HUYN Schreie aus dem Keller
Auf dem Krankenbett verfaßte Legationsrat Johannes Graf Huyn, 35, sein Gesuch um Entlassung aus dem Auswärtigen Dienst, dem er zehn Jahre angehört hatte. Vom Krankenbett aus überreichte er das Papier dem AA -Personalchef, Ministerialdirektor Paul Raab: Er sei nicht länger bereit - so Huyn -, an einer Politik mitzuwirken; der man unter anderem »mangelnde Vertragstreue« vorwerfen könne.
23 Stunden später hielt der Graf die vom Bundespräsidenten unterzeichnete Entlassungsurkunde in Händen. Einer der profiliertesten, wenn auch nicht prominentesten Gaullisten unter den deutschen Diplomaten hatte den Dienst quittiert.
Die letzten beiden Jahre hatte Graf Huyn, Vater von vier Kindern und Patenonkel eines der Kinder des abendländischen Publizisten und Gaullisten Paul Wilhelm Wenger vom »Rheinischen Merkur«, im AA-Referat für Europäische Politische Zusammenarbeit zugebracht. Dort schöpfte er den Verdacht, daß es Außenminister Schröder und dessen engste Mitarbeiter an der von Huyn erwarteten Begeisterung für den Deutsch -Französischen Vertrag fehlen ließen.
Am 21. Oktober - einen Tag bevor Bundeskanzler Erhard seine Kabinettsliste dem Bundespräsidenten vorlegte - nahm Graf Huyn an einer Besprechung im Auswärtigen Amt teil, die von seinem Unterabteilungsleiter, Ministerialdirigent Frank, angesetzt worden war.
Dirigent Frank war dem Grafen Huyn schon häufiger durch gewagte Formulierungen aufgefallen. Ein Beamter, so hatte Frank einmal zu ihm gesagt, müsse so lange auf seinem Posten ausharren, bis seine Vorgesetzten von ihm verbrecherische Taten verlangten und bis die Schreie der Gefolterten aus dem Keller drängen.
In einem Referat über die Krise der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft äußerte Frank nun in der Oktober-Besprechung, daß die Zeit der Integrationspolitik wohl vorbei sei und daß man jetzt, um die europäische Einigung voranzutreiben, die zweiseitigen Beziehungen zu allen europäischen Staaten verstärken müsse. Anderenfalls werde Europa einen Rückfall in die Epoche der Zersplitterung von vor 1914 tun. Eine Intensivierung der Konsultationen zwischen Bonn und London sei - zweiseitig - bereits vereinbart worden.
Gaullist Huyn fand damit seinen Verdacht bestätigt, daß im AA unterderhand eine neue Außenpolitik eingeleitet werde. Er informierte einige christliche Bundestagsabgeordnete, die ihrerseits Parteichef Konrad Adenauer ins Bild setzten.
Der Altkanzler sah seine letzte Chance gekommen, die Wiederernennung Schröders zum Außenminister zu torpedieren, und rief bei Erhards Amtswalter Ludger Westrick an: »Dies alles bedeutet eine Kehrtwendung der deutschen Politik. Weiß der Kanzler das überhaupt?«
Adenauers Intervention versetzte das Kanzleramt in Erregung: Das Kabinettswerk schien abermals in Frage gestellt. Gleich am nächsten Tag rief Kanzler Erhard seinen Außenminister und den CDU/CSU-Fraktionschef Rainer Barzel zu sich.
Barzel unkte, er müsse sich fragen, ob er unter solchen Umständen der Kabinettsliste überhaupt zustimmen könne. Auch Erhard argwöhnte, er sei, was die Konsultationsabsprachen mit den Briten anbetrifft, von Schröder übergangen oder gar überspielt worden.
Aber der Außenminister konnte nachweisen, daß er den Bundeskanzler am 28. September über seine neuen England-Kontakte unterrichtet und erst anschließend dem deutschen London -Botschafter Herbert Blankenhorn die entsprechende Weisung erteilt habe.
Kaum war Schröder ins Auswärtige Amt zurückgekehrt, setzte er eine Fahndung in Gang: Wer war schuld daran, daß Kanzler Erhard Einzelheiten aus der Frank-Besprechung erfahren hatte? Alle Teilnehmer wurden aufgefordert, schriftlich anzugeben, ob sie irgendeinem Außenstehenden Informationen gegeben hätten. Zwei Diplomaten weigerten sich: der eine aus grundsätzlichen Erwägungen; der andere war Graf Huyn. Dann legte sich der Graf mit einer akuten Gastritis ins Bett.
Als Personalchef Raab ihm dann eröffnete, daß er dienstlich gehalten sei, an der Aufklärung mitzuwirken, drückte ihm Huyn das Entlassungsgesuch in die Hand. In einem Brief an Staatssekretär Carstens legte er anschließend ein Bekenntnis ab: Er habe sich gemäß seinem Diensteid verhalten und deshalb versucht, Kanzler Ludwig Erhard die antifranzösischen Umtriebe im Auswärtigen Amt zur Kenntnis zu bringen.
Der Graf versäumte nicht, darauf zu verweisen, daß schon sein Vater aus dem deutschen Auswärtigen Dienst ausgetreten sei - 1933.
Polizei-Methoden im Bonner AA, so sagte der Graf, erinnerten ihn selber an die dunkelsten Kapitel deutscher Vergangenheit.
Wenige Tage darauf, am Anfang letzter Woche, begann für Graf Huyn ein neues Kapitel. Er wurde persönlicher Referent des Schröder-Feindes Franz -Josef Strauß.
Ausgeschiedener Diplomat Huyn
»Weiß der Kanzler das überhaupt?«