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VERJÄHRUNG Schrille Tone

Nach »Holocaust« zeichnet sich in Bonn eine, wenn auch knappe, Mehrheit für die Aufhebung der Verjährungsfrist ab.
aus DER SPIEGEL 6/1979

Wenn der Deutsche Bundestag im Frühjahr zusammentritt, um sich zum letzten Mal mit der Frage der Verjährung von NS-Verbrechen auseinanderzusetzen, werden neue Argumente kaum zu hören sein. Es gibt keinen Aspekt, den das Parlament nicht schon in den beiden großen Verjährungsdebatten 1965 und 1969 erörtert hätte.

Stärker noch als damals sprechen heute objektive Umstände für jene, die NS-Morde, die erst nach dem 31. Dezember 1979 bekannt werden, nicht mehr verfolgen wollen: vor allem die mit den Jahren oft ins Unerträgliche wachsende Beweisnot der Gerichte.

Und doch hat sich in diesem Jahr etwas verändert. Der vormals so gängige Spruch, einmal müsse ein Schlußstrich gezogen werden, scheint vielen Westdeutschen nicht mehr so leicht über die Lippen zu kommen, seit ihnen die amerikanische TV-Serie »Holocaust« das Grauen der nationalsozialistischen Juden-Vernichtung dramatisch wie nie zuvor vor Augen geführt hat.

»Zum kritischen Nachdenken, zum moralischen Nachdenken«, erklärte Kanzler Helmut Schmidt, zwinge dieser Film »auch im Hinblick auf die Entscheidung, die jeder von uns im Laufe dieses Jahres je für sich in Sachen der strafrechtlichen Verjährung für Mord wird zu treffen haben«. Und auch der CDU-Abgeordnete Erik Blumenfeld geht davon aus, »daß jetzt einige Nachdenkliche noch nachdenklicher geworden sind«.

Tatsächlich zeichnet sich ab, was noch vor wenigen Monaten unwahrscheinlich schien: eine Bundestagsmehrheit für die Aufhebung der Verjährungsfrist bei Mord.

In Gang gekommen war der Meinungsumschwung freilich schon lange vor dem TV-Ereignis; das Signal hatte, wie so oft, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner gegeben. Am 25. Oktober erklärte er in Israel, er werde versuchen, eine gesetzliche Regelung für die Nichtverjährung herbeizuführen.

SPD-Parlamentarier griffen Wehners Anregung auf. Ihre Hoffnung, eine von Mitgliedern aller Buntlestagsparteien getragene Gesetzesinitiative auf den Weg zu bringen, erfüllte sich allerdings nicht, weil Oppositionsführer Helmut Kohl, selbst erklärter Befürworter der Verjährung, glaubte, die CDU/CSU ziemlich geschlossen auf seine Linie bringen zu können.

Doch Kohl mußte zurückstecken. Schon in der ersten Fraktionsdiskussion meldeten sich Abgeordnete zu Wort, die diese Gewissensfrage als denkbar ungeeignet für eine Demonstration der Geschlossenheit erachten und zu erkennen gaben, daß sie für die Nichtverjährung eintreten würden. Ein mittlerweile von 26 CDU-Parlamentariern unterstützter Antrag sieht, wie der SPD-Entwurf, die generelle Aufhebung der bislang 30jährigen Verjährungsfrist bei Mord vor.

Nahezu geschlossen steht derzeit allein die CSU für die Beibehaltung der Verjährung ein. Nur Ex-Justizminister Richard Jaeger, heißt es, werde für die Aufhebung stimmen.

Auch die FDP wird an der Verjährung festhalten und damit einer Rechtspolitik folgen, wie sie Thomas Dehler 1965 darlegte: »Die Verjährung verzichtet der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens wegen auf die letzte Gerechtigkeit.«

Mindestens sechs Liberale werden sich allerdings der SPD-Initiative anschließen, darunter Werner Maihofer, der dies immerhin für die »zweitbeste Lösung« hält. Maihofer hatte schon 1965 vorgeschlagen, daß »durch Mord begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und Völkermord im Grundgesetz für »unverjährbar« erklärt werden sollten.

Wie bei einigen Liberalen ist »bei vielen von uns«, so CDU-MdB Hans Stercken, »die Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen«. Die Union wird in einer Sondersitzung an diesem Dienstag das Thema erneut beraten. Würden, wie Insider erwarten, am Ende an die 40 Unionschristen und neun oder zehn Liberale abweichend von ihrer Fraktionsmehrheit votieren, wäre die Aufhebung der Verjährung so gut wie sicher -- selbst wenn in der SPD-Fraktion der eine oder andere dem Beispiel des Abgeordneten Willfried Penner folgt, der mit Hinweis auf die zunehmende Beweisnot, aber auch aus grundsätzlichen rechtspolitischen Überlegungen heraus an der Verjährung festhalten will.

Daß wer immer sich durchsetzt, dem anderen nicht wird vorhalten können, er habe die besseren Argumente oder gar die größere Moral gehabt, war bislang unumstritten im Bundestag. Einem Christsozialen blieb es vorbehalten, schrille Töne in die mit großem Ernst geführte Debatte zu bringen.

Zu Helmut Schmidt gewandt sagte CSU-Landesgruppenchef Zimmermann am Freitag vorletzter Woche, »Beobachtern der Bonner Szene« falle es »natürlich schon ab und zu auf«, wie der Kanzler versuche, »in all jenen Bereichen eine Festlegung zu vermeiden, wo der Konflikt mit dem linken Flügel droht« -- und nannte in diesem Zusammenhang auch die »Verjährungsfrage«.

Die Wahrheit ist: Der Regierungschef hält sich deshalb zurück, weil er in dieser Gewissensentscheidung niemanden beeinflussen möchte. Helmut Schmidt selbst wird für die Aufhebung der Verjährungsfrist stimmen.

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