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JUGOSLAWIEN Schönes Ideal

Die 14 Völker und Nationalitäten Jugoslawiens streben nach einem Vierteljahrhundert Einheit wieder auseinander. Nur noch die Vaterfigur Tito halt sie mühsam zusammen -- aber der Marschall ist 78.
aus DER SPIEGEL 21/1971

In einem Haus in Zagreb trafen sich drei junge Männer mit einem alten Onkel. Sie tranken crno vino -. tiefroten Dalmatinerwein -, aßen serbische Cevapcici, tranken und redeten. Im Morgengrauen ließen sich die drei Jun gen bereitwillig von dem alten Mann aufs nächste Polizeirevier führen. Dort gestanden sie. Angehörige der exilkroatischen Terrororganisation »Ustascha« zu sein.

»Wir haben Beweise dafür. daß vom Westen wie vom Osten mit allen Mitteln, auch mit militärischem Druck, versucht wird, Unsicherheit zu schaffen und unsere Einheit zu stören«, warnte der krontische KP-Führer Dr. Vladimir Bakaric. Die Völker Jugoslawiens ließen sich jedoch nicht manipulieren und stünden kompromißlos zur Einheit des Vielvölkerstaates.

Auch Staatschef Josip Broz Tito, 78, versprach in seiner Rede zum 1. Mai, »keiner »sechsten Kolonne« zu gestatten, in unser Land einzudringen und es vollständig zu unterminieren«. Auch er mahnte seine Landsleute zu Wachsamkeit und Einheit.

Die Einheit Jugoslawiens und seine wirtschaftliche Funktionsfähigkeit

das Land zählt sechs Republiken, zwei autonome Gebiete, beherbergt 14 Völker und Nationalitäten, erkennt zwei Alphabete und drei Sprachen als Amtssprachen sowie mehr als sieben Konfessionen an -- war auch das Hauptthema auf dem »Zweiten Kongreß der Selbstverwalter«, der vom 5. bis 8. Mai in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo tagte.

Unter den Klängen des Kampfliedes »Marsch an die Drina« und mit dem Ruf »Tito Patria« -- »Tito ist das Vaterland« -- hießen 2301 Delegierte Marschall Tito willkommen. Dennoch mochte sich die Mehrzahl der Delegierten nicht mehr zum Jugoslawismus bekennen, den die Vaterfigur Tito seit über einem Vierteljahrhundert personifiziert.

Die Kongreßstatistik registrierte 35,4 Prozent Serben, 20,4 Prozent Kroaten, 13,1 Prozent Slowenen, 6,2 Prozent Mazedonier, 3,2 Prozent (bosnische) Muselmanen, 2,5 Prozent Albaner und andere Minderheiten -- aber nur 3,7 Prozent »Jugoslawen«, Die knapp vier Prozent gehören zu einer neuen Minderheit, die sich bewußt keinem der Völker und keiner der nationalen Minderheiten zuordnen will und schon bei der letzten Volkszählung -- die Frage nach der Nationalität mit »Jugoslawe« beantwortete.

Jugoslawiens Völker streben nach größerer politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit von der Belgrader Zentrale, auch wenn »Stari« -- so Titos Spitzname »der Alte« -- in Sarajevo wider besseren Wissens behauptete, es bestünde hinsichtlich der Priorität des Nationalen vor dem Klassenelement kein Dilemma für das sozialistische Jugoslawien.

Aber ein historisch bedingtes, zum Teil aber jetzt noch wachsendes Wirtschafts- und Sozialgefälle verschärft die Konflikte zwischen den Gliedstaaten der südslawischen Föderation: Die reichen nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien, aus dem die meisten Arbeitskräfte ins Ausland abwandern, wollen das ärmere Serbien und die Entwicklungsgebiete Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien nicht mehr unterstützen.

In Kroatiens Hauptstadt Zagreb tragen immer mehr junge Menschen das Regionalwappen am Ärmel. Zagrebs Studenten wählten im April ihre Belgrad-freundliche »zentralistische« Vertretung ab und ersetzten sie durch eine »200prozentig kroatische«. Die Kroaten möchten nicht mehr Serbokroatisch lernen, sondern das Kroatische als eigene Sprache vom Serbischen trennen. Voriges Jahr drohten die Slowenen, das Bundesparlament zu boykottieren, falls nicht mehr Geld aus der Belgrader Zentrale zurückkomme. Die Mazedonier und die Albaner des autonomen Gebiets Kosovo fordern größere Selbständigkeit.

»Wir haben Grund zur Beunruhigung wegen der politischen Schwierigkeiten. die über uns hereinbrechen werden. wenn wir am System und an den Strukturen des Staates nichts ändern«, bekannte freimütig Edvard Kardelj, Slowene und Tito-Intimus, Mitglied des Exekutivrats des Präsidiums des »Bundes der Kommunisten Jugoslawiens« (BKJ) und Ideologe des Selbstverwaltungssystems.

Zwar trug der Kongreß von Sarajevo das Motto »Kampf für die Arbeiterselbstverwaltung -- Kampf für wahren Sozialismus«, zwar stellte Tito fest, das Selbstverwaltungssystem habe sich »in allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens behauptet«, aber das im Juni 1950 eingeführte System stagniert seit langem und bedarf dringend der Reform.

Jugoslawiens »gegenwärtige Wirtschaftslage ist sehr ernst«, stellte Ministerpräsident Mitja Ribicic fest. Die Handels- und Zahlungsbilanz ist hoch in roten Zahlen, die Preise steigen schneller als die Löhne. Die Jugoslawen investieren und geben mehr aus, als sie verdienen. Anfang des Jahres mußte der Dinar um 16,7 Prozent abgewertet werden.

In vier Fachkommissionen diskutierte der Kongreß von Sarajevo über die Nachteile der Selbstverwaltung. Ein Textilarbeiter gab die Losung »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« aus und forderte höhere Löhne für Textilarbeiter. Der Landwirt Sandor Simon aus dem nahe der ungarischen Grenze gelegenen Sombor klagte über irreal niedrige Agrarpreise. die den Lebensstandard der Dauern drücken. Die bosnische Lehrerin Tanja Lazic prangerte Eingriffe der Verwaltung in »die Erziehungs- und Bildungsarbeit an, die immer noch die letzte gesellschaftliche Aktivität« sei, und der Opernsänger Miroslav Cangalovic verlangte die Beseitigung der »Schranke zwischen der produktiven Arbeit und den kulturellen Tätigkeiten«.

Die Selbstverwaltung, sagte denn auch ein Kongreßteilnehmer, sei ein schönes Ideal, in Jugoslawien jedoch stehe sie nur auf dem Papier. Denn das Mitspracherecht der Arbeiter in den selbstverwalteten Betrieben und den integrierten Unternehmensorganisationen ist durch die zentralen Organe eingeschränkt: Sie bestimmen, wieviel Geld zur Lohnauszahlung aufgewendet werden darf, und sie bestimmen, in welcher Höhe Gewinne abgeführt werden müssen. Kardelj rügte, diese Mittel würden dann von Leuten verwaltet, die »keine wirkliche politische, geschweige denn wirtschaftliche Verantwortung gegenüber dem integrierten Kollektiv haben.«

Der Kroate Bakaric trat für eine »Einschränkung der Rolle der Banken im Kreditsystem« ein. Belgrader Ranken hatten die finanzschwache kroatische Hotellerie an der Adria aufgesaugt -und die Kroaten betrachteten dies als Eingriff in die Selbstverwaltung.

Etatismus. Bürokratismus und technokratische Managertendenzen, Korruption und Verschwendung bezeichnete auch Tito als die Hauptgefahren, die das Selbstverwaltungssystem beeinträchtigten. Andere Gefahren für den Bestand der Republik nannte er beim Namen. als er die Kritiker an Partei und Staat ansprach: »Da gibt es auch pensionierte Generale, die in Kaffeehäusern sitzen. debattieren und reden ... unter ihnen sind Größenwahnsinnige, die sogar Präsident der Republik werden wollen oder mindestens Minister. Unsere Leute fragen, warum wir nicht sagen, wer diese Leute sind. Wenn wir von ihnen Rechenschaft fordern, werden wir sie nennen.«

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