»Schrift, Rede, Dolch, Flinte und Dynamit«
Dynamit gibt es seit 1867. Alfred Nobel mischte es aus Nitroglyzerin und Kieselgur. Zehn Jahre später wurde es zur politischen Waffe.
Die Dynamit-Parole kam aus Rußland, und es war die Parole von Verzweifelten: von Studenten, jungen Adligen, Söhnen vermögender Eltern, die ihre Hoffnung darauf gesetzt hatten, durch Aufklärung die revolutionäre Spontaneität der russischen Bauern gegen den Zaren mobilisieren zu können -- und enttäuscht worden waren.
In mehreren Anläufen waren die Jungen in Rußlands Dörfer ausgeschwärmt. Doch die Bauern verspotteten sie. Die Desillusion der Aufklärer schlug in Verzweiflung um -- und oft in verzweifelte Taten.
1866 schoß ein junger Edelmann namens Karakosow auf Zar Alexander II. Bauern fielen ihm jedoch in den Arm. Er fuhr sie an: »Ihr Esel, euretwegen habe ich es doch getan« -- ein Fluch, der noch oft wiederholt werden sollte,
Seit 1878 glich der Zar einem verfolgten Wild. Die Revolutionäre wühlten Stollen unter Straßen und Bahndämme, drangen in die Keller des Winterpalais ein und bohrten Brückenpfeiler an. Doch erst im Frühjahr 1881 brachten die Dynamit-Jäger den Zaren zur Strecke. Zwei Studenten, Ryssakow und Grinewizki, töteten Alexander auf einer Ufer-Straße in Petersburg mit Bomben.
Auch die Ermordung Alexanders blieb ohne Widerhall im Volk. Der Tod des Zaren änderte nichts am zaristischen System, und so nahm die revolutionäre Bewegung Rußlands nach der Bluttat eine andere Richtung -- die leninistische. Die schwärmerischen Dynamit-Desperados wurden, nach und nach, durch die kaltblütigen Techniker der Revolution abgelöst, durch Lenins Kader-Offiziere -- auch dies eine Entwicklung. die sich später oft, wenn auch in geringeren Dimensionen, wiederholt hat.
Doch ehe in Rußland das Jahrzehnt der Attentäter zu Ende ging, zündete ihre Parole im Westen. 1869 war einer der vielen jungen Verzweifelten Rußlands, ein Student namens Sergej Netschajew, in die Schweiz geflohen. Wahrscheinlich ein Psychopath, fand er in Michail Bakunin einen adäquaten Zuhörer seiner Mörder-Phantasien.
Bakunin, damals schon ein alternder Veteran der Revolution von 1848, ließ sich von dem jungen Flüchtling entflammen. »Sturm und Leben und eine gesetzeslose, freie Welt« hatte er schon vorher als die Maxime seiner anarchistischen Philosophie ausgegeben. Zusammen schrieben die beiden Phantasten einen »Revolutionären Katechismus«, in dem sie Haß, Verachtung und »gnadenlose Zerstörung« jeglicher Ordnung propagierten. Das Vokabular des Anarchismus wurde mörderisch.
Bakunin empfahl »Gift, Messer, Strick und so weiter« als Werkzeuge der Revolution, Pjotr Alexejewitsch Fürst Kropotkin, ein anderer Anarchist: »Schrift, Rede, Dolch, Flinte und Dynamit«.
Der deutsche Anarchist Johann Most, von 1874 bis 1878 SPD- Reichstagsabgeordneter, schrieb ein Lehrbuch des Umgangs mit Nitroglyzerin und schwärmte: Ein Pfund Dynamit -- »ein Pfund dieses guten Stoffes« -- sei mehr wert als ein Berg von Stimmzetteln.
Daß die intellektuellen Anarchisten Westeuropas sich zu Mord und Totschlag bekannten, ist, möglicherweise, allein auf Bakunin zurückzuführen. Ungefügig und brillant, sentimental und brutal, jedenfalls in Worten, war er für Europa »die« Anarchie in Person.
Bis zu Bakunin war das Bündnis von Anarchie und Dynamit keineswegs vorhersehbar gewesen. Die Väter des westeuropäischen Anarchismus waren keine Derwische der Gewalt gewesen. William Godwin, Max Stirner, Pierre Joseph Proudhon waren eher sanftmütig. Sogar Kropotkin, dem fürstlichen Schwärmer von Dolch und Dynamit, sagte Oscar Wilde »die Seele eines schönen, weißen Christus« nach.
Der Traum der Anarchisten war und ist eine friedliche Gesellschaft natürlicher, freier -- und eben deshalb, wie sie meinten -- guter Menschen.
Gleichwohl, die -- gelegentlich ausbrechende -- Leidenschaft der Anarchisten für Dynamit kommt doch nicht ganz von ungefähr. Sie hängt, paradoxerweise, mit ihrer Vorstellung einer friedlichen Gesellschaft zusammen.
Die Quellen der Gewalt sind in ihren Augen die »Institutionen«, also Kirche, Staat, Justiz, Ehe und so fort -- und deren Gesellschaftstheorien.
Sie sahen, vor allem Proudhon und Bakunin, scharfsichtiger denn andere voraus, daß die Lehre Karl Marxens von dem zwanghaften Ablauf der Geschichte nach bestimmten polit-ökonomischen Gesetzen nichts anderes sei als ein theoretisches Instrument neuer Unterdrückung, neuer, härterer Institutionen. Sie sahen Lenins Kommissare kommen.
Sie selber weigerten sich eben deswegen, eine eigene, anarchistische Theorie zu entwickeln. Gesellschaftliche Theorien führten, meinten sie -- und meinen sie noch heute -- zu Gewalt zum Zwecke der Durchsetzung eben dieser Theorien.
Doch die Theorie- Feindlichkeit der Anarchisten- hatte ihrerseits eine schlimme Konsequenz: die unreflektierte Neigung der Anarchisten zur Praxis, zur Empörer-Tat, zur Barrikade und, manchmal, zum Sprengstoff-Anschlag.
Wenige Jahre nachdem Bakunin und Netschajew ihren wutschäumenden »Revolutionären Katechismus« geschrieben hatten, verkündete in Bern ein Anarchisten-Kongreß die »Propaganda durch die Tat«. Er warf damit eine glühende Lunte in die Seelen vieler junger Menschen, die an der Gefühlskälte der heraufziehenden Industriegesellschaft litten und Trost suchten in der Vision einer friedlichen Gegenwelt. Es könnten, meinten sie, nur Verbrecher sein, welche die Verwirklichung dieser Vision hintertrieben: die Kaiser, Könige, Präsidenten, Richter und Polizisten. Und so machten sie sich daran, die Potentaten zu töten.
1878 entkamen drei Monarchen Europas -- Umberto I. von Italien, Alfons XII. von Spanien und der deutsche Kaiser Wilhelm I. -- nur knapp der Mörderhand. 1881 starb Alexander II.
1883 versuchte August Reinsdorf, die am Niederwalddenkmal versammelten deutschen Fürsten in die Luft zu jagen. Zwar scheiterte sein Anschlag an einem regennassen Zünder, gleichwohl kostete er Menschenleben: Reinsdorf wurde --
nach einem Anarchisten-Attentat auf die Frankfurter Hauptwache -- entlarvt und hingerichtet, sein Verfolger, der Frankfurter Polizeipräsident Rumpf, ermordet, dessen Mörder wiederum hingerichtet und dessen Ankläger schließlich in ein Irrenhaus gebracht.
1894 gestand ein 22jähriger Student der Ecole polytechnique namens Emile Henry vor Gericht, mit einer Bombe fünf Polizeibeamte getötet und einen Sprengkörper in das Café Terminus geworfen zu haben: 20 Verletzte, ein Toter. Er hatte Auguste Vaillant rachen wollen, der im Dezember 1891 eine Bombe unter die Parlamentarier des Palais Bourbon geschleudert hatte.
Vor Gericht protestierte Henry gegen die moderne Industrie- und Büro-Gesellschaft: Man habe ihm gesagt, »daß dieses Leben einfach und für die Intelligenten und Tatkräftigen weit offen sei«, doch habe er gesehen, »daß nur die Unverschämten und die Kriecher einen guten Platz darin ergattern können«. Eine Zeitlang habe er Sozialist werden wollen, aber er habe erkannt, daß der Sozialismus »autoritär« sei und insofern »nur ein altes Überbleibsel des Glaubens an eine höhere Macht«.
Nacheinander starben unter der anarchistischen Mörderhand der französische Staatspräsident Sadi Carnot (1894), die österreichische Kaiserin Elisabeth (1898), König Umberto I. (1900), US-Präsident McKinley (1901) -- und viele andere: Polizisten, Richter, Theaterbesucher, Straßenpassanten.
Viele zeitgenössische und spätere Autoren haben sich nach den Ursachen der Mord-Welle gefragt. 1894 wurden in Paris 30 Literaten und Journalisten unter dem Verdacht, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben, vor Gericht gestellt. Der »Procès des Trente« enthüllte, wie ein Historiker schreibt, eine »seltsame Mischung aus Politik und Boheme-Revolte«.
Die französische Polizei schätzte damals, daß es in Frankreich zwar nur etwa 1000 aktive Anarchisten gebe, aber etwa 4500 Leser ihrer Zeitschriften und rund 100 000 Sympathisanten.
Offenkundig hing die Verbreitung anarchistischer Gewalttätigkeit mit der zunehmenden Technisierung der Gesellschaft zusammen. Das 1867 erfundene Dynamit bot zum erstenmal den Attentätern -- ob Gruppen oder einzelnen -- die Chance, die komplizierten Strukturen der bürokratisierten und technisierten Gesellschaft an ihren Schaltstellen auf einfache Weise zu stören, der »korrupten. zerfallenden Gesellschaft«, wie Henry sagte, »die Zähne zu zeigen«.
Um 1900 begannen Philosophen, Soziologen und Psychologen, sich mit der Gewalt zu befassen -- Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Georges Sorel, Alfred Adler und viele andere. Sie lösten eine Forschung aus, die noch heute ständig wächst. Der Psychologe Friedrich Hacker zählte in den letzten fünf Jahren 6000 englischsprachige Neu-Erscheinungen zum Thema »Aggression« und nicht weniger als 17 Aggressionsinteressierte Wissenschaftsrichtungen.
Literatur, Wissenschaft und Anarchismus indizieren ein unbestreitbares Problem -- die Tatsache des gefährlich steigenden Gewaltgehalts der Gesellschaft. Die Technik spielt dabei eine entscheidende Rolle. Nobels Dynamit, Hitlers Gasöfen und die Atombombe demonstrieren den fortschreitenden Prozeß der menschheitsbedrohenden Steigerung von Gewalt.
Der Attentäter-Anarchismus ist ein Versuch, Gewaltlosigkeit durch Gewalt zu erzwingen -- ein verzweifelter Versuch.