TUNNELFLUCHT Schüsse im Schacht
Zwei Tage vor dem 15. Geburtstag seiner geschlossenen Anstalt büßte Walter Ulbricht an der Berliner Mauer 58 Untertanen ein: 57 gewannen die Freiheit, einer verlor sein Leben.
Der DDR-Unteroffizier Egon Schultz starb am Montag, 5. Oktober 1964, um 0.15 Uhr vor dem Ost-Berliner Haus Strelitzer Straße 55 unter den Schüssen flüchtender Fluchthelfer - als 52. Opfer der Mauer. Er starb am östlichen Eingang des fündigsten aller Fluchtstollen, die West- und Ost-Berliner seit dem 13. August 1961 unter den Sperrwerken der Sektorengrenze hindurchgegraben haben.
Volksarmisten umstellten den Tunneleinstieg - eine stillgelegte Außentoilette - und feuerten 200 Schuß MP -Munition in den Schacht. Doch um diese Zeit waren die Flüchtlinge - 23 Männer, 31 Frauen, drei Kinder - samt ihren Helfern längst in Sicherheit. Das erfolgreichste Fluchtunternehmen dieses Jahres war, nach 178 Tagen Vorbereitung, zu Ende.
Am 10. April hatte es begonnen. 30 junge West-Berliner, meist Studenten, taten sich zusammen, um fast doppelt soviel DDR-Bürger unter Mauer, Stacheldraht und 100-Meter-Grenzstreifen hindurchzulotsen.
Als Ausgangspunkt wählten sie den Keller einer stillgelegten Bäckerei im Wedding, Bernauer Straße 97, unmittelbar an der Sektorengrenze. Elf Meter teuften sie den Einstieg ab, dann wühlten sie sich 140 Meter weit unter zwei Straßenbreiten und einem Häuserblock hindurch bis unter den Hinterhof des Ost-Berliner Hauses Strelitzer Straße 55. Das vorausgeplante Ziel, einen Kohlenkeller, verfehlten sie um einige Meter. Als sie am 3. Oktober nachts nach oben durchstießen, landeten sie in einem Klosett.
Die Akteure hatten ihren Plan von langer Hand vorbereitet. Zur Finanzierung trugen Spenden West-Berliner CDU-Mitglieder in Höhe von 30 000 Mark und 15 000 Mark aus einer anderen Quelle bei, die Ost-Berlins SSD letzte Woche als die Hamburger Illustrierte »Stern« identifiziert haben wollte. Die »Stern«-Reporter Eberhard Seeliger und Peter Grubbe, gerade zu den DDR -Geburtstagsfeiern in Ost-Berlin, wurden daraufhin aus der Ulbricht-Hauptstadt ausgewiesen.
Grubbe, der im vorigen Jahr von Axel Springers »Welt« zum »Stern« übergewechselt war, nach der Rückkehr zu »Stern«-Chef Nannen: »Ich bin doch nicht von einem Mauerunternehmen weggegangen, um dann bei Tunnelbauern zu landen!«
Nannen konnte Grubbe beruhigen: Zwar hatte der »Stern« nach der bei Illustrierten international üblichen Methode die deutschen Auswertungsrechte an den Flucht-Photos (für 20 000 Mark) gekauft - aber nicht von den Tunnelbauern, sondern von drei West -Berliner Reportern, die ihrerseits die Rechte für 15 000 Mark von den Tunnelgräbern erworben hatten.
Mit Hilfe dieses Finanzpolsters erstanden die Fluchthelfer ihre umfängliche technische Ausrüstung: Grab- und Bohrwerkzeuge, Flaschenzüge, Telephone, Funksprechgeräte und sogar Gasmasken. Technische Hilfe leistete schließlich auch die West-Berliner Polizei, die in der Schlußphase des Unternehmens Beobachtungsposten zur Verfügung stellte.
Die Mauer-Maulwürfe gingen mit Umsicht zu Werke: Nicht einmal der gegenüber dem Tunneleinstieg auf dem Haus Bernauer Straße 11 stationierte Dauer -Wachtposten der DDR-Grenztruppen schöpfte Verdacht. Und auch die Spezial -Kommandos der Volksarmee und des SSD blieben arglos; die den Grenzstreifen längs der Mauer mit Horchtrupps und Spürhunden nach Spuren West -Berliner Bohrtätigkeit absuchen, seit im Herbst 1961 die erste Tunnelflucht gelang.
Damals, Ende September 1961, gerade sechs Wochen nach Ulbrichts Mauerbau, hatte eine Studentengruppe des West -Berliner »Unternehmens Reisebüro« (SPIEGEL 13/1962) den ersten Fluchtstollen gegraben. Er war nur 25 Meter lang und 60 Zentimeter breit und führte von einem Urnengrab des Pankower Friedhofs an der Fischer-Straße zum Gelände des West-Berliner S-Bahnhofs Schönholz. Mehr als 20 Ost-Berliner, mit Trauerflor und Kränzen als Leidtragende getarnt, robbten innerhalb von 14 Tagen durch die Gruft ins neue Leben.
Wenige Monate später, am 24. Januar 1962, gelang die zweite Röhren-Aktion: Diesmal kamen 28 Ost-Berliner im Norden der Stadt durch einen 27 Meter langen Tunnel nach West-Berlin. Ein dritter Versuch scheiterte, weil der Stollen unter einem östlichen Bahndamm einstürzte.
Tunnelbauen wurde Mode in Berlin. Amerikanische Filmleute bemächtigten sich des Themas und kurbelten »Tunnel 28« - die Geschichte einer erfolgreichen Flucht. Doch nicht nur auf der Leinwand gab es ein Happy-End: Im ersten Halbjahr 1962 gelang es insgesamt 60 Ost-Berlinern, sich durch sechs Stollen unter der Mauer hindurchzuschmuggeln.
Eines dieser Unternehmen jedoch forderte am 27. März 1962 das erste jener vier Menschenleben, die bis heute den Tunnel-Einsätzen zum Opfer fielen: Fluchthelfer Heinz Jercha wurde erschossen. Und drei Monate später meldete die Berliner Mauer-Statistik den zweiten Tunneltoten: Bei einer Schießerei in der Nähe eines Stolleneinstiegs an der Ost-Berliner Jerusalemer Straße kam der Vopo-Unteroffizier Reinhold Huhn ums Leben.
In der zweiten Hälfte 1962 hatten die Ost-Berliner Grenzkommandos ihre Sicherungsmaßnahmen so weit verfeinert, daß von acht unterirdischen Durchbruchsversuchen nur noch einer - an der Bernauer Straße - gelang. Bei einer der fehlgeschlagenen Aktionen wurden mindestens 20 Fluchtwillige verhaftet; der West-Berliner Fluchthelfer Siegfried Noffke fiel unter den Schüssen der Grenzwächter.
Unter diesen Umständen wagten es West-Berliner Fluchthelfer im vergangenen Jahr nur noch dreimal, Tunnel anzulegen. Mit Erfolg im März: 13 Ost -Berliner flüchteten im Norden der Stadt nach West-Berlin. Erfolglos im Juni: Volksarmisten verhafteten eine Flüchtlingsgruppe. Gleichfalls erfolglos im Juli: Eine Ost-Patrouille spurte einen halbfertigen Stollen auf.
Daraufhin blieb es fast ein halbes Jahr lang ruhig an der Tunnelfront. Dann aber, im Januar 1964, entdeckten Ost-Grenzer gleich zwei Stollen. Der eine, im Süden der Stadt, war noch nicht fertiggestellt; der andere, wieder unter der Bernauer Straße, verhalf nur drei Ost -Berliner Mädchen nach West-Berlin. Am 10. Januar besetzte ein Trupp Volksarmisten den östlichen Ausgang, sprengte den Einstiegschacht und vermauerte den Zugang. Ein weiterer Tunnelbau flog am 15. September auf.
West-Berliner Sicherheitsbeamte gaben seither angesichts der immer schärferen Grenzüberwachung weiteren Bohrversuchen keine Chance mehr. Spätestens seit dem 5. Oktober aber wissen sie, daß sie sich irrten.
Freilich: Die Tunnelöffner von der Bernauer Straße hatten Ulbrichts Wächter mit einem Trick hinters Licht geführt. Sie gruben ihren Stollen - den längsten und erfolgreichsten der Berliner Tunnelgeschichte - in nur fünf Meter Entfernung entlang jener Röhre, die am 10. Januar entdeckt worden war.
Und ihre Rechnung ging auf: Die Grenzkommandos auf Ostgebiet hatten offenbar mit allem anderen eher gerechnet als mit einer nur um einige Meter seitwärts verlegten Wiederholung des erfolglosen Januar-Unternehmens.
Der Erfolg im Oktober brachte die Zahl aller Stollenflüchtlinge seit Herbst 1961 auf über 200 und glich die bis heute belegbare Berliner Tunnel-Bilanz in doppelter Hinsicht aus - zwölf mißlungenen Versuchen stehen nun zwölf geglückte Aktionen gegenüber, und von den vier Todesopfern hatten zwei die West-Berliner Fluchthelfer, zwei Ulbrichts Grenzer zu bringen: Tragisches Unentschieden an der Mauer.
Fluchttunnel, Flüchtling (Bernauer Straße) Nach 140 Metern frei