (siehe Graphik). Während die sowjetzonalen Sportler noch bei den Olympischen Spielen von 1952 nur zusehen durften, wie ihre westdeutschen Brüder und Schwestern sich die ersten Medaillen holten, stellten sie bei den Spielen von 1956 in Cortina d'Ampezzo immerhin schon 18 Sportler oder 24 Prozent der 76 Wettkämpfer umfassenden ersten gesamtdeutschen Olympiamannschaft.
Beim nächsten west-östlichen Gemeinschaftsstart unter olympischen Ringen, 1960 in Squaw Valley, vermochten die Mitteldeutschen ihren Anteil fast zuverdoppeln: 35 Wettkämpfer oder 41 Prozent der gesamtdeutschen Mannschaft entstammten der DDR. Und dank ihrer Eisschnelläuferin Helga Haase und ihres Ski-Weitspringers Helmut Recknagel konnten die DDR-Leute ihrem obersten Sportherrn, dem Skiläufer Walter Ulbricht, zwei Goldmedaillen melden genauso viele, wie die Bundesrepublik durch die alpine Skiläuferin Heidi Biebl und den in der Nordischen Kombination siegreichen Schwarzwälder Postboten Georg ("Jörgli") Thoma errang*.
Daß sich die DDR in der Innsbrucker Olympiamannschaft (West: 68, Ost: 49) gegenüber Squaw Valley nur um ein Prozent verbessern und nicht die Majorität erringen konnte, hatten Daumes Olympia-Strategen einzig und allein dem Füssener Eishockeyspieler Ernst Trautwein ("Sport Illustrierte": »Trautweins Tore sind die besten") zu verdanken.
Denn in beiden innerdeutschen Ausscheidungstreffen der Eishockeyspieler schoß Trautwein die entscheidenden Tore: zunächst beim 4:4 geendeten Spiel in Füssen, dann - vor den Augen Walter Ulbrichts - beim 4:3-Sieg in der Seelenbinder-Halle zu Ostberlin.
Ein Erfolg der DDR hätte die Kopfzahl der Mitteldeutschen in der gesamtdeutschen Mannschaft um 17 Eishockeyspieler erhöht und das bundesdeutsche Kontingent um 17 Sportler verringert. Damit wäre den Westdeutschen entsprechend den protokollarischen Abmachungen der optisch und tatsächlich wichtigste Funktionärsposten des gesamtdeutschen Teams entwunden worden: Der Chef de Mission, den die Mannschaftsmehrheit stellt, ist der eigentliche Mannschaftsführer und Repräsentant.
Wie stark die Zonen-Leute inzwischen dennoch in die noch 1952 nur aus Westdeutschen bestehende Olympiamannschaft eingebrochen sind, zeigt nichts anschaulicher als die Skisportdisziplin Sprunglauf.
Noch bei den Spielen von Cortina d'Ampezzo im Jahre 1956 hatte die Bundesrepublik im Schanzenspringen gegenüber den Springern der Sowjetzone mit 4:2 die absolute Mehrheit. Vier Jahre später, in Squaw Valley, hatten bereits Ulbrichts Springer mit 3:2 das Übergewicht. Heute, in Innsbruck, darf nur noch ein einziger westdeutscher Skispringer (gegenüber fünf Sprungläufern der DDR) an den Start gehen.
Ursache des verblüffenden wintersportlichen Aufschwungs in der sogenannten Arbeiter- und Bauern-Republik ist im wesentlichen die enorme staatliche Unterstützung, die Ulbricht seinen Sportlern ohne Rücksicht auf Kosten und Amateurbestimmungen angedeihen läßt.
»Wir messen der Wissenschaft und ihren Erkenntnissen für den Sport in der DDR große Bedeutung bei und haben auf dieser Basis eine systematische Talentförderung betrieben«, erläuterte DDR-Schöbel. Zentrale des zonalen Sportaufschwungs ist die mit allen erforderlichen Hilfsmitteln ausstaffierte »Deutsche Hochschule für Körperkultur« in Leipzig. Jahr für Jahr produzierte dieses Institut je rund 1500 Übungsleiter, »die dann dafür sorgen, daß die Talente aufgespürt und dem Leistungswettkampf zugeführt werden« (Schöbel).
DDR-Leistungssportlern winken sozialer Aufstieg, Auslandsreisen und ein ebenso ausgeklügeltes wie schwer durchschaubares Bezahlungssystem. So erhalten verdiente Sportmeister erkleckliche Zuwendungen und Renten, während potentielle Hochleistungssportler schon in der Phase des Reifens für das Strapazieren ihrer Muskeln und Gelenkkapseln honoriert werden: Der Staat zahlt ihnen Löhne und Gehälter für Posten, auf denen sie nur zeitweise oder überhaupt nicht arbeiten.
Im Rahmen ihrer »Perspektivplanung« schleusten die DDR-Sportstrategen von jeher die entdeckten Talente in die passenden Disziplinen. Ähnlich geschickt operierten sie, um ihre westdeutschen Landsleute im olympischen Prestige -Wettkampf zu übertrumpfen.
Sie gingen rationell zu Werke. Einerseits verzichteten sie klug auf sonderliche Anstrengungen in Sportarten wie den alpinen Skirennen und dem Bobsport, in denen Westdeutschland nur schwerlich einholbar schien. Zugleich aber konzentrierten sie sich auf Lücken im westdeutschen Sportgefüge, auf harte Disziplinen und »Fleißsportarten«, wie etwa Skispringen.
Im Ausnutzen der Lücken waren sie dabei derart erfolgreich, daß sie etwa im Eisschnellauf der Damen sowohl in Squaw Valley als auch in Innsbruck sämtliche deutschen Olympia-Läuferinnen stellen konnten. Dasselbe Resultat erzielten sie im Biathlon, einem militärischen Dauerlauf über 20 Kilometer auf Skiern, der mit Scharfschießen unterbrochen wird.
Im Skispringen, einer Disziplin, in der sich westdeutscher Nachwuchs offenbar nicht mehr plagen mag, zeigte sich am deutlichsten, wie DDR-Sportler durch härtestes Training und großzügige Förderung auf breiter Front in die Spitze der Weltelite vordrangen.
Westdeutschlands Skispringer bezogen in vier Olympia-Ausscheidungsspringen gegen diese Zonenkonkurrenten die bitterste Niederlage, die je einem bundesdeutschen Springer-Team zugefügt wurde.
»Es war deprimierend«, jammerte Ewald Roscher, Trainer des Deutschen Ski-Verbandes (DSV) der Bundesrepublik, schon nach den ersten beiden Ausscheidungen in Oberstdorf und Garmisch. Roscher hißte die weiße Fahne: Er bot an, auf die weiteren vorgesehenen Prüfungen in Oberhof und Klingenthal zu verzichten, falls Westdeutschlands Alt-Olympionike Max Bolkart, 31, in die gesamtdeutsche Mannschaft eingereiht würde.
Doch die Zone gab keinen Pardon: Bolkart und seine chancenlosen Kameraden mußten weiterspringen. Dabei vermochte sich als einziger westdeutscher Skispringer der Oberstdorfer Bolkart, mit Mühe und viel Glück, einen Olympiadreß zu ergattern.
Roscher wußte das Debakel zu begründen: »In der Zone werden systematisch Springer gezüchtet. Wir dagegen sind froh, wenn wir ein Talent entdekken. Die Vereine schicken uns keinen Nachwuchs. Uns geht es im Westen zu gut - wir bringen nicht mehr den nötigen Kampfgeist auf.«
Überdies werden die leistungsfähigsten Skispringer der Zone in den Sportgemeinschaften der thüringischen Skisprung-Zentren Brotterode und Zella -Mehlis zusammengefaßt. Für das Training der 16 westdeutschen Teilnehmer an der Olympia-Qualifikation erwies sich dagegen als wenig förderlich, daß sie in 13 verschiedenen Orten zu Hause sind. Ein spezieller Verbandstrainer steht ihnen außerdem nur in besonderen Fällen, wie vorolympischen Notzeiten, zur Verfügung: Trainer Roscher wurde nur bis zum Ende der Saison engagiert und muß dann in sein Baden -Badener Maler-Geschäft zurückkehren.
Die Zonen-Springer werden dagegen ständig von hauptamtlichen Staats-Trainern, wie Recknagel-Entdecker Hans Renner (Zella-Mehlis) und Werner Lesser (Brotterode), dem Olympia-Achten von 1956, gedrillt. Berufliche Sorgen sind diesen verdienten Trainern des Volkes fremd, Rente und Wohnung auf Lebenszeit zugesichert.
Gleichermaßen in Gunst stehen die Leistungs-Sportler: Dieter Neuendorf, der aus Brotterode stammende Gesamtsieger der deutschen Olympia-Ausscheidung, ist zum Beispiel Feldwebel der Volksarmee und zur Zeit für ein Sportlehrer-Fernstudium freigestellt - tatsächlich widmet er sich ausschließlich dem Skispringen.
Der technische Zeichner Max Bolkart hingegen konnte wegen beruflicher Beanspruchung nur einen Teil des vorgesehenen olympischen Sondertrainings der Westdeutschen ableisten.
Auch für ihre praktische Vorbereitung hatten die Springer der Zone stets bessere Voraussetzungen. In jedem ihrer zahlreichen Wintersportplätze findet sich eine Schanze mit künstlichem Belag, damit die Sportler überall auch im Sommer springen können - heutzutage für winterliche Hochform eine unerläßliche Forderung. Selbst in der Hafenstadt Rostock soll eine Matten-Schanze installiert werden. Die Bundesrepublik verfügt dagegen nur über drei solcher »Sommer-Schanzen« (in Wiesensteig, Bischofsgrün und Meinerzhagen).
Zu allem Ungemach hatte sich der bundesdeutsche Skiverband erst im Jahre 1962 - ohne Zweifel zu spät - zur Übernahme der heute notwendigen modernen Trainingsmethoden für seine Springer entschlossen. Er verordnete für Innsbruck ein Kraft-Training, bei dem die Springer mit Bleiwesten und Gewichten arbeiten mußten. Dabei fehlte es allerdings zunächst an Hanteln. Nachwuchs-Springer behalfen sich mit Eigenbau-Gewichten, die sie aus betongefüllten Marmeladen-Eimern verfertigten.
Die Zonenspringer genossen eine ungleich gründlichere Vorbereitung. Im Windkanal wurde für jeden Skispringer die individuell günstigste aerodynamische Haltung ermittelt, und mit Hilfe von Filmen, die sie im Training aufnahmen, feilten die Trainer die Sprungtechnik ihrer Springer bis ins kleinste aus. Zusätzlich zu ausgiebigem Kraft- und Matten-Training absolvierten die Springer aus Mitteldeutschland ein umfangreiches leichtathletisches Programm, um - speziell mit dem schwierigen Dreisprung - ihre Sprunggelenke zu stärken.
Daß derart strapazierte Gelenke erfolgreicher DDR-Skispringer vom Staat besonders gut geschmiert werden, wußte der »Republikflüchtling« und ehemalige Generalsekretär des Zonen-Skiverbandes, Lohfink, speziell von Goldmedaillengewinner Recknagel zu berichten: »Recknagel erhielt 1958 für den dritten Platz bei der Weltmeisterschaft in Lahti eine 1000-Mark-Prämie. Als Recknagel 1957 die großen Springen von Holmenkollen und Planica gewonnen hatte, gab es 3000 Mark für ihn. Auch sein Trainer Renner verließ mit gefüllter Brieftasche den Staatssekretär Manfred Ewald, der die Zahlungen ohne Quittung vornahm.«
Im gleichen Jahre bekam Helmut Recknagel von Ulbricht einen fabrikneuen »Wartburg«-Wagen als Staatsgeschenk. Dem Westdeutschen Thoma verehrten Gönner nach seinem Olympiasieg in der Nordischen Kombination nur einen Kleinwagen. Briefträger Thoma übte jedoch Linientreue gegenüber dem Amateurstatut und gab das Auto zurück. Recknagel, der seine Staatskarosse behalten hatte, wurde 1962 eine weitere Ulbricht-Gabe zuteil: Er und sein Trainer Hans Renner erhielten den »Vaterländischen Verdienstorden in Silber«, der seinen Trägern eine jährliche steuerfreie Prämie verbürgt.
Einige bundesdeutsche Wintersportler vermochten sich allerdings gegen den Konkurrenzdruck aus der Sowjetzone zu behaupten. Die Rennrodler beispielsweise, deren Sport in Innsbruck seine olympische Premiere erlebte, bereiteten sich - bis auf einen Verbandskursus im olympischen Monat Januar - auf eigene Faust vor.
Der Weltmeister Fritz Nachmann aus Rottach-Egern und der Deutsche Meister Hans Plenk aus Königssee zum Beispiel griffen zu Gewichten, trieben Leichtathletik und spezielle Gymnastik. Nachmann mochte selbst im Sommer auf seinen Schlitten nicht verzichten, versah ihn mit einem Fahrgestell und unternahm Trainingsfahrten. Erfolg dieser Eigen-Initiative: Die DDR-Funktionäre mußten den westdeutschen Rodlern immerhin sieben von insgesamt 17 Plätzen in der Rodel-Equipe zugestehen.
Noch erfolgreicher als die Rodler waren die westdeutschen Ski-Langläufer und Eisschnelläufer. Die Langläufer, die noch beim Olympia 1960 in Squaw Valley eine Majorität der DDR-Läufer anerkennen mußten (4:6), erreichten für Innsbruck eine 5:4-Mehrheit. Gleichzeitig erwiesen sich die bundesdeutschen Eisschnelläufer als schnell genug, ihre DDR-Konkurrenten, die in Squaw Valley im Verhältnis 5:2 überlegen waren, diesmal mit 4:3 zu überflügeln.
Doch anders als bei den Rodlern, die eigenem Antrieb folgten, entsprang dieser Auftrieb einer Hilfe von außen: Willi Daumes Hochleistungsausschuß.
Nicht zuletzt zur Abwehr der unausgesetzten Sportoffensive der DDR hatten Westdeutschlands Olympier schon im Jahre 1961 diesen »Ausschuß zur wissenschaftlichen und methodischen Förderung des Leistungssports« gegründet.
»Wir müssen mit modernen wissenschaftlichen Methoden arbeiten. Unsere Verbände müssen umlernen«, erläuterte NOK-Chef Daume den Zweck der Gründung. Der Ausschuß soll die modernsten Trainingserkenntnisse aller Disziplinen an alle interessierten Sportverbände vermitteln und außerdem im Bedarfsfall Geldmittel für bundesdeutsches Hochleistungstraining bereitstellen.
Jedoch werden vermutlich weder Daumes Hochleistungs-Institut noch Eishockey-Torschüsse des westdeutschen Nationalspielers Trautwein in Zukunft verhindern können, daß die DDR-Leute in der für sie wichtigsten gesamtdeutschen Wettkampfdisziplin den ersehnten Endsieg erringen: Sie wollen auf künftigen Olympischen Spielen mit einer eigenen Mannschaft antreten.
Die Sowjetzone hat bereits die Mitgliedschaften in 42 der 44 internationalen Sport-Fachverbände erworben und damit das Recht erlangt, bei Welt - und Europameisterschaften der betreffenden Sparten jeweils mit eigenen Nationalmannschaften anzutreten.
So unangenehm die Zulassung einer selbständigen DDR-Mannschaft zu Olympischen Spielen der Bundesrepublik politisch sein müßte - für die Sportler könnte sie nur von Vorteil sein:
- Da die Teilnehmerquoten pro Mannschaft begrenzt sind, hätten beide Mannschaften die Möglichkeit, mehr Sportler als bisher zu olympischen Wettbewerben zu entsenden.
- Kräftezehrende, kostspielige und für
die Sportler nicht ungefährliche Ausscheidungskämpfe würden entfallen.
Tatsächlich haben sich diese innerdeutschen Olympia-Ausscheidungen bisher häufig ungünstig für die beteiligten Sportler ausgewirkt.
Die Sportler müssen sich zweimal, zunächst zu den Ausscheidungskämpfen, danach zu den eigentlichen Wettkämpfen, in Hochform bringen. Diese Doppelbelastung bewirkt bei hochtrainierten Athleten nicht selten leistungsmindernde Störungen.
Außerdem besteht zusätzliche Gefahr, durch eine Verletzung schon bei den Ausscheidungen total auszufallen. So erlitten jüngst in Innsbruck zwei erfolgversprechende westdeutsche Rodler während der Ausscheidungsrennen Unfallverletzungen und schieden aus, bevor die Olympischen Spiele überhaupt eröffnet waren.
»Ohne die Ausscheidungen, die im Grunde genommen doch jeden Sportler von hüben und drüben belasten, lägen die westdeutschen Rodler nicht im Krankenhaus«, folgerte DDR-Sportpräses Ewald.
Zwar wollen die beiden deutschen Olympiakomitees am Ende der Innsbrucker Spiele zum erstenmal in ihrer gesamtdeutschen Geschichte einen gemeinsamen Empfang für die deutschen Medaillengewinner geben. Doch gesteht Missions-Chef Dr. Heine: »Das ist alles kalter Kaffee, was wir da machen.«
* Die deutschen Olympiateilnehmer der Nordischen Ski-Disziplinen wohnen gemeinsam in einer Hotelpension zu Leutasch bei Seefeld.
* Die Nordische Kombination besteht aus einem Skispringen (Sprunglauf) und einem Langlauf über 15 Kilometer. Sie wird nach einem Punktsystem bewertet.
Deutscher Einmarsch in Cortina 1956
In kapitalistischen Mänteln ...
Deutscher Einmarsch in Squaw Valley 1960
... und volkseigenen Socken ...
Deutscher Einmarsch in Innsbruck 1964
... eine gesamtdeutsche Fiktion
Ost-Olympionikin Helga Haase
»Für uns gibt es ...
West-Olympionikin Heidi Biebl
... kein Deutschland mehr«
DDR-Mattenschanze in Eilenburg
Dem Westen keine Chance gelassen
Westdeutscher Bob in Innsbruck: Vom Osten nicht angegriffen
Westdeutscher Eishockeyspieler Trautwein
Nur ein Tor rettete die Mehrheit
Skispringer Bolkart (West), Neuendorf (Ost)
Nur ein Bundesdeutscher überlebte